majorette

2.59 Uhr nachmittags

4

„Kein Problem, ich bring dich um Mitternacht zu Madeleine.“

„Na klar“, antwortete Jessica. „Nachdem ihr all die wichtigen Sachen schon heute Nachmittag durchgequatscht habt.“

Dess und Jonathan stöhnten gleichzeitig und sahen weg, offensichtlich ging ihnen ihr Gejammer auf die Nerven.

Jessica rieb sich den Knöchel, wovon ihre Laune auch nicht besser wurde. Im Lauf des Tages war der Schmerz abgeklungen, es tat aber trotzdem noch weh. Sie saßen zu dritt auf den Stufen vor der Schule. Um sie herum strömten die Schüler aus der Bixby Highschool und ordneten sich langsam den Schulbussen zu, die in einer Reihe warteten. Leute in Gruppen verteilten sich über den Rasen, die sich verabschiedeten oder Mitfahrgelegenheiten nach Hause absprachen. Vom Footballfeld schallten Aufwärmklänge einer Tuba herüber.

Jessica wartete auf ihren Vater, der sie wegen ihres Hausarrestes heute zum letzten Mal abholen würde.

„Du wirst nichts verpassen, Jessica“, sagte Dess. „Madeleine weiß wahrscheinlich auch nicht mehr als wir über das, was heute passiert ist. Ich glaube kaum, dass Gedankenleser damit was anfangen können.“

„Sie ist aber doch schon so alt“, sagte Jessica.

„Stimmt, aber wenn so etwas schon mal passiert wäre, dann nicht in den letzten fünfzig Jahren. Eher vor fünftausend Jahren, sonst wüsste Rex davon.“ Dess nickte bedächtig und rieb sich die Hände. „Ich schätze, das ist eine Sache für Universalgenies.“

„Sie hat aber doch all die Erinnerungen in ihrem Kopf“, sagte Jessica. „All die Sachen, die Gedankenleser aus den alten Zeiten weitergegeben haben.“

Dess schien ein wenig zu zittern, und Jessica verfluchte sich selbst, weil sie das Thema Gedankenleser und Erinnerungen angeschnitten hatte. Madeleine hatte in Dess’ Gedanken ebenfalls herumgepfuscht, als sie versucht hatte, ihre Existenz vor den Darklingen geheim zu halten.

Nach einer unangenehmen Pause antwortete Dess: „Etwas derartig Großes käme in der Lehre vor. Sie würden sich doch nicht nur auf die Erinnerung verlassen, oder?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber sie hat vielleicht heute Morgen ein paar Informationen von den Darklingen aufgeschnappt. Ich muss sie unbedingt fragen, ob diese blaue Zeit eine komische Form hatte.“

„Eine komische Form?“

Dess’ Augen fingen an zu leuchten. „Ja, ob sie sich beispielsweise über ganz Bixby erstreckt hat. Oder kleiner war als die normale Midnight. Sich … auf verschiedene Stellen konzentriert hat.“

„Warum sollte das so sein?“

Dess zuckte mit den Schultern. „So ist die blaue Zeit eben: Sie hat eine Form.“

Nicht zum ersten Mal versuchte Jessica, sich mit dem Konzept vertraut zu machen. In letzter Zeit redete Dess über die Stunde um Mitternacht, als ob es sich um einen Ort und nicht um Zeit handeln würde. Sie spielte ständig mit Karten herum, und auch jetzt, während sie hier saßen, fummelte sie an ihrem elektronischen Gerät herum, das Koordinaten ausspuckte.

Jessica fand es absurd, dass die blaue Zeit nur bis zu einer bestimmten Stelle gehen und dann einfach aufhören sollte. So hatten sich die Leute in früheren Zeiten das Ende der Welt vorgestellt, als noch niemand wusste, dass die Erde rund ist.

„Dann erklär mir mal, Dess“, fragte Jessica, „was passieren würde, wenn man bis zur Grenze von Bixby und dann nur noch ein kleines bisschen weiter laufen würde?“

„Du meinst, wenn man die Grenze der Midnight überschreiten würde? Würde man nicht … oder besser: Man könnte es nicht. Da draußen steht die Zeit still. Aus deiner Perspektive wäre Midnight zu Ende, wenn du diesen Schritt wagst. Aber ein anderer Midnighter würde sehen, wenn er dich dabei beobachtet, wie du für den Rest der Stunde erstarrst, einfach außer Reichweite.“

Jessica brummte kurz der Schädel, als sie sich das vorzustellen versuchte. „Dann ist Midnight also wie eine Blase um uns herum?“

„Meinst du eine Sphäre? Na ja, sie ist uneben und wackelig, aber ungefähr so.“

„Nehmen wir mal an, du wärst genau auf der Grenze, wenn Midnight eintrifft. Würde sich dann die Hälfte von dir weiterbewegen, und die andere Hälfte erstarren?“

„Und würdest dann in zwei Teile gespalten?“, ergänzte Jonathan. „Wie die Typen in den Samurai-Filmen?“

„Ah, ich glaube, ich weiß es nicht.“ Dess lachte. „Warum versucht ihr’s nicht und sagt mir dann Bescheid?“

„Da kommen sie“, sagte Jonathan.

Rex und Melissa bahnten sich in aller Ruhe einen Weg durch die Meute. Sie berührten sich leicht an den Fingerspitzen, ihre Gesichter sahen entspannt aus. Seit Kurzem schienen Menschenmassen Melissa nichts mehr auszumachen. Sie ignorierte die Blicke von ein paar Fünftklässlern, die entsetzt ihr zerschnittenes Gesicht anstarrten, und glitt erhaben wie ein Filmstar auf dem roten Teppich an ihnen vorbei.

Dess seufzte. „Ich kann verstehen, dass du sauer bist, Jess.

Wo du den Nachmittag nicht bei gammeligem Tee mit zwei Gedankenlesern verbringen darfst.“ Sie erhob sich auf die Füße, ihr langer Rock raschelte. „Bis dann.“

„Ist doch wahr“, sagte Jonathan. „Du kannst von Glück sagen, dass dir das erspart bleibt.“ Er drückte Jessicas Hand und stand auf.

„Echt, so ein Glück“, sagte Jessica. „Könnte ich bloß für immer Hausarrest haben.“

Sie sah den vieren nach, die sich entfernten, kaute auf ihrer Lippe herum und verfluchte die Kalenderlogik ihrer Eltern.

Wussten die nicht, dass sie zurzeit Wichtigeres zu tun hatte, als mit Hausarrest herumzuhocken?

Zum allerersten Mal kam ihr Dad zu spät.

Er hatte sie jeden Tag ihres Hausarrests zuverlässig abgeholt, da eine Fahrt mit dem Schulbus in seinen Augen unweigerlich dazu führen musste, dass sie ihre kriminellen Gewohnheiten wieder aufnehmen würde. Aber nirgendwo im Kriechverkehr der Eltern, die ihre Kids abholten, war Don Days Wagen zu entdecken. Vielleicht hatte ihn die Debatte über das Ende ihres Hausarrests verunsichert.

Bei der Diskussion am heutigen Frühstückstisch hatte Jessica das Mondmodell angewendet: Ein Monat hatte achtundzwanzig Tage, was bedeutete, dass gestern Abend Schluss war.

Ihre Eltern hatten sich aber unerbittlich an den Kalendermo-nat gehalten, und während er die Monate an den Fingerknöcheln mitzählte, hatte ihr Vater verkündet: „… Juli, August, September. Der hat dreißig Tage.“

Weshalb es natürlich immer noch nicht fair war, dass sie heute Abend Hausarrest hatte. Jessica war an einem Samstag aufgegriffen und in die Obhut der Eltern zurückgeführt (also nicht verhaftet) worden. Dreißig Tage wären an einem Montagabend zu Ende, wie jeder halbwegs gesunde Mensch wusste. Ihre Eltern hatten sich aber darauf berufen, dass sie Sonntagmorgens zurückgebracht worden war, insofern hatte ihr Hausarrest eigentlich erst Sonntagabend angefangen, weshalb sie ihre Strafe auch erst Dienstagabend abgesessen hatte.

Jessica hatte weiterdiskutiert, bis ihr Vater ärgerlich geworden war und angeführt hatte, dass die meisten Monate einunddreißig Tage hatten, weshalb er ihren Hausarrest bedenkenlos bis Mittwoch verlängern konnte. Dabei hatte sogar Mom die Augen verdreht, aber Jessica hatte zugeben müssen, dass sie geschlagen war.

Sie sah auf ihre Uhr, die sie auf Bixbyzeit zurückgedreht hatte – während der Finsternis hatte sie zwanzig Minuten dazugewonnen. Ihr Bus würde bald losfahren. Wenn sie einsteigen und ihr Vater sie später abholen würde, wäre er stocksauer und würde sie wieder einsperren. Vielleicht war aber genau das sein Trick: Wenn sie ihren Bus verpassen würde, wäre sie gezwungen, zu Fuß nach Hause zu gehen, und er könnte sie wieder einsperren, weil sie zu spät kam.

Es sei denn, sie hatte etwas vergessen. Jessica wühlte angestrengt in ihrem Gedächtnis nach irgendeiner Planänderung.

Seit den seltsamen Ereignissen von heute Morgen war ihr Gedächtnis nicht mehr ganz zuverlässig. Den ganzen Tag hatte sie darauf gewartet, dass die Zeit wieder anhalten und alle um sie herum von dem blauen Licht erfasst werden würden. Jedes Mal, wenn der Lärm in der Mittagspause abflaute, war sie zusammengezuckt, weil sie sich fragte, ob die Welt der Bewegung mit ihrem Sonnenlicht und anderen menschlichen Wesen für immer verschwinden würde.

Endlich entdeckte Jessica das bekannte Auto und Beths Gesicht auf dem Beifahrersitz neben ihrem Vater, und plötzlich fiel ihr ein, weshalb er zu spät kam. Beth hatte verlangt, von der Junior Highschool am anderen Ende der Stadt abgeholt zu werden, damit sie nicht in ihrer peinlichen neuen Schulgardeuniform nach Hause laufen musste.

„Stimmt ja“, sagte Jess und musste lächeln. Ihre kleine Schwester war wieder eine Majorette.

Sie rannte zwischen den vielen Autos hindurch, riss die Tür auf und ließ sich auf den Rücksitz fallen.

Beth wirbelte herum. „Wehe, du sagst was.“

Jessica grinste sie an. „Gerade wollte ich sagen, dass du in Purpur mit Gold hinreißend aussiehst.“

„Dad! Sie macht sich über mich lustig!“ Beth wandte sich ihrem Vater zu. „Du hast gesagt, sie darf sich nicht über mich lustig machen!“

„Jess …“

„Ich habe bloß hinreißend gesagt. Hinreißend ist nichts Böses. Dad, erklär Beth, wie gern die armen Kinder in Bangladesch so ein hinreißendes Kostüm anziehen würden.“

„Hör auf, darüber zu reden, Jess!“, schrie Beth.

„Mädels …“ Don Day hörte sich bisher nur leicht bedrohlich an, weil er konzentriert nach einer Chance Ausschau hielt, den Wagen aus dem Verkehrschaos hinauszulenken.

„Kannst du ihr nicht einfach wieder Stubenarrest verpassen?“, rief Beth.

„Beth! Du bist total uncool!“

„Würdet ihr jetzt bitte beide still sein?“, flehte ihr Vater.

Während er den Wagen in der Parklücke zurücksetzte, versuchte er, Jessica mit einem festen Blick Angst einzujagen, dann legte er den Vorwärtsgang ein und starrte Beth eine bedeutsame Sekunde an, bevor er beschleunigte und auf die Fahrbahn einbog.

Jessica lehnte sich wenig erschüttert zurück. „Eigentlich habe ich auch jetzt keinen richtigen Hausarrest.“

„Doch, hast du wohl“, sagte Beth.

„Also gut, dann eben doch.“ Jessica wartete einen Moment, dann spielte sie ihren letzten Trumpf aus. „Dad, erinnerst du dich, dass mir ein Tag pro Woche ohne Hausarrest zusteht?

Kann ich den beispielsweise heute nehmen?“ Sie richtete sich auf und lächelte. Ihre Eltern hatten ihr diese vorübergehende Begnadigung gewährt, wenige Tage nachdem sie von der Polizei heimgebracht worden war. Ein Tag pro Woche – ein feierliches Versprechen. Es hatte ein bisschen verdächtig gewirkt, dass ihre Mom einwilligte, eine Strafe zu mildern, nachdem sie einmal bemessen worden war, besonders nachdem Jessica erfahren hatte, was Rex und Melissa mit dem Verstand anderer Leute anstellen konnten.

Momentan war Jessica jedoch bereit, die Ausnahme unbedingt zu nutzen.

„Das ist vielleicht albern“, sagte Beth. „Dad, sag ihr, dass das albern ist.“

„Das ist ziemlich albern, Jess.“

„Du hast aber gesagt, einmal pro Woche.“

„Und du hast vier freie Tage gehabt. Und du hattest einen Monat Hausarrest. Und das sind vier Wochen.“

Jessica klappte bei dieser ungerechten Definition die Kinnlade runter. „Du hast aber gesagt, und ich zitiere wörtlich:

,September hat dreißig …‘“

„Es reicht, Jessica.“ Seine Stimme hatte einen absolut bedrohlichen Tonfall angenommen. „Sonst hat der September in diesem Jahr sechzig Tage.“

Jessica schluckte. Diesmal hörte er sich so an, als ob er es wirklich ernst meinen würde.

Beth drehte sich zu ihr um und sah sie mitleidig an, der Ausbruch des Vaters hatte ihre Feindseligkeiten vorübergehend unterbrochen. Seit sie nach Bixby gekommen waren, war Don Day arbeitslos und infolgedessen erst einfallslos, dann humorlos und letzten Endes rückgratlos geworden. Es war schon lange her, seit er zum letzten Mal so viel Energie aufgewandt hatte, um die Stimme zu erheben.

Genau genommen, fiel Jessica auf, war es genau dreißig Tage her – er hatte heftig gebrüllt, als die Polizei sie nach Hause gebracht hatte, nachdem sie mit Jonathan die Sperrstunde missachtet hatte. Vielleicht bekam er Panik, und die Vorstellung, dass sie von drei Uhr nachmittags bis zehn Uhr abends ungehindert durch die Straßen von Bixby ziehen könnte, war einfach zu viel für ihn. Er war anders als Mom, die von den Anstrengungen, ihren neuen Chefs zu imponieren, zu müde war, um sich außerhalb der Arbeit aufzuregen.

Vielleicht war es an der Zeit, das Thema zu wechseln.

„Und Beth, wie war dein Training mit der Band?“, fragte sie.

„Es war peinlich.“

„Früher hat es dir gefallen.“

Beth sah wieder nach vorne zum Fenster hinaus und antwortete nicht.

Jessica runzelte die Stirn. Es tat ihr leid, dass sie sich über Beths Uniform lustig gemacht hatte. Das war eine Angewohnheit aus alten Zeiten. Damals war Beth mit Frotzeleien fertig geworden, ohne in die Luft zu gehen.

Vor zwei Jahren, als sie noch in Chicago lebten, war Beth bei den Majorettes die Beste gewesen. Sie konnte eine Dreifachdrehung werfen und schaffte es, den Stab mit einer Hand hundert Mal in der Minute zu drehen, und aus dem Sommercamp brachte sie immer tonnenweise Schleifen mit. Aber als sie elfeinhalb geworden war, hatte sie die Majorettes für total peinlich erklärt und sich stattdessen sozial engagiert. Seit sie nach Bixby gezogen waren, hatte sie ihre stabschwingenden Trophäen nicht einmal ausgepackt. Jessica war aufgefallen, dass sie die aufgereihten kleinen silbernen Gardemädchen auf ihren Marmorpodesten ebenso vermisste wie die jüngere, glücklichere Beth aus alten Zeiten.

Dass Beth in Bixby keine Freunde fand, hatte offensichtlich ihre Ansichten über Majorettes geändert. Vielleicht war es eine große Sache, wenn man an der Bixby Junior Highschool zur Garde gehörte. Vielleicht wusste sie im Moment auch einfach nicht, was sie sonst tun sollte.

Beth nach zwei Jahren in einem schrillen Kostüm zu sehen war so seltsam, als ob die Zeit heute Morgen total zusammengebrochen wäre und jetzt rückwärts laufen würde.

„Sag mal, wollen wir später zusammen üben?“, fragte Jessica. „Ich glaube, ich darf in den Garten.“ „Aber natürlich“, rief ihr Vater fröhlich.

„Danke, Jess, das wäre reizend.“ Beth drehte sich wieder zu ihr um. „Beim Stabschwingen braucht man nämlich dringend Unterstützung.“

„Schon gut. Wie du willst. Wollte bloß behilflich sein.“

„Und erwachsen. Vergiss erwachsen nicht.“

„Ich sagte: schon gut.“

Beth sah sie weiter an, die Goldlitze an ihrem Kragen blitzte in der Sonne.

„Womit hast du ein Problem?“, fragte Jessica schließlich.

„Was glaubst du, warum Dad mich heute abholen musste?“

Jessica seufzte. „Weil du so hinreißend aussiehst?“

„Nein, Schwachkopf. Ich hätte mich in der Schule umziehen können.“ Sie senkte die Stimme. „Wegen dir.“

Jessica warf einen fragenden Blick auf den Hinterkopf ihres Vaters. Redete Beth über Jonathan? Seit Jess die beiden einander vorgestellt hatte, ging sie davon aus, dass Beth in Sachen Freund auf ihrer Seite war. Jedenfalls hatte sie Mom und Dad nichts über seine nächtlichen Besuche und Jessicas späte Ausflüge erzählt.

„Was meinst du damit, Beth?“

„Wollte bloß, dass du es weißt.“

„Dass ich was weiß?“

„Dass ich, auch wenn du keinen Hausarrest mehr hast, ein Auge auf dich habe.“

Jessica seufzte noch einmal. „Beth, hör auf, dich seltsam zu benehmen. Dad, sag Beth, sie soll aufhören, sich seltsam zu benehmen.“

Don Day schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: „Nun, Jessica, irgendwie verstehe ich, was sie meint. Schließlich habe ich auch ein Auge auf dich.“