die bombe

11.49 Uhr nachts

26

Rex warf sich noch einmal gegen die Tür zum Dach, ohne sich um das Entsetzen zu kümmern, das seinen Körper beim scharfen Geruch des glänzenden rostfreien Stahls erschütterte.

Als sich seine Schulter dagegenstemmte, öffnete sich die Tür um wenige Zentimeter.

„Passt du da schon durch?“, fragte er.

Dess betrachtete den schmalen Spalt zwischen Tür und Türrahmen. „Unmöglich.“

Rex trat zurück und fauchte zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er und Jonathan waren erst gestern Nacht hier oben gewesen, um den größten Teil des Feuerwerks hier abzulegen, und da war diese Tür unverschlossen gewesen. Jetzt war sie mit einer zentimeterdicken Kette und einem Vorhängeschloss von der Größe seiner Faust gesichert.

Rex rammte die Tür noch einmal, mit einem dumpfen Schlag krachte seine Schulter gegen den Stahl.

„Immer noch zu eng“, sagte Dess.

Rex fluchte. Das Feuerspektakel in Jenks würde die Darklinge keine fünfundzwanzig Stunden in Schach halten. Sie konnten es sich nicht leisten, dass dieser Teil des Plans schiefging.

Sie hatten sich ein leeres Gebäude im Westen der Stadt ausgesucht, das hoch genug war, um es überall in Bixby sehen zu können. Wenn der Riss die Innenstadt erreicht hatte, würden alle, die wach waren, feststellen, dass weder Fernseher noch Radio noch Telefon funktionierten. Hoffentlich würden sie, wenn sie aus ihren Häusern in die blaue Zeit hinausstolperten, den Feuerwerksregen entdecken, der von diesem Dach aufstieg. Jeder, der es bis hierher schaffte, konnte im Schutz des Flammenbringers Zuflucht finden, bis die lange Midnight zu Ende war.

Zuerst musste man aber dafür sorgen, dass so viele Leute wie möglich um Mitternacht wach waren. Und dafür mussten sie auf das Dach kommen, wo Dess’ provisorische Bombe versteckt lag.

Über ihnen grollte Donner, und Rex fiel auf, dass die Luft anders roch.

„Au Scheiße.“ Er steckte seine Hand durch den Türspalt und spürte ein paar Tropfen auf seiner Hand. „Spitze. Es regnet.“

„Ihr hattet die Raketen doch mit Plastikplane abgedeckt, oder?“, fragte Dess.

Rex sah sie nur an. In der vergangenen Woche war so viel zu planen und vorzubereiten gewesen, Regen war ihm dabei nicht in den Sinn gekommen. Die Raketen lagen hinter der Tür, im Freien, unter ein paar alten Pappkartons versteckt.

Wenn sie es nicht bald da raus schafften, würde davon nur noch ein aufgeweichter, nutzloser Klumpen übrig sein.

„Habt ihr euch den Wetterbericht nicht angesehen?“, schrie Dess. „Seit einer Woche haben sie Regen vorausgesagt!“

„Ich kann nicht mehr fernsehen.“ Seit Madeleine seine Darklinganteile freigesetzt hatte, bekam er Anfälle, wenn er in den cleveren, flackernden Kasten im Hause seines Vaters sah.

Dess stöhnte.

Rex trat ein paar Schritte zurück, nahm so viel Anlauf, wie der kleine Treppenabsatz zuließ, und warf sich wieder gegen die Tür. Sie gab an der Kette noch einen Zentimeter mehr frei.

Immer noch nicht genug Platz zwischen Tür und Rahmen, um sich aufs Dach zu quetschen.

Draußen regnete es inzwischen heftiger.

Rex fiel auf, dass sich das Metall nach außen bog, wo es von der Kette gehalten wurde. Wenn er sich auf die untere Hälfte der Tür konzentrierte, konnte er vielleicht genug Platz schaffen, um hindurchzukriechen.

Er holte mit dem Fuß aus und trat gegen das Metall, ein weiterer Schlag hallte durch das Treppenhaus nach unten.

Dess blickte die Treppe hinunter. „Mensch, Rex. Mach doch noch ein bisschen mehr Krach.“

„Ich hab beim Reinkommen niemanden gerochen.“

„Wenn heute aber jemand diese Tür abgeschlossen hat, könnten noch welche in der Nähe sein.“

„Na und?“, sagte er. „Die haben dann wenigstens einen Schlüssel.“

„Vielleicht aber auch eine Waffe.“

„Menschen machen mir keine Angst mehr.“ Er verpasste dem Metall noch einen Tritt, worauf es sich etwas weiter verbog. Rex’ Fuß im Inneren des Cowboystiefels tat weh, aber er ignorierte den Schmerz, indem er sich darauf konzentrierte, seine Darklinganteile zu wecken.

Schwarze Punkte tauchten in seinen Augenwinkeln auf, und er spürte, wie sich sein Körper in seiner Haut regte. Schmerz verwandelte sich in Wut, und er begann, die Tür heftiger und heftiger zu traktieren, ohne sich um die Verletzung an seinem Fuß zu kümmern.

Wilde Gedanken kreisten in seinem Hirn: Die flache Metall-fläche war sein Feind, die schlauen Legierungen ekelhaft. Er musste dieser menschlichen Struktur entkommen und unter freien Himmel gelangen.

Die Tür bog und wand sich unter seinen Attacken, die unteren Angeln rissen aus der Wand. Farbe blätterte vom verbeulten Metall, das unter jedem Tritt aufschrie. Schließlich brach der Ring an der Kette auseinander, und die komplette Tür fiel polternd aufs Dach.

„Spitzenmäßig, Rex“, sagte Dess leise. „Geht’s dir gut?“

Rex riss sich zusammen, ließ die Finsternis verblassen, atmete schwer und spürte, wie der Schmerz in seinem rechten Fuß pochte.

„Autsch“, sagte er leise, drehte sich um und sah die Treppe hinunter. Falls sich jemand in dem Gebäude aufhielt, musste er sie gehört haben.

Er hörte aber keine Schritte, die sich näherten.

„Komm schon“, sagte sie. „Wir sind spät dran.“

Er folgte Dess auf das Dach hinaus, jeder humpelnde Schritt wurde zur reinen Qual. Kalter Regen fiel ihm auf Gesicht und Hände, inzwischen stärker.

Die Feuerwerksutensilien lagen noch unter den feuchten Kartons, trocken. Ohne seinen Fuß zu beachten, half Rex Dess dabei, den ganzen Haufen über den schwarzen Teer in den Schutz des Treppenhauses zu zerren.

Er sah auf seine Uhr: Vier Minuten bis Mitternacht.

Dess fing an, Kartons die Treppe hinunterzuwerfen, um auf dem winzigen Treppenabsatz Platz zu schaffen. Die Bombe lag oben auf den übrigen Feuerwerkskörpern, ein Farbeimer, aus dem oben eine lange Zündschnur herausragte.

„Da ist ja mein Baby“, sagte Dess lächelnd.

Rex hatte ihr beim Basteln der Bombe zugesehen, der entsetzliche Geruch ihrer Zutaten hatte ihn fast in Panik versetzt.

Der zugelötete Farbeimer war vollgestopft mit dem Schwarzpulver aus etlichen Kanonenschlägen. Er diente einem einfachen Zweck: einen möglichst lauten Knall zu verursachen.

Dess hatte ausgerechnet, dass seine Schockwelle Autoalarme meilenweit in jede Richtung auslösen würde, die auf dieser Seite der Stadt überall Leute aufwecken sollten.

Wenn das funktionieren sollte, müssten sie sie allerdings in den nächsten vier Minuten zünden, bevor die lange Midnight eintraf.

„Ich fasse sie hier an“, sagte er.

„Kommt nicht infrage. Mein Spielzeug.“

Sie hob sie mit beiden Händen hoch und trug sie vorsichtig in den Regen hinaus. Immer noch humpelnd folgte Rex ihr zu einer Ecke des Dachs, wo ein Funkverstärker lag, eine anderthalb Meter lange Antenne, die auf die Vorstädte ausgerichtet war. Dess balancierte die Bombe obendrauf aus. Sie hatte Rex erklärt, dass sie hoch in die Luft fliegen müsste, damit die Schockwelle nicht vom Dach abgefangen wurde, bevor sie sich über Bixby ausbreiten konnte.

„Okay. Lass mich das machen“, sagte er.

Dess betrachtete die Bombe eine Weile, dann nickte sie. „Ist mir recht. Aber wenn die Zündschnur zu schnell anbrennt, dann renn wie der Teufel.“ Sie hielt inne. „Weißt du was? Am besten rennst du wie der Teufel, egal was passiert.“

Rex holte tief Luft und zog sein Feuerzeug hervor. Sein Fuß pochte inzwischen dumpf, im Takt mit dem zunehmenden Tempo seines Herzschlags.

Er beugte sich vor und zündete die lange, pendelnde Zündschnur an. Sie begann, Funken zu sprühen, die langsam in Richtung Farbeimer aufwärts wanderten.

„Alles klar, weg hier“, sagte Dess.

Er beobachtete das Feuer lange, um sicherzugehen, dass es nicht vom Regen gelöscht wurde, fasziniert von dem Funkenregen, der in einem kleinen Schweif vom Wind weitergetragen wurde.

„Rex!“, rief sie von der anderen Seite des Dachs. „Komm schon!“

Dann ertönte ein Donnerschlag über ihnen, und Rex glaubte für den Bruchteil einer Sekunde, die Bombe wäre hochgegangen. Er taumelte nach hinten auf seinem bösen Fuß, drehte sich vor Schmerzen fluchend um und humpelte hinter Dess her. Sie kauerten sich am äußersten Ende des Dachunterstands zusammen.

„Bist du sicher, dass uns hier hinten nichts passieren wird?“, fragte er.

„Meine Recherche hat ergeben, dass es zwei Möglichkeiten gibt, von einer Bombe getötet zu werden: umherfliegende Teilchen, vor denen uns dieser Unterstand schützen kann, und die Schockwelle. Mein kleines Baby ist nicht stark genug, um uns die Köpfe wegzureißen, du solltest dir aber gut die Ohren zuhalten, wenn du nicht taub werden willst.“ Um den letzten Punkt zu unterstreichen, legte sie beide Hände flach an ihren Kopf.

Rex sah auf seine Uhr. Nur noch etwas mehr als eine Minute.

Dann kam ihm ein entsetzlicher Gedanke. Sie hatten die langsamste Zündschnur ausgesucht, die sie finden konnten, davon eineinhalb Meter für die größtmögliche Zeitspanne. Sie hatten aber bereits Zeit verloren, als sie die Tür eintreten mussten …

„Was hast du gesagt, wie lang die Zündschnur brauchen würde?“, fragte er.

„Ungefähr anderthalb Minuten.“

„Schön. Wir haben noch eine Minute bis Mitternacht.“

„Echt?“ Sie sah auf ihren GPS-Empfänger. „Scheiße, Rex, wir haben zu lange gebraucht!“

„Die Bombe wird trotzdem vor Mitternacht hochgehen.“

Dess schüttelte den Kopf. „Schockwellen bewegen sich mit Schallgeschwindigkeit, Rex, und das ist langsam – fast fünf Sekunden für eine Meile. Die Schockwellen müssen bis an den Stadtrand, und dann müssen die Autosirenen lang genug heulen, um die Leute zu wecken. Das dauert alles noch mal Sekunden, die wir nicht haben!“

Rex holte tief Luft, dann schielte er um die Ecke des Unterstands.

Etwa ein Drittel der Zündschnur war heruntergebrannt.

Dess hatte recht. Er hatte sie zu spät angezündet.

Nach einer Sekunde panischer Überlegung fluchte Rex wieder, dann hoppelte er zur Bombe zurück, mit dem gezückten Feuerzeug.

„Rex, was zum Teufel tust du da?“

„Ich mach was draus!“

Er war bei der Bombe angekommen, als das Feuer die Markierung auf der Hälfte der Zündschnur erreicht hatte. Mit ausgestrecktem Arm hielt er die Flamme seines Feuerzeugs wenige Zentimeter vor dem Deckel der Dose an die Schnur.

Die Flamme ging sofort aus, als sie von einem dicken Regentropfen getroffen wurde.

„Mach schon“, murmelte er und zündete erneut.

„Komm hierher zurück!“, schrie Dess.

Endlich sprang die Flamme über. Dreißig Zentimeter Zündschnur fielen zu Boden, an beiden Enden brennend. Das kürzere Stück an der Dose flackerte und zischte im Regen, dann stabilisierte sich die Flamme und begann, die letzten Zentimeter weiterzukriechen.

Rex ließ sich keine Zeit zum Zusehen. Er wirbelte auf dem linken Absatz herum und rannte zum Unterstand zurück, beide Ohren bereits mit den Händen bedeckt.

Als er gerade um die Ecke bog, kam sein Stiefel auf dem regennassen Dach ins Rutschen und schleuderte ihn schmerzhaft auf den Asphalt. Er kroch das letzte Stück und kauerte sich neben Dess an die Seitenwand des Unterstandes, mit geschlossenen Augen und immer noch zugehaltenen Ohren.

„Rex, du Vollidiot!“, schrie Dess. „Du hättest mir fast eine Herzatta… “

Die Bombe explodierte mit einem riesigen Krach – weniger wie ein Geräusch, sondern eher wie physischer Schlag, wie ein Kartoffelsack, der Rex auf der Brust traf. Selbst auf seinen geschlossenen Augenlidern spürte er die Erschütterung, und ein einzelner, furchtbarer Lichtstrahl schoss durch sie hindurch.

Einen Moment lang blieben alle anderen Geräusche verschwunden, als ob der Lärm der Bombe der restlichen Welt die Geräusche entzogen hätte. Allmählich kehrte dann aber das Murmeln des Regens zurück, und Rex wagte, seine Augen zu öffnen.

Er sah auf die Uhr: zwanzig Sekunden bis Mitternacht.

Dess und er erhoben sich auf die Füße und spähten um die Ecke. Von dem Farbeimer war natürlich nichts übrig geblieben, und die Handyantenne war schwarz und zerfetzt, verbogenes und verdrehtes Metall, das nach allen Seiten abstand.

„Mann, cool!“, sagte Dess.

Rex humpelte hinter ihr her zum Rand des Daches, während er seine Darklingohren auf die Stadt unter ihm ausrichtete …

Der liebliche Klang von Autoalarmen erschallte über ganz Bixby, einhundert Hupen und Sirenen und Summer in einem riesigen ungeordneten Chor vereint. Rex stellte sich vor, wie sich die Leute im Schlaf umdrehten, vorwurfsvoll auf ihre Weckuhren starrten und sich fragten, was der ganze Lärm sollte. Selbst aus dem tiefsten Schlaf würden alle geweckt sein, wenn in zehn Sekunden die Midnight eintraf. Perfektes Timing.

Hier in der Stadt würde natürlich niemand die blaue Zeit sofort spüren. Der Riss musste sich erst von Jenks bis in die Innenstadt fortsetzen. Aber all jenen, die von der Bombe geweckt worden waren – und all den anderen, die ohnehin bis spät in die Nacht fernsahen oder im Bett lasen – würde die Verzögerung nur wie ein Augenblick vorkommen. Plötzlich würde sich um Mitternacht die Welt blau verfärben, alles mit dem roten Schimmer des Risses versehen, Fernseher, Radios und Autoalarme, die unvermittelt verstummten.

Wer hinausging, um nachzusehen, würde den dunklen Mond vorfinden, wie er am Himmel stand, und die letzten Sekunden Regen, wenn er auf die Erde fiel. Und bald würden sie das Feuerwerk in der Innenstadt sehen, das Einzige, was sich am erstarrten Horizont bewegen würde.

Hoffentlich würden sich dann viele auf den Weg in die Innenstadt machen, um nach einer Erklärung zu suchen. Bis dahin würde Jonathan zwischen ihnen umherfliegen und ihnen sagen, dass sie sich so schnell wie möglich zu diesem Gebäude begeben sollten. Solange die Schutzwälle der Midnighter in Jenks den Hauptstrom der Darklinge aufhalten könnten, hätten sie Zeit, sich dort hinzubegeben.

Während er mit Dess darauf wartete, dass die letzten Sekunden der normalen Zeit verstrichen, holte Rex tief Luft. In den nächsten fünfundzwanzig Stunden würde die Menschheit zu einer verfolgten Spezies werden, all ihrer schlauen Spielereien und Maschinen beraubt, vom Königsplatz in der Nahrungskette entthront. Wer das schnell genug begriff, würde wegrennen und überleben, wer sich weigerte, das zu glauben, würde umkommen.

Mit seiner Darklinghälfte fand Rex für einen kurzen Moment, dass dies vielleicht gar keine so schlechte Sache war.

Ohne Räuber, die in der Herde eine Auslese trafen, hatte sich die Menschheit unkontrolliert auf der Erde ausgebreitet, den Planet über dessen Ressourcen hinaus bevölkert, überheblich und arrogant. Eine Nacht pro Jahr, in der sie gejagt wurden, könnte ihnen guttun.

Dann schüttelte er den Kopf, zitternd im kalten Regen.

Darklingerkenntnisse hatten seinen Verstand die ganze Woche gefoppt, er wusste aber, dass er nicht zulassen durfte, so zu denken – er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Die Leute von Bixby verdienten es nicht, dass sie abgeschlachtet wurden, nur weil die Welt überbevölkert war. Niemand verdiente das.

Er lauschte den Alarmanlagen und zwang sich zu hoffen, dass hier unten jeder darauf hörte.

Kurz bevor die Midnight eintraf, grollte ein Donnerschlag direkt über ihren Köpfen. Und dann erzitterte die Erde, die blaue Zeit fiel auf alles herab, ließ den Regen um sie herum zu Millionen schwebender Diamanten erstarren, schaltete den Donner ab, die Sirenen, alles.

„Kannst du’s von hier aus sehen?“, fragte Dess.

Rex sah in Richtung Jenks und entdeckte mit seinem Seherblick den flachen roten Schimmer des Risses.

„Ja. Die rote Zeit ist unterwegs.“

„Gute Arbeit mit der Zündschnur.“ Dess atmete erleichtert auf. „Schätze, wir lehnen uns einfach zurück, bis das Feuerwerk losgeht.“

Geplant war, dass die anderen drei Midnighter draußen in Jenks sein sollten. Bald würden sie die ersten Raketen zünden, um den Hauptstrom der Darklinge aufzuhalten. Sobald es da anständig brannte und bevor die Darklinge um sie herum und in die Stadt zu strömen begannen, würden Jonathan, Jessica und Melissa hierherfliegen, um zu fünft Stellung zu beziehen.

Das war jedenfalls der Plan.

„Mann, Rex! Sieh dir das an!“

Dess deutete in Richtung Innenstadt. Rex drehte sich um und folgte ihrem Blick auf das Mobil-Gebäude, das höchste in Bixby. Das geflügelte Neonpferd auf der Spitze kauerte direkt unter einer tiefen Wolkendecke, vor der dunklen Masse seltsam angeleuchtet.

Rex’ Herz begann zu klopfen. „Oh mein Gott.“

„Hast du so was schon mal gesehen?“

„Nein, hätte ich aber immer gern. Melissa und ich haben nach so was Ausschau gehalten, seit … einer Ewigkeit.“

Aus der Wolke führte ein erstarrter Blitzstrahl, der sich in unzählige Feuerzinken teilte, mit denen er den Metallrahmen des Neonpferdes umfasste. In Rex’ Midnightervision war der erstarrte Blitz überwältigend komplex, jeder Zentimeter teilte sich in Millionen brennende Zacken.

Er erinnerte sich, wie oft Melissa und er als Kinder mit ihren Fahrrädern Tunnel durch den erstarrten Regen gegraben hatten, um einen erstarrten Lichtstrahl am Horizont zu erreichen. Sie hatten es nie geschafft, bevor die geheime Stunde vorüber war. Stets mussten sie sich mit leeren Händen durch das Gewitter zurückkämpfen.

Sie hatten es aber immer weiter versucht. Eines der ersten Fragmente der Lehre, das Rex entdeckt hatte, handelte von erstarrten Blitzen, obwohl darin nie erklärt wurde, was man tun sollte, wenn man sie fand.

Da war aber noch etwas in seiner Erinnerung …

Er spürte den Furchen nach, die Madeleine hinterlassen hatte. Die nach wie vor heiklen Wunden begannen zu pochen.

Jetzt sah er es, was ihm beim Anblick des komplexen erstarrten Blitzes wie ein Schlag getroffen hatte. Hier war sie, die letzte Spur dessen, was die Darklinge vor ihm verborgen hatten.

Rex blinzelte. „Oh nein.“

„Was ist?“

Er konnte nicht antworten, ein Schauder fuhr durch seinen Körper. Plötzlich wusste er, worum es heute Nacht wirklich ging und was passieren musste, bevor der Riss die Innenstadt erreichen und den Blitz wieder freisetzen würde. Er kannte die Instruktionen, die die Grayfoots nicht erreicht hatten, bevor ihr Halbling gestorben war.

Und endlich kannte er den wahren Grund, warum die Darklinge Jessica so sehr fürchteten – warum sie ihr stets den Tod gewünscht hatten.

Er blickte hinaus in Richtung Jenks. Der rot glühende Riss bewegte sich immer noch auf sie zu. „Wir können das hier aufhalten.“

„Was meinst du damit, Rex?“

„Wir brauchen Jessica hier.“

„Wir haben aber doch noch gar nicht angefangen, die … “

„Psst.“ Rex ging in die Hocke und legte den Kopf in beide Hände. Bei seiner Planung für heute hatte er Melissa aus zwei Gründen an vorderster Front eingesetzt. Sie konnte Jessica und Jonathan sicher dort hinaus und wieder zurück leiten, durch Bullen und Darklinginvasionen, je nach Bedarf. Und Rex hatte außerdem gewusst, dass sie sich seine Gedanken in der geheimen Stunde meilenweit schmecken konnte, falls etwas schiefging, genau wie damals, als sie sich mit acht Jahren in ihrem Schlafanzug mit den Cowgirls den Weg zu ihm gesucht hatte.

Jetzt musste sie ihn ein weiteres Mal hören.

„Rex?“, fragte Dess leise.

Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr zu schweigen und konzentrierte sich, um mit all seiner Willenskraft seine älteste Freundin anzurufen.

Cowgirl …, dachte er. Ich brauche dich jetzt.