leb wohl, bixby
11.13 Uhr morgens
11
„Gestern ist was total Verrücktes passiert.“
Jessica nickte. Sie hatte damit gerechnet, dass ihr Constanza Grayfoot alles darüber erzählen würde. „Ja, hab ich gehört.“
Constanza blieb unvermittelt stehen und ließ die niedereren Sterblichen an sich vorbeiströmen. „Echt? Von wem denn?“
Jessica zuckte mit den Schultern. Diesmal hatte sie schon im Voraus gewusst, was alle Welt erzählen würde. „Ich weiß nicht mehr, wer es mir erzählt hat. War das nicht gestern im Fernsehen? Wie das verschwundene Mädchen gestern Morgen einfach in ihrem Bett wieder aufgetaucht ist, total unversehrt?“
„Ach das. Schnee von gestern, Jess. Hör dir bitte das hier an.
Ich rede über etwas viel Abgefahreneres, was vermutlich einen viel größeren Einfluss auf unser Leben haben wird. Auf mein Leben ganz besonders.“
Jessica blinzelte. „Okay. Und wovon redest du?“
„Mein Großvater hat mich gestern Abend angerufen.“
Kalte, trockene Finger bewegten sich an Jessicas Wirbelsäule abwärts. „Er hat was?“
„Mich angerufen. Und mir unglaubliche Nachrichten über-bracht. Komm, gehen wir zur Lernstunde. Und hoffentlich hast du keine dämlichen Trigonometrieaufgaben, weil ich nämlich jedermanns volle Aufmerksamkeit brauche.“
„Die hast du.“
Auf dem Weg in die Bibliothek bekam Jessica Herzklopfen.
Die bloße Erwähnung von Constanzas Großvater weckte Jessicas volle Aufmerksamkeit.
Opa Grayfoot war wie alle anderen nicht um Mitternacht Geborenen: In der geheimen Stunde erstarrte er. Als Jugendlicher war er jedoch eine Art hyperboshafte Version von Beth gewesen, hatte hinter allen hergeschnüffelt und Bixbys Geheimnisse entdeckt. Er hatte die Darklinge für Gespenster oder altertümliche Geister oder irgendwas ähnlich Unheimliches gehalten und versucht, mit ihnen mittels geheimer mitternächtlicher Rituale zu kommunizieren. Irgendwann hatten die Darklinge geantwortet, indem sie über ein Wesen Nachrichten austauschten, das halb Mensch und halb Darkling war
– einen Übersetzer zwischen beiden Welten.
Jahrelang war seine Familie den Forderungen der Darklinge nachgekommen und dadurch reich und mächtig geworden, aber die Wünsche der Darklinge waren immer grässlicher geworden. Vor fünfzig Jahren war den Grayfoots und ihren Verbündeten befohlen worden, eine ganze Midnightergeneration auszulöschen. Es wäre ihnen fast gelungen: Nur Madeleine war übrig geblieben.
Vor zwei Wochen war der Übersetzer, der diese ganze Sache möglich machte, dem Tode nahe gewesen. Die Grayfoots hatten versucht, Rex zu kidnappen, damit die Darklinge aus ihm einen Nachfolger, einen neuen Halbling, machen konnten.
Die anderen Midnighter hatten Rex aber gerettet, und Anathea – der Halbling – war gestorben, womit die Verbindung des alten Mannes zu seinen Befehlsgebern zerstört wurde. Falls er mit seinen Kumpanen noch immer versuchte, Kontakt zu den Darklingen aufzunehmen, würden sie Nachrichten senden, auf die sie nie eine Antwort erhielten.
„Also, das hier ist unbedingt topsecret. Ich darf euch gar nichts davon erzählen, deshalb muss hier jede Einzelne schwören, keiner Seele etwas davon zu verraten. Wenigstens so lange nicht, bis das alles abgemacht ist.“
„Bis was abgemacht ist?“, fragte Liz.
„Das, was sie uns jetzt erzählen wird“, sagte Maria.
„Mensch.“
„Schwört ihr alle?“
Sie liefen einzeln um den Bibliothekstisch herum, um zu versprechen, dass sie das Geheimnis wahren würden: Jen, Liz, Maria und zum Schluss Jessica. Bis sie an der Reihe war, kam sie mit einem Nicken davon. Sie wusste ziemlich genau, dass sie den anderen Midnightern unbedingt darüber berichten musste, mit oder ohne Versprechen.
„Also gut“, hob Constanza an, als das Ritual vollendet war.
„Ihr wisst doch noch, dass unser Haus von diesen Bekloppten niedergemacht worden ist.“
Alle nickten mit großen Augen. Jessica versuchte, ein unschuldiges Gesicht zu machen. Sie hatte die Auswirkungen miterlebt, als Rex und Melissa auf der Suche nach Beweisen für die Grayfoot-Darkling-Verschwörung damals bei Constanza eingebrochen waren. An den Schäden trugen sie allerdings nicht allein Schuld; wenn eine Horde von Midnightmonstern auftauchte, konnte die ein ziemliches Chaos hinterlassen.
„Und wahrscheinlich erinnert ihr euch, dass mein Großvater darüber ziemlich ausgeflippt ist. Schließlich hatte er es ja schon immer mit Bixby und meinte, dass man da einfach nicht wohnt.“
„Ihr seid doch zu ihm nach Broken Arrow gezogen, nachdem das passiert war, oder?“, fragte Liz.
„Sind wir. Und ich kann dir sagen, ich hatte die Nase gestrichen voll, von da aus zur Schule zu pendeln. Und deshalb … “
Constanza rückte näher, um klarzumachen, dass jetzt der Topsecret-Teil kam, und Jessica riskierte einen vorsichtigen Blick zu Dess hinüber, die in ihrer üblichen Ecke saß. Dess hielt sich ihr Trigonometriebuch als Deckung vor das Gesicht, was bedeutete, dass sie jedes Wort mithörte. Trigonometrieübungen hatte sie ungefähr so nötig wie die Darklinge einen Nachhilfekurs im Angsteinjagen.
„Opa müssen die Tränen gekommen sein, als ich nach Bixby zurückgegangen bin“, fuhr Constanza fort. „Wisst ihr, er hat meinen Dad aus dem Familienunternehmen ausgeschlossen, als er mit meiner Mom vor einer Ewigkeit hierhergezogen ist. Er redet kaum mit ihnen, auch nicht, wenn wir da draußen sind. Jedenfalls hat er mich gestern Abend angerufen, um mich zu überreden, dass ich die Stadt verlasse.“
„Was ist denn an Bixby eigentlich so schlimm?“, fragte Maria.
Constanza zuckte mit den Schultern. „Er erzählt nie, was passiert ist. Er ist hier aufgewachsen, es muss aber was Unheimliches passiert sein, als er ein Teenager war. Ich glaube, die Anglos haben die Familie während des Ölbooms aus der Stadt getrieben, weil wir Native Americans sind und so. Er hat seit knapp fünfzig Jahren keinen Fuß mehr auf den Boden von Bixby gesetzt.“
Außer wenn er über die Grenze der Midnight geschlüpft ist, um seine kleinen Nachrichten zu übermitteln, dachte Jessica.
Dann kam ihr ein entsetzlicher Gedanke.
„Er will, dass du in Broken Arrow lebst?“, fragte Jessica. Sie hatte oft darüber nachgedacht, ob der alte Mann wusste, dass sie und Constanza befreundet waren. Vielleicht hatte er vor, seine Enkelin in die wahren Geschäfte der Familie einzuschleusen – für die Darklinge zu arbeiten.
„Mal im Ernst, Jess. Ich soll in dem spießigen kleinen Broken Arrow leben?“ Constanza schüttelte den Kopf und rümpfte die Nase. „Kommt nicht infrage.“
„Aber wo dann?“, fragte Liz. „In Tulsa?“
„Nein.“ Constanza senkte ihre Stimme noch ein bisschen mehr, und Jessica sah, wie Ms Thomas, die Bibliothekarin, die Ohren aufstellte, um zu lauschen. „Ihr wisst doch, dass ich Schauspielerin werden will?“
Alle nickten, einige tauschten vielsagende Blicke aus. Man brauchte Constanza keine zehn Minuten zu kennen, um von diesen Ambitionen zu wissen.
„Also, mein Großvater hat gesagt, wenn ich gleich damit anfangen will, könnte ich bei ihm wohnen. Weil er in ein paar Wochen mit meinen Vettern nach … hört genau hin … L. A.
ziehen wird!“
„Los Angeles?“, rief Maria.
„Nein, Maria“, antwortete Liz abfällig. „Lower Argentina.
Das ist das neue Los Angeles. Wusstest du das noch nicht?“ Sie wandte sich an Constanza. „Los Angeles? Ich hasse dich. So viel Glück ist unverschämt.“
„Du machst wohl Witze“, sagte Jessica. Ihr Mund war ausgetrocknet.
„Opa hat alles durchorganisiert“, sagte Constanza. „Er hat da schon eine Schule für mich gefunden, und dieser Film-agent, der ein Geschäftsfreund von ihm ist, will mich kennenlernen. Und er sagt, dass ich ein Hypertaschengeld kriegen kann, um Schauspielunterricht und all so was zu bezahlen.“
„Das glaub ich einfach nicht. Ich bring dich um. Aber erst, wenn ich dich besucht habe. Ich kann dich doch besuchen, oder?“
„Und warum geht er jetzt nach L.A.?“, fragte Jessica.
Constanza zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht. Da muss es wohl Ölquellen geben, oder?“
„In Los Angeles?“ Das kam ihr ziemlich unwahrscheinlich vor. Zumal es auch ziemlich unwahrscheinlich erschien, dass sich der alte Mann überhaupt noch mit dem Ölgeschäft befasste. Offensichtlich konzentrierte er sich vielmehr darauf, wie er sich und seine Familie so schnell wie möglich so weit wie möglich von Bixby weglotsen konnte.
„Wen interessiert das, warum er da hingeht, Jess? Solange dabei herauskommt, dass“ – Constanza deutete mit beiden Zeigefingern auf sich selbst – „ich Filmstar werde!“
„Mädels!“, rief Ms Thomas von ihrem Schreibtisch aus.
„Könntet ihr bitte dafür sorgen, dass es bei einem gedämpften Lärm bleibt?“
Jen wandte sich an die Bibliothekarin. „Aber Constanza wird –“
„Pssst!“, zischte Constanza. „Würden wir uns bitte alle an die Topsecret-Sache erinnern?“ Dann wandte sie sich um und rief in normaler Lautstärke: „Entschuldigen Sie bitte, Ms Thomas. Wir werden uns bemühen, leiser zu sein.“ Sie sah Jen wütend an. „Vor allem du.“
„Warte mal“, sagte Jessica. „Warum ist das Ganze ein großes Geheimnis?“
„Also, das könnt ihr glauben oder auch nicht, aber den un-heimlichsten Teil habe ich noch nicht erzählt.“ Sie legte eine Pause ein, wartete, bis alle Augen wieder auf sie gerichtet waren. „Es sieht so aus, als ob diese ganze Umzugskiste mit L.A.
einfach so aus dem Nichts aufgetaucht wäre. Opa hat noch nicht einmal mit meinen Eltern darüber geredet. Andererseits behauptet er, dass es da diesen Agenten gibt, der jetzt gleich genau so jemanden wie mich braucht, für irgendeine neue TV-Serie oder so. Deshalb werde ich Opa da erst mal besuchen, vermutlich für eine Woche oder so. Dann gehe ich zum Casting, und wenn ich die Rolle kriege, komme ich nicht mehr zurück!“
Alle schwiegen eine Weile und ließen Constanzas Worte auf sich wirken. Jessica spürte ihren Puls bis in die Fingerspitzen und sah, wie Dess ihr Buch allmählich sinken ließ, damit sie die anderen Mädchen sehen konnte. Sogar Ms Thomas, die ihr plötzliches Schweigen verwunderte, sah zu ihnen herüber.
Liz melde sich als Erste zu Wort. „Jetzt gleich?“
„Wann denn ungefähr?“, fragte Maria.
Constanza schüttelte den Kopf, ihr Mund war leicht geöffnet, als ob sie es selbst kaum glauben könnte. „Das Casting findet in ein paar Wochen statt, genau dann, wenn Opa mit all meinen Vettern da hinzieht. Er hat gesagt, dass ich vor Ende des Monats da sein muss, oder die ganze Sache platzt. Insofern sind es noch ein paar Wochen, und dann heißt es: Leb wohl, Bixby!“
„Du machst Witze!“, sagte Jen.
„Du hast so ein psychomäßiges Glück!“, sagte Maria.
„Ich wiederhole: Ich hasse dich!“, sagte Jen. „Und um die Abschiedparty kommst du nicht drum rum!“
Jessica sagte nichts. Plötzlich summten die Leuchtstoffröhren in der Bibliothek so laut, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Der alte Mann und seine Familie mit den Umzugsplänen, dieser Agent für Constanza – das alles passierte viel zu schnell, um eine harmlose Erklärung glaubhaft zu machen.
Constanzas letzte Worte klingelten ihr in den Ohren: Leb wohl, Bixby …
Jessica sah zu Dess hinüber, als das Universalgenie ihr Trigonometriebuch in den Schoß fallen ließ und ein paar Blätter herauszog. Sie beugte sich darüber, fing wild an zu kritzeln und füllte Seite um Seite mit Gitternetzen in blauer Tinte.
Eines der Blätter fiel zu Boden …
Jessica kniff die Augen zusammen und erkannte, dass es in sieben Spalten und fünf Zeilen aufgeteilt war, wie ein Wandkalender. Jede Zelle war mit kryptischen Formeln in einer winzigen, fanatischen Handschrift ausgefüllt.
Sie schloss ihre Augen und stellte selbst ein paar einfache Berechnungen an.
Heute war der achte Oktober, und wegen des nervigen Spruchs ihres Vaters fiel ihr sofort ein, dass der Oktober einunddreißig Tage hatte.
In etwas mehr als drei Wochen war der Monat zu Ende.