beute
11.53 Uhr nachts
7
Melissas Augen verschwanden nach oben in ihrem Kopf, ihre Nase kräuselte sich. Rex sah, wie ein Schauder von den Zehen bis in die Fingerspitzen durch ihren Körper lief.
„Was, haben sie schon angehalten?“, fragte Rex.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Flyboy tritt das Gaspedal immer noch bis zum Anschlag durch. Sie werden mehr oder weniger pünktlich hier sein. Aber der Flammenbringer hat keine besonders gute Laune.“
Dess sah von ihrem GPS-Empfänger auf und schnaubte.
Rex schüttelte den Kopf. Genau der richtige Zeitpunkt für Beziehungsknatsch.
Er ließ seinen Blick wieder über die Bahnschienen schweifen. Der Ort war mit Fokus überschwemmt, nichtmenschliche Zeichen verfälschten jedes Kieselsteinchen zwischen den Gleisen, jeder Grashalm schoss messerscharf zwischen den Schwellen auf. Darklinge und Gleiter hatten hier getanzt. Selbst auf den Stahlnägeln in den Eisenschienen sah er die Spuren ihrer Klauen, Schnauzen und gleitenden Bäuche.
Dieser ganze Fokus konnte nicht in einundzwanzig Minuten abgelegt worden sein. Sie mussten vor der Finsternis schon hierhergekommen sein.
Natürlich, dachte Rex, hatte es immer, ein paar Midnightstellen außerhalb der Stadt gegeben. Vielleicht war es einfach ein Zufall, dass diese Schwachstelle schon vorher aufgesucht worden war.
Er kniete nieder, um sich eine Gleiterspur näher anzusehen, eine Schlangenlinie, die sich an den Schienen entlangwand, so weit sein Auge reichte. Sie sah nicht besonders frisch aus, nicht, als ob sie erst vor fünfzehn Stunden hinterlassen worden wäre.
Rex runzelte die Stirn. Seine neuen Räubernerven zuckten wegen des vielen Metalls um ihn herum. Warum sollte ein Gleiter an einer Eisenbahnschiene entlangschleichen, die nach Eisen, Stahlstiften und verborgenen Telegrafendrähten roch?
Die meisten Darklingplätze am Rande der Stadt waren freie Felder oder leere Hinterhöfe, Orte, denen noch kleine Flecken der Wildnis anhafteten – einheimische Pflanzen, Schlangenlöcher oder schmale Rinnsale, die noch nicht von Gebäuden und Beton verdrängt worden waren. Dieser eiserne Weg aber war ein Kunstwerk der Bahnlinie, ein altes und mächtiges Symbol menschlicher Cleverness und Herrschaft. Vor nur hundert Jahren repräsentierte es höchsten technologischen Standard der Menschheit. Trotzdem hatten die Darklinge sich den Ort angeeignet. Sie mussten absichtlich hierhergekommen sein.
Rex sah, wie weit sich der Fokus zu beiden Seiten der Bahnlinie erstreckte, wo er sich im Gestrüpp verlor und sogar bis zu den heruntergekommenen Häusern entlang des Bahngeländes ausdehnte. Er fragte sich, wie weit er in die Süßhülsenbäume hineinführte. Das kleine Örtchen Jenks lag dicht am Arkansas River, und an diesen Stellen war das Gebüsch undurchdringlich und verbarg den größten Teil der Landschaft vor seinen neuen Raubtieraugen.
Aber hier waren alte Darklinge gewesen, da war sich Rex sicher. Er konnte tiefe Abdrücke von Krallenfüßen in der Erde sehen, und ein dicker Ast war unter dem Gewicht von etwas Großem mit Flügeln beinahe abgebrochen. Gleiter hatten im Unterholz Gänge gegraben. Junge und alte Darklinge versteckten sich weit draußen in der Wüste in Höhlen vor der Sonne, aber einige ihrer kleinen Lakaien hausten näher an der Stadt, wo sie sich in der Erde vergruben.
Einen Platz wie diesen mit Fokus, mit so vielen Zeichen zu belegen, brauchte Zeit. Sie mussten vor Monaten damit angefangen haben, vielleicht sogar schon sehr viel früher. Melissa und Madeleine hatten ihre Feier in der Wüste gespürt: Die Darklinge hatten nicht nur irgendwie gewusst, dass die Finsternis eintreten würde, sondern auch, wo genau sie sich ereignen würde. Was bedeutete, dass sie vermutlich auch wussten, was Dess heute herausgefunden hatte: Dieser erste Riss in der blauen Zeit würde ausfransen wie ein Riss in der Naht eines alten T-Shirts.
Vielleicht hatte es immer zu ihrem Plan gehört, dass sich die blaue Zeit eines Tages teilen würde. Aber was wäre dann?
Plötzlich erweckte etwas Rex’ Aufmerksamkeit. Eines der Bahngleise trat hervor, umgeben von einem roten Schimmer.
Er sah genauer hin, außerdem roch die Stelle äußerst seltsam.
Hier war die blaue Zeit papierdünn.
Auf dem alten Holz entdeckte er etwas Fokus, der sich zwischen den Flecken der Darklinge seltsam ausmachte. Er trat näher und entdeckte in dem halbmondförmigen Flecken die unverkennbare Spur eines Turnschuhs.
Deshalb sah es so anders aus – die andere Sorte Fokus klebte hier, die Sorte, die Rex erst in den vergangenen Wochen zu erkennen gelernt hatte.
„Beute“, murmelte er leise.
„Fünf Minuten“, verkündete Dess, die das lange Metallrohr über ihrer Schulter nervös auf und ab wippen ließ. „Wie kommt der Flammenbringer voran?“
„Bald da“, antwortete Melissa. „Sie werden aber langsamer.
Weicheier.“
„Das subtile Vergnügen eines Flugs durch die Windschutzscheibe ist nicht jedermanns Sache, Melissa“, sagte Dess.
„Sie haben noch ganze fünf Minuten bis Mitternacht, und Flyboy parkt jetzt schon!“
„Wie weit sind sie?“, unterbrach Rex.
„Noch ein paar Meilen.“
„Nicht gut.“ Er verfolgte die Spur mit dem menschlichen Fokus mit den Augen. Die schimmernden Fußabdrücke verließen die Bahnlinie und führten ins dichte Unterholz. „Hier ist sie langgegangen. Zu Fuß, nicht verschleppt.“
„Wer? Cassie?“, fragte Dess.
Rex nickte.
„Das kannst du sehen?“
„Ich kann inzwischen menschliche Spuren sehen“, sagte er und deutete auf die Schienen. „Und diese Fußabdrücke sehen so aus, als wären sie während der Finsternis entstanden. Cassie muss sie hinterlassen haben.“
Dess verzog ungläubig das Gesicht. Von Melissa und Madeleine abgesehen hatte noch niemand wirklich verstanden, wie sehr er sich verändert hatte.
Rex kniete auf den Schienen und schnüffelte. Er konnte die Unsicherheit des verschwundenen Mädchens riechen, konnte die Angst am zögerlichen Abstand zwischen ihren Schritten erkennen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, seine Hände fingen an zu schwitzen. Hier war ein Junges, schwach und bereit, sich von der Herde trennen zu lassen.
„Reiß dich zusammen, Rex“, flüsterte Melissa.
Er schüttelte sich die Jagdgedanken aus dem Kopf. „Okay, ich werde ihrer Spur folgen. Sie könnte noch in der Nähe sein.
Ihr bleibt hier. Aber schrei die letzten dreißig Sekunden laut raus, Dess.“ Er glitt den losen Schotterstreifen neben den Schienen hinunter und stürzte sich in das dichte Gestrüpp.
„Rex!“, rief Dess. „Es sind nur noch fünf Minuten! Komm zurück!“
„Lass das Theater, Rex“, rief Melissa. „Wenn Midnight eintritt und ihr Hirn wieder zu arbeiten anfängt, finde ich sie sofort.“
Rex blickte zurück. Die beiden standen in Polymetamorph, einem großen und komplexen Tridekagramm, das Dess auf einer Lichtung ausgelegt hatte, mithilfe einer Rolle Fiberglaskabel, die sie einige Nächte zuvor bei Oklahoma Telecom entwendet hatten. Das Kabel roch für Rex hell und prickelnd, wie die Dämpfe von Reinigungsmitteln, wenn sie einem in der Nase hochstiegen, und von dem dreizehnzackigen Stern, den Dess gesponnen hatte, wurde ihm schwindelig. Dadrinnen würden sie vor den Darklingen in Sicherheit sein, selbst wenn sich der Flammenbringer ein paar Minuten verspäten sollte.
„Zähl einfach für mich“, rief er hinter sich.
„Rex!“, jaulte Dess.
Ihm fiel auf, dass Melissa und sie in dem Tridekagramm so weit voneinander entfernt standen, wie es nur ging, wie zwei rivalisierende Katzen, die man zusammen in ein kleines Zimmer gesperrt hatte.
Was soll’s. Sie würden es überleben.
Rex bahnte sich seinen Weg tiefer ins Unterholz, kämpfte sich durch die nackten, spröden Süßhülsenäste. Inzwischen konnte er im Dunkeln besser denn je sehen, und die Räume zwischen den Bäumen und Büschen schienen sich für ihn zu öffnen. Bald fiel ihm auf, dass die schlanken Spuren seiner Beute einem schmalen Weg folgten, vermutlich von Tieren ausgetreten.
Je tiefer Cassies Abdrücke ins Gebüsch führten, desto sicherer und gezielter sahen sie aus, als ob sie nach den ersten paar Minuten der Verwirrung in der blauen Zeit auf dem Weg zu einer Stelle wäre, an der sie sich sicher fühlte.
Ein Zweig blieb an Rex hängen, bog sich tief durch, schnellte dann nach hinten und hinterließ einen langen Riss in seinem T-Shirt. Das Mädchen musste hier aufgewachsen sein, wenn sie sich so sicher durch dieses Gestrüpp bewegte. Er erkannte, dass sie viel kleiner war als er, sie war beinahe aufrecht unter den Zweigen gelaufen, die ihn fast in die Knie zwangen.
Die Abstände zwischen ihren Schritten wurden größer. Hier hatte sie sich schneller bewegt, von einem Ziel angelockt. Rex fluchte – er würde das Mädchen nicht finden, bevor die Midnight eintraf. Sie hatte einundzwanzig Minuten Zeit gehabt, um dort anzukommen, wo sie verschwunden war, und ihm blieben nur …
„Dreißig Sekunden, Rex!“, ertönte Dess’ Stimme zwischen den Bäumen.
Er hielt inne. Um sicher zurückzukehren, sollte er jetzt umkehren und losrennen. Im Inneren von Dess’ Schutzring konnten sie auf den Flammenbringer warten. In der blauen Zeit würde Melissa die Gedanken des Mädchens schmecken können, auch wenn sie meilenweit weg war.
Natürlich konnte Cassie in zwanzig Minuten nicht so weit weggekommen sein, es sei denn, die Darklinge hatten sie hochgenommen und verschleppt. Und wenn das passiert sein sollte, dann war sie vermutlich nicht mehr am Leben und würde die endlosen Minuten nicht überleben, die Jonathan und Jessica brauchten, um zu ihr zu kommen.
Rex beschnüffelte die Spur vor sich. Angst haftete immer noch an dem menschlichen Geruch, vermischt mit Aufregung und Erstaunen, und verursachte ein elektrisierendes Kribbeln.
Etwas in seinem Inneren wurde davon hungrig. Das war der Geruch jener jungen, abenteuerlustigen Menschenwesen, die zu weit von ihren Dörfern entfernt herumstreunten – der Ruf von leichter Beute.
Ein Teil von Rex wusste, dass er vernünftig sein sollte. Er sollte sich zurück in Sicherheit begeben und alle vorbereiten: Dess und Melissa von Streitereien abhalten, Jonathan und Jessica sagen, was sie zu tun hatten, wenn sie eintrafen, vielleicht für die Rettung mit ihnen mitfliegen. Niemand außer ihm konnte der Gruppe die Führung bieten, die sie brauchte.
Aber der Geruch des einsamen Mädchens zog ihn weiter, lockte seinen ganzen Körper diesen schmalen Weg entlang. Cassie Flinders fühlte sich so nah an. Seine Hände kribbelten, weil sie so nah war, und ein ungestümes Verlangen erfüllte ihn …
Du musst vor den anderen bei ihr sein, sie gehört dir.
Rex trat einen unsicheren Schritt nach vorn. Er musste sie zuerst erreichen.
„Fünfzehn!“, erreichte ihn Dess’ Ruf aus der Ferne. „Wo zum Teufel steckst du, Rex? Zehn. Du bist ein Idiot, neun, komm zurück, acht, du Volltrottel, sieben … “
Rex stürzte sich tiefer ins Unterholz.
Sekunden später erzitterte die Erde unter seinen Füßen.
Blaues Licht strich durch die Büsche und über den Himmel, dimmte die Sterne und ließ jeden Zweig und jeden Grashalm scharf hervortreten, vor seinem plötzlich perfekten Seher-Auge.
Er inhalierte die hungrige Essenz der blauen Zeit, die geistige Klarheit der Midnight.
Vor ihm in der Ferne vernahmen Rex’ scharfe Ohren einen leisen Aufschrei der Überraschung und Angst … Cassie, die in der blauen Zeit erwachte.
Und das machte ihn hungriger.
Kaum eine Minute nach Eintreffen der Midnight fingen überall Wesen an, sich zu regen. Gleiter wühlten sich aus den tiefen Höhlen nach oben, wo sie sich vor der Sonne verborgen hatten, und schickten sich gegenseitig Signale mit ihren seltsamen, zwitschernden Lauten. Es war wie im ersten Licht eines frühen Frühlingsmorgens, wenn die Vögel erwachten und zu lärmen begannen.
Hier draußen gab es etliche Gleiter. Plötzlich fühlten sich die Metallketten um seine Stiefel nicht mehr sicher an. Seine Augen huschten nervös über das dichte Gestrüpp, auf der Suche nach dem scharfen Fokus ihrer Höhlen, während er sich die eisigen Stiche der Gleiter an seinen Beinen einbildete. Rex hatte einmal während der Ernte auf der Farm seines Großvaters in Texas gearbeitet. Jeder Schritt zwischen diesen Höhlen erinnerte ihn an die beängstigenden Momente, wenn er eine Heugarbe hochhob, ohne zu wissen, ob sich darunter eine verärgerte Klapperschlange verbarg.
Noch ein Schrei erreichte seine Ohren, und Rex riss seine Augen vom Waldboden. Zwischen den Bäumen sah er einen Felsen aus der Erde aufragen, in dem sich ein schmaler Spalt befand. Der Durchgang war auch für ein Kind eng, aber ausreichend, um Cassie vor der Sonne zu verbergen.
Warum war sie da hineingekrochen? Wie konnte sie so viel Pech haben, dass sie in einer Höhle gelandet war, die sie vor den Sonnenstrahlen verbarg?
Es sei denn, sie war irgendwie hierhergelockt worden …
Rex zog seine Handschuhe an. Zurzeit bereitete ihm die Berührung von Edelstahl auf seiner Haut während der geheimen Stunde Schmerzen, mit Lederhandschuhen konnte er seine neue Waffe jedoch anfassen. Dess hatte die Klinge des Jagdmessers mit einer superdünnen Gitarrensaite in Mustern umwickelt, von denen ihm die Augen brannten und tränten. Das Messer verströmte den schlauen menschlichen Geruch eines ausgeklügelten Fahrradteils – hochmoderne Legierungen und präzise Proportionen –, dessen tausend raffinierte Winkel sirrten.
Er bekam Kopfschmerzen, wenn er es ansah oder an seinen Namen auch nur dachte, was bedeutete, dass die Waffe jeden Darkling abwehren würde, wenigstens für kurze Zeit, bis Jessica und Jonathan hier eintreffen würden. Die geheime Stunde hatte vor fast drei Minuten begonnen – sie mussten zu ihm unterwegs sein.
Dicht an der Felsspalte stehend starrte er ins Dunkle. Ein blaues Leuchten ging von den Steinen aus und enthüllte Fokusschichten von Gleitern in der Höhle, zusammen mit einer schmalen Spur von menschlichen Füßen. Die Spalte war tiefer, als er gedacht hatte, Oklahomaschiefer, den irgendein Erdbeben in grauer Vorzeit in Zacken geteilt hatte.
Er blieb stehen, um zu lauschen. Die kurzen, rasselnden Atemzüge einer panischen Dreizehnjährigen erreichten sein Ohr.
„Cassie?“, rief er.
Der Atem hielt inne, dann antwortete eine leise Stimme:
„Hilfe.“
Das Mädchen hörte sich viel jünger als dreizehn an, vermutlich war sie zu Tode verängstigt. „Geht es dir gut?“
„Meine Oma ist erstarrt.“
„Es geht ihr jetzt besser, Cassie“, antwortete er ruhig. „Sie macht sich aber Sorgen um dich. Geht es dir gut?“
„Es tut weh.“
„Was tut weh, Cassie?“
„Mein Fuß. Wo das Kätzchen mich gebissen hat.“
Eine Katze. Rex erinnerte sich an den Gleiter, dem Jessica in ihrer ersten Nacht gefolgt war, als die Darklinge sie umbringen wollten. Er hatte sich als schwarze Katze getarnt und an ihrem Fenster gekratzt, um sie dann auf Bixbys verlassene Straßen hinauszulocken, wo die Darklinge auf sie gewartet hatten. Sie hatten wohl den gleichen Trick bei Cassie Flinders angewandt.
Nachdem sich die ganze Welt um sie herum in einen erstarrten, verlassenen Ort verwandelt hatte, war sie ahnungslos der einzigen lebenden Kreatur gefolgt, die sie gesehen hatte.
„Ist schon gut, Cassie. Ich heiße Rex. Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen.“
Sie antwortete nicht.
„Cassie, sag mir eins: Gibt es dadrin noch irgendwas? Noch irgendwas außer der Katze?“
„Sie ist weg.“
„Das ist gut.“ Der Gleiter musste sie erwischt haben, als die Finsternis zu Ende ging, kurz bevor er sich wieder in seinen Bau verkrochen hatte. Er hatte Cassie verletzt, damit sie nicht aus der Höhle hinauskriechen konnte, nach draußen, wo sie die Sonne von der blauen Zeit befreien würde. Cassie war in den fünfzehn Stunden seit der Finsternis erstarrt gewesen –
für sie war die Katze vor wenigen Minuten weggerannt.
„Hier sind aber Schlangen drin, Rex“, sagte Cassie. „Sie sehen mich an.“
Er bemühte sich, die Angst in ihrer Stimme zu überhören, weil sie eine Reaktion bei ihm auslöste. Er hörte an ihrem Atem, dass sie krank war, und erinnerte sich, dass in den Nachrichten gesagt worden war, sie wäre wegen einer Erkältung nicht zur Schule gegangen. Leichte Beute.
Es würde nicht leicht sein, sie aus der Höhle zu locken. In seinen Darklingträumen hatte Rex Menschen gesehen, die vor Angst paralysiert waren, wenn sie in die Ecke gedrängt wurden.
Seitwärts versuchte er, sich tiefer in den Spalt zu schieben, aber nach wenigen Zentimetern stachen ihn Zacken des spitzen Steins in Brust und Rücken. „Cassie? Versuch, zu mir zu kommen.“
„Ich kann nicht.“
„Ich weiß, dass dein Fuß wehtut, Cassie. Du kannst aber trotzdem laufen.“
„Nein. Sie lassen mich nicht.“
Mist, dachte Rex. Die Gleiter hielten sie hier gefangen. Er fragte sich, ob der Strahl von Jessicas Taschenlampe bis zu Cassie hineinreichen könnte. Er streckte die Hand mit dem Jagdmesser aus und versetzte dem Stein einen schnellen Hieb.
Ein einzelner blauer Funke blitzte hell auf und beleuchtete die rauen Wände für einen Moment.
„Hast du das gesehen, Cassie?“
„Den Blitz?“
„Genau. Braves Mädchen. Ich bin nicht weit weg von dir.“
Rex lehnte sich an den Felsen und stand auf einem Bein, um die Metallketten von seinem Stiefel herunterzuziehen. Dann wechselte er das Bein, und tat das Gleiche am zweiten Stiefel.
„Ich werde ein paar Sachen werfen, Cassie. Die Schlangen haben Angst davor. Du musst hierherrennen, sobald du Funken siehst.“
„Ich kann nicht. Sie sehen mich an.“ Ihre Stimme hörte sich flach an, als ob sie das leblose Starren der Gleiter hypnotisieren würde.
„Sie werden dich nicht beißen, wenn du schnell bist, okay?
Ich zähle bis drei, dann erschrecke ich sie.“
„Rex. Ich kann nicht. Mein Fuß.“
„Mach dich bereit. Eins … “ Er hielt die Kettchen dicht an seine Lippen und flüsterte ihre Namen – Verträumtheit, Unversieglich, Bedingungslos und Ruhelosigkeit – die Aversionen jagten einen Migräneanfall durch die Darklinghälfte seines Gehirns. „Zwei … drei … renn los! “
Er warf die Handvoll Kettchen, so weit er konnte, und sie sausten tief in die Höhle, wo sie einen Funkenregen beim Aufprall an den Wänden auslösten. Der helle, klingende Ton von Metall auf Stein stach Rex heftig in den Ohren.
„Du hast sie erschreckt!“, verkündete Cassie.
„Verdammt, dann renn doch!“
Als das Echo seines Schreis verhallte, hörte Rex, wie sich quietschende Turnschuhschritte durch die spitzen Winkel der Höhle auf sie zu bewegten. Wenige Sekunden später kam sie in sein Blickfeld, humpelnd und kreidebleich schleppte sie sich durch den schmalen Steinkanal. Rex streckte eine behandschuhte Hand aus und zog sie hinter sich aus der Spalte, hinaus unter den aufsteigenden Leib des dunklen Mondes.
Draußen kam er schwankend zum Stehen. Eine Gleiterarmee umringte sie. Zahllose Kreaturen bedeckten den Boden, und ihre beflügelten Artgenossen saßen überall auf den Ästen.
„Schlangen … “, flüsterte Cassie leise.
Melissa, dachte Rex so intensiv er konnte.
Ganz tief drinnen hörte er den Hauch von einem Wort –
kommen – und fragte sich, ob das heißen sollte, dass Melissa und Dess oder Jessica … oder etwas anderes unterwegs war.
„Ist schon gut“, sagte er, zog Cassie näher an sich heran und streckte das Messer von sich.
Dann sah er den Darkling.
Er schien sich vom Boden hochzurollen, mit acht Beinen, die sich von seiner wulstigen Mitte wie eine grauenhafte Blüte zu entfalten schienen. Eine Tarantel, die Wüstenspinne aus seinen Albträumen.
Rex fragte sich, wo sie hergekommen war, ob sie eilig aus der Wüste hierhergeflogen oder in einem felsigen Labyrinth vor der Sonne verborgen seit der Finsternis auf diese altertümliche Köstlichkeit gewartet hatte – ein seltenes Mahl aus Menschenfleisch.
„Rex …?“, flüsterte Cassie.
Natürlich, so hatte der Plan ausgesehen: Die Gleiterkatze führte sie zu diesem Platz, lockte sie in die Höhle, bis ihre Herrin um Midnight ankommen würde. Als Nächstes hätten die Gleiter sie von drinnen nach draußen in ihre Fänge getrieben … wenn Rex sie nicht sowieso schon selbst hinausgelockt hätte.
„Geh wieder rein“, flüsterte er.
Sie klammerte sich nur noch fester an ihn.
„Geh zurück in die Höhle, Cassie!“, schrie er. „Das Biest passt da nicht rein!“
„Aber die Schlangen!“
Rex sah sich um. Das blaue Leuchten in den Tiefen der Höhle sprenkelten die Augen von Gleitern, die sie anstarrten.
„Hier, nimm das“, sagte er und drückte ihr das Jagdmesser in die Hand. „Davor haben sie Angst, und Hilfe ist unterwegs.“
Sie hielt das Messer vorsichtig in der Hand und sah es mit großen Augen an.
„Es heißt Kannibalismus“, sagte er. Seine Fäuste ballten sich, als ihm Dess’ spitzer kleiner Tridecalogism über die Lippen kam. „Das musst du sagen, und dann kriegen sie richtig Angst. Kannibalismus. “
„Aber … “
„Geh!“ Er schob sie durch den Spalt und hoffte, dass sie Mut fassen würde, um tiefer in die Höhle hineinzugehen, weit genug, um den dünnen, hangelnden Tentakeln des Darklings zu entkommen.
Er wirbelte wieder herum, um sich der Kreatur zu stellen, die auf Kampfesnähe an ihn herankroch. Ihre acht Beine hatten ihre volle Länge erreicht, stemmten sich in den Boden, um die Körpermasse in der Mitte in die Luft zu heben. Ihre Beine waren nicht mit Haaren, sondern mit glitzernden Sporen bedeckt, wie Dornen an einem riesigen und fürchterlichen Rosenstrauch. Von dem Biest tropfte überall eine eklige schwarze Flüssigkeit, als ob es in Rohöl gebadet worden wäre.
Rex öffnete und schloss seine leeren Hände, als ihm bewusst wurde, dass er keinerlei Waffen mehr bei sich trug. Er hatte kein Messer, kein Metall an seinen Stiefeln, und wenn er Wörter mit dreizehn Buchstaben schrie, würde er sich selbst mehr wehtun als irgendeinem Darkling.
„Wo bist du bloß, Jessica?“, flüsterte er und wagte einen Blick auf seine Uhr.
Sein Herz sank. Nur sechs Minuten der geheimen Stunde waren vergangen.
Sie würde nicht rechtzeitig hier eintreffen.
Die beiden Vorderbeine des Darklings hoben ab, in der Haltung einer Tarantel, die sich einem Feind stellte. Rex konnte die Fangzähne in seinem öligen Maul sehen.
Er erinnerte sich, wie er im Alter von zehn Jahren gezwungen worden war still zu stehen, während die Taranteln, die sein Vater hielt, über seine nackte Haut krochen. Ihre seltsame Langsamkeit, die fließenden Bewegungen ihrer acht Beine übten eine unwiderstehliche Faszination aus, von der einem schlecht wurde.
Die Stimme seines Vaters rief ihm wieder zu: Entspann dich, Junge! Sie sind nicht giftig. Sie können dir nichts tun. Sei ein Mann!
Haarige Spinnen waren durch jeden einzelnen Albtraum seiner Kindheit gekrochen.
Rex wartete darauf, dass der Darkling zuschlug. Seine beiden Vorderbeine wedelten durch die Luft, wie die Beine eines Hundes, der im Wasser paddelt. Die geschmeidige Bewegung drohte ihn zu hypnotisieren, und er riss sich von dem Anblick los.
Er starrte zu Boden, mit klopfendem Herzen, jeder Muskel war gespannt, bereit, sich auf einen hoffnungslosen Kampf einzulassen. Aber irgendwie, fiel Rex auf, fehlte etwas an seiner Reaktion. Die nagende Angst hatte sich noch nicht in seinem Bauch festgesetzt. Die Spinne macht ihm nicht so viel Angst wie erwartet.
Seit die Darklinge ihn verwandelt hatten, konnte er sich eigentlich an keinen einzigen Traum erinnern, in dem die Taranteln seines Vaters vorgekommen waren. Melissa und er hatten sie umgebracht, als der alte Mann nach dem Unfall hilflos wurde, aber Rex hatte immer gewusst, dass ihre Geister unter seinem Haus lauerten und darauf warteten, Vergeltung zu üben.
Er blickte wieder zu der Spinne auf und merkte, dass der kalte Schweiß aus jenen Kindheitstraumata verschwunden war. Seine Arachnophobie (sein Verstand zuckte wegen der dreizehn Buchstaben des Wortes) war weg.
Noch ein Moment verstrich, und die Kreatur schlug immer noch nicht zu.
Rex zeigte dem Biest seine Zähne, und aus seiner Kehle gurgelte ein Laut hoch – das gleiche Zischen, mit dem er aus Timmy Hudson eine Pfütze geschmolzener Tyrannei gemacht hatte.
Der Darkling vor ihm ließ sich allerdings nicht so leicht erschrecken. Er stand sicher auf seinen sechs Hinterbeinen, seine tanzenden Sporen hypnotisierten nach wie vor, sein Leib glitzerte im Licht des kalten Mondes. Aber eine Sekunde nach der anderen verstrich, und er schlug nicht zu.
Allmählich dämmerte Rex, woran das lag. Das Biest hatte gar keine Kampfhaltung eingenommen – Rex war überhaupt keine Beute. Hier ging es nicht um die Tötung am Ende der Jagd. Hier ging es um ein Ritual zwischen zwei Räubern, wie eine Entscheidung über einen Kadaver. Der Tanz der Spinne war Pose und Angeberei, eine Forderung, in der Hoffnung, ein anderer Räuber würde zurückweichen. Rex war jedoch als Erster hier eingetroffen und konnte die Tötung für sich beanspruchen.
Er blieb standhaft.
Wölfe fraßen schließlich auch keine Wölfe.
Eine ganze Minute lang stellte er sich der Kreatur, ließ sich von den Gefühlen des Wettstreits durchdringen. Seine Finger krümmten sich zu festen Klauen, die langsam durch die Luft fuhren, wie beim Ablauf eines altbekannten Rituals. Weder er noch der Darkling traten vor, gegenseitiger Respekt und Angst hielten sie auf Distanz.
Dann spürte Rex ein Aroma in seinem Kopf, nicht Melissas vertrauten Geschmack – sondern etwas Altes und Verdorrtes, wie Staub auf der Zunge, kaum Wörter.
Komm zu uns.
Er schluckte, seine Kehle wurde trocken, während er den Darkling weiter anstarrte.
Wir werden bald wieder jagen.
Rex versuchte wieder zu fauchen, um das Gemurmel in seinem Kopf abzuwehren.
Dann spürte er, wie Angst in das Biest hineinfuhr, sein kaltes Herz plötzlich hämmerte, seinen aufgeblähten Körper wie eine Peitsche antrieb. Der Darkling wandte sich ab und nahm eilig eine neue Gestalt an, dünn und lang, aus der Flügel wuchsen. Dann, mit einem letzten Fauchen, erhob er sich in die Lüfte, ein Gleiterschwarm flatterte um ihn herum. Eine riesige Wolke aus Gleitern versammelte sich, als der Darkling aus Angst vor dem Flammenbringer die Flucht ergriff.
Als die Kreatur aus seinem Blickfeld verschwand, ließ sie einen letzten Gedanken zurück …
Der Winter steht vor der Tür. Komm zu uns.
Rex sank in die Knie, erschöpft und zitternd. Sein Kopf dröhnte, eine Hälfte seines Verstandes im Kampf gegen die andere. Die Welt um ihn herum schien sich zu beugen und zu biegen, sein Seherfokus war überwältigt von der verzerrten Sicht eines Darklings.
Er hatte das Wesen im Geist tatsächlich gehört – nicht nur flüchtige Aromen und Gefühle erhascht wie Melissa, wenn sie in der Wüste las. Er konnte jetzt mit ihnen sprechen.
„Du hast es verjagt.“
Das dünne Stimmchen zog ihn in die Realität und das kühle Licht der blauen Zeit zurück, und Rex wirbelte herum, um nach seiner Quelle zu suchen. Cassie umklammerte das Jagdmesser mit beiden Händen und erwiderte mit weit aufgerissenen, erstaunten Augen seinen Blick.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte sie. „Es war so groß.“
Sprachlos ertappte sich Rex dabei, dass er Cassies Herzschlag am Hals beobachtete, wo das Blut dicht unter der Oberfläche pulsierte. Die Ehrfurcht auf ihrem Gesicht war wie der hilflose Blick einer paralysierten Beute, gefangen und in die Enge getrieben von seinen Verfolgern. Hilflos spürte er, wie der Hunger in ihm aufkam.
Der andere Darkling hatte die Beute hilflos und allein für ihn zurückgelassen.
Komm zu uns. Rex hörte, wie die Worte des Biestes in seinem Geist widerhallten, und ihm wurde klar, dass er den schrecklichen Kampf in seinem Inneren jetzt beenden könnte, mit einer einzigen, leichten Tötung.