showtime

8.31 Uhr morgens

2

Sie verfolgte die Vorstellung mit ehrfürchtiger Faszination.

Natürlich hatte Melissa dutzenden dieser Veranstaltungen gezwungenermaßen beigewohnt, aber im Grunde noch keine wirklich gesehen. Gedankenlärm war aus zahllosen Köpfen auf sie eingeströmt, während die alte Melissa hinten mit geballten Fäusten und geschlossenen Augen gekauert und vom Drumherum um Footballgames ungefähr genauso viel mitbekommen hatte wie ein Vogel von Flugzeugdesign, wenn er in den Sog des Düsenpropellers geraten war.

Aber jetzt ließ sie sich von der Meute nicht mehr terrorisieren, und die Gedankenhorden drohten nicht mehr, sie auszulöschen. Wenn sie die Erinnerungen nutzte, Techniken der Midnightergenerationen, die Madeleine an sie weitergeben hatte, dann konnte sie sich über den Sturm erheben, auf seinen Wogen reiten wie in einem Rettungsboot im Meer.

Endlich konnte sie all das schmecken …

Den Auftritt der Mannschaft in Lycra, Testosteron und Prahlerei, die sich mit einem bitteren Nachgeschmack mischten – der Vorahnung, dass sie auch in diesem Jahr jedes einzelne Spiel verlieren würden. Einige Reihen weiter vorn gluck-te der Club der hübschen Mädchen zusammen, umgeben von einem Energiefeld aus Verachtung für all die Niemande um sie herum – wie sehr die Niemande sie im Gegenzug verachteten, bemerkten sie nicht. An den Rändern des Sportplatzes hatten Lehrer mit ihren gelangweilten Gedanken Position bezogen, gierten nach Zigaretten und mehr Kaffee und waren insgeheim erleichtert, dass der erste Unterrichtsblock ausfiel. Die Fünftklässler kampierten auf der untersten Tribüne und behielten die fliegenden Röcke der Cheerleader im Blick, mit geilen Gedanken, die ätzend nach Schweiß schmeckten.

Melissa fand das alles zum Schreien komisch. Warum war ihr diese schlichte Tatsache nie bewusst geworden? Warum hatte ihr das nie jemand gesagt? Die Highschool war keine Feuerprobe und auch kein Martyrium, das man überstehen musste.

Das Ganze war ein einziger Witz. Man musste ihn nur mit der Lachsalvenspur unterlegen.

Durch die Gedanken der Meute hindurch erreichten sie die der anderen Midnighter mit ihren unterschiedlichen Geschmackstypen, die laut und deutlich hervorstachen. Zu dritt saßen sie beieinander – von Melissa so weit weg wie möglich.

Besonders klar fing sie jeden einzelnen kalten Blick von Dess hinter ihrer dunklen Brille auf. Noch immer waren deren Gedanken wegen der Ereignisse vor zehn Tagen von beißendem Hass erfüllt.

Melissa fühlte sich damit auch nicht gut – niemand wusste besser als sie, wie gemein es war, wenn man in die Gedanken eines anderen gegen dessen Willen eindrang. Sie hatte aber keine andere Wahl gehabt. Wenn sie nicht eingedrungen und Dess’ Geheimnisse aufgestöbert hätte, wäre Rex inzwischen als ausgewachsener Darkling flügge geworden, statt …Na ja, statt dem …was auch immer jetzt aus ihm geworden war.

Jonathan und Jessica saßen dicht nebeneinander, hielten sich mit verschlungenen Fingern an den Händen, in ihrer Zweisamkeit von allen anderen isoliert. Natürlich drehten sie sich gelegentlich zu Dess um und wechselten ein paar Worte mit ihr, warfen ihr einen Knochen hin. Jessica hatte mit angesehen, was Melissa mit Dess getan hatte, und fühlte sich beinahe so schlecht, als wäre sie es selbst gewesen. Über ihren Gedanken lag häufig die zähflüssige Schuld der Überlebenden: Wenn ich Melissa doch nur aufgehalten hätte, bla, bla, bla …

Allerdings war Jessicas Entrüstung nicht annähernd so schlimm wie das, was in Jonathans Gedanken lauerte. Seit er Melissa berührt und gespürt hatte, wie es sich anfühlte, wenn man Melissa war, vergiftete ihn ein ranziges Mitgefühl von Kopf bis Fuß.

Womit er sich natürlich lächerlich machte. Melissa zu sein fühlte sich nämlich gar nicht mehr so an.

Es fühlte sich wunderbar an.

„Volltrottel“, flüsterte sie und ließ sich wieder von der singenden Menge tragen.

Loverboy traf fünfzehn Minuten zu spät ein, unbemerkt schlüpfte er an dem Lehrer vorbei, der den Eingang überwachte.

Melissa schmeckte seinen Geist in dem chaotischen Getümmel der Show. Trotz aller Verwirrung, die er jetzt mit sich trug, kamen Rex’ Gedanken noch immer auf ihrem eigenen speziellen Kanal bei ihr an, sogar deutlicher als die der anderen Midnighter. Sie wusste sofort, dass ihm in den leeren Fluren der Schule etwas Außergewöhnliches widerfahren war.

Sein Verstand war wach und aufgewühlt, genau wie wenn sie sich geküsst hatten.

Was immer ihm auch passiert sein mochte, es hatte ihn auch verstört. Melissa spürte, wie er ängstlich die Menge absuchte und sich erst entspannte, als er sie ganz oben auf der Tribüne an der Tür entdeckt hatte. Mit weichen, mühelosen Schritten kam er auf sie zu, gleitend wie eine Katze auf dem Dachfirst.

Melissa lächelte. Rex mit seiner neuen katzenhaften Grazie zu beobachten gehörte zu ihren höchsten Genüssen.

„Hast du, was du wolltest?“, fragte sie, als er sich neben ihr niederließ.

„Ach so, mein Englischbuch.“ Er schüttelte den Kopf. „Hab ich ehrlich gesagt total vergessen. Hatte unterwegs Ärger.“

„Hm. So was Ähnliches hatte ich mir schon gedacht.“ Jetzt schmeckte sie es deutlicher: Unter seiner Erregung blubberte Rex’ Darklinggeschmack, den er jetzt manchmal an sich hatte

– saure Zitrone von einem jungen Räuber, der Beute wittert.

„Gefressen hast du aber keinen, oder?“

„Nicht ganz. War aber ziemlich dicht dran.“ Er hielt ihr seine offene Handfläche hin. „Willst du’s sehen?“ Seine Augen blitzten.

„Unbedingt, Loverboy.“ Sie lächelte und legte ihre Hand in seine.

Der Darklinggeschmack wurde intensiver, kroch scharf und elektrisierend durch sie hindurch, als ob sie eine alte Batterie küssen würde, die noch nicht ganz entladen war. Der eindringliche Geschmack blendete die langweiligen Aromen der Sportshow aus.

Sie spürte Rex’ neues Räuberbewusstsein, seine Sorge, er könne die Kontrolle verlieren, das Surren seiner wilden Transformation, das allmählich abebbte. Jemand hatte ihn bedroht, erkannte sie, hatte es gewagt, sich an ihn heranzumachen.

Vollidiot.

Und da war noch etwas … ein unerwartetes Bündel von Erinnerungen, das sich über Rex’ schwirrenden Gedanken hielt.

Nach Darkling schmeckte es nicht, sondern ängstlich und nach Mensch.

Melissa entzog ihm ihre Hand, betrachtete die Linien in ihrer Hand und versuchte, die seltsamen Bilder zu enträtseln: eine Klapperschlange, die ein Vater in einem Hinterhof in zwei Teile hieb, ihr Maul, wie es in Todeszuckungen schnappte. Die beiden Schlangenhälften, die sich zu beiden Seiten des Spatens, der sie geteilt hatte, eine halbe Stunde lang wanden, als ob sie sich wieder verbinden wollten, um Rache zu üben.

Melissa blinzelte. „Jemand hat Angst vor Schlangen?“

„Timmy Hudson.“ Rex grinste und entblößte zu viele Zähne. „Hat große Angst.“

Sie schüttelte den Kopf. „Na und?“

Rex sah zu den Cheerleadern hinunter, die zu einer wackligen Pyramide aufeinanderkletterten. Mit gläsernem Blick starrte er mitten durch sie hindurch auf ein neues Gemisch aus Midnighterlehre und eingepflanzten altertümlichen Erinnerungen.

„Du weißt doch, dass sich die Darklinge unsere Albträume zu eigen machen, um sie gegen uns zu verwenden.“

„Natürlich weiß ich das, Rex.“ Jede Nacht schmeckte Melissa die alten Geister draußen in der Wüste. Und sie hatte selbst mit angesehen, wie sie sich in allerlei grässliche und gemeine Kreaturen verwandelten – Würmer, Spinnen, Schnecken. „Bei dir fahren sie immer die Tour mit den Taranteln.“

„Genau, Taranteln.“ Er nickte gedankenverloren. „Timmy Hudson hat mich geärgert. Und er hat Angst vor Schlangen, wie sich herausgestellt hat. Schon seit er klein war. Sein Dad hat im Hinterhof eine Klapperschlange zerschlagen und Klein-Timmy dann geholt, damit der sich das Ergebnis ansieht. Also bin ich ein bisschen … schlangenartig geworden.“

Er sah sie an und ließ seine Zunge für den Bruchteil einer Sekunde hervorschnellen. Dann grinste er.

Melissa fiel auf, das Rex’ aufgesprungene Unterlippe sich geteilt hatte, sein Kinn war etwas rot von abgewischtem Blut.

Sie berührte es und spürte, wie die Spannung in seinem Kiefer nachließ. „Okay, Loverboy. Aber woher wusstest du das? Das mit Timmy? Ihr wart doch nie dicke Freunde?“

Rex schüttelte seinen Kopf. „Ich wusste es einfach.“

„Aber wie, Rex? Ich bin doch hier die Gedankenleserin, oder? Wie kommst du an die Albträume von anderen Leuten?“

Er wandte sich wieder ab, um die Festivitäten auf dem Sportfeld mit leerem Blick anzustarren. Seine Gedanken strahlten gelassene Sicherheit aus, in einer Intensität, wie sie Melissa noch nie an ihm wahrgenommen hatte, zumindest nicht in den Daylightstunden. Aber seine Stärke hatte einen Beigeschmack. Unsicherheit durchzuckte sie, bitter wie der Bodensatz von Madeleines Tee. Rex fühlte sich wie der junge Truckfahrer an, den Melissa einmal auf dem Highway geschmeckt hatte. Zum ersten Mal allein in der Kabine hatte ihn die Überdosis Stärke berauscht, trotzdem war er so nervös, dass sein Sattelschlepper von der Fahrbahn abzukommen drohte.

Schließlich antwortete er. „So machen es die Darklinge.“

Die Show ging endlos weiter. Es gab Ankündigungen von Kuchentheken und Autowaschaktionen und Schultheatervorstellungen. Fahnen wurden geschwenkt. Die Mitglieder des Schachclubs bekamen ein paar Sekunden Applaus, weil sie im vergangenen Jahr den Bezirkswettbewerb gewonnen hatten –

man hätte tatsächlich glauben können, Cleverness würde sich auszahlen. Und ganz allmählich ließ der Showeffekt nach. Sogar auf den Gesichtern der Cheerleader machte sich die Langeweile breit, die Pompoms baumelten schlaff von ihren Armen.

Dann kam endlich der Teil, bei dem alle zusammen grölten.

„Schlagt North Tulsa! Schlagt North Tulsa!“, hob der zwergenhafte Chorleiter an. Er trat vom Mikrofon zurück, hob seine winzige Faust im Rhythmus mit den Worten. Allmählich schwoll der Chor an, lauter und lauter, bis die Sporthalle unter dem Schall erzitterte.

Dies war das Ritual, mit dem der „Geist“ der ganzen Schule auf das Footballteam eingeschworen werden sollte, um aus dem Haufen siebzehnjähriger Jungs die Champions der Bixby Highschool zu machen.

Komischerweise war das Konzept gar nicht so blödsinnig.

Das sah man den Gesichtern des Teams an, wenn sie zuhörten: Sie ließen sich davon beeinflussen, als ob eine Menschenmenge tatsächlich ihre Kraft an ein paar pickelgesichtige Jungs weitergeben könnte. Melissa fragte sich, ob der Erfinder des Begleitrummels für Schulsportveranstaltungen vielleicht eine Ahnung vom Gedankenlesen gehabt hatte.

Dieser Teil der Show hatte Melissa in der Vergangenheit mit Entsetzen erfüllt – wenn die versammelten Geister ihre Energie im Chor vereinten, wenn jeder vereinzelte Gedanke von den animalischen Befehlen der Meute weggeschwemmt wurde: Bleibt bei der Herde. In der Menge seid ihr sicher. Tötet den Feind. Schlagt North Tulsa.

Sie ließ ihren Blick über die Fäuste schweifen, die sich im Rhythmus hoben und senkten, spürte die stampfenden Füße, unter denen die Tribünen bebten. Der Gruppe der hübschen Mädchen war ihr Kraftfeld abhandengekommen, sie hatten sich in der Menge aufgelöst. Die Jungs aus der Fünften in der ersten Reihe hatten den Ernst der Lage inzwischen erkannt und schielten nicht mehr nach den Cheerleader-Röcken. Sogar Jessica Day und Flyboy hatten sich angeschlossen und versuchten halbherzig mitzumachen – die Macht der Meute hatte sie im Griff.

Nervös atmete Melissa ein paar Mal tief durch. Diese Show war ein Witz, redete sie sich zu. Die Meute wusste nicht, was sie tat, und von all den Geistern in dieser Sporthalle konnte sich kein einziger mit ihren Kräften messen. Nur weil sie ein bedeutungsloses Footballspiel gefunden hatten, um sich auszutoben, wurden sie nicht stärker als sie.

Allmählich beruhigte sie sich.

Dann fiel Melissa auf, dass Rex Witterung aufnahm. Seine Augenlider zuckten, seine Nasenflügel bebten.

Der Chor flößte auch ihm Angst ein.

„Das ist wie eine Jagd“, zischte er. „So haben sie sich in den alten Zeiten bereit gemacht.“

Melissa berührte Rex’ Hand und spürte die Menge einen entsetzlichen Moment lang so wie er. Kleine Menschenwesen, zart und schwach – aber so viele von ihnen. Rituale wie dieses waren es gewesen, mit deren Hilfe sie die Furcht vor den Darklingen besiegt hatten. Und eines Tages hatten sie begonnen, ihre Räuber selbst zu jagen, Menschenrudel, die sich mit Feuer und ihren scharfen, cleveren Steinen bewaffnet hatten.

Am Ende hatte eine Gruppe von ihnen Erfolg gehabt und einen jungen Darkling erlegt, der sich selbst für unverwundbar gehalten hatte. Und ein Teil der Furcht, auf die sich die Herrenrasse stets verlassen hatte, war für immer verloren. Die ältesten Geister erinnerten sich noch immer an den Moment, als sich das Gleichgewicht zu verlagern begann. Menschen waren allmählich sicherer geworden, hatten die Bilder ihrer Tötungen auf Steine und in den Schlamm gemalt, die ersten verhassten Zeichen ihrer Herrschaft.

Melissa zog ihre Hand weg, auf der die Erinnerung brannte.

Vielleicht war diese Show doch kein Witz. Schließlich ging es an der Highschool ständig um die ältesten menschlichen Bande – die Stämme, das Rudel, die Jagdgesellschaft.

Rex’ Hände zuckten. Er kämpfte mit dem Teil in ihm, dem er zu entkommen versuchte.

„Sollen wir gehen?“, flüsterte sie.

Er schüttelte grimmig den Kopf. „Nein. Das hier ist wichtig.

Muss lernen, mich zu beherrschen.“

Melissa seufzte. Manchmal war Rex ein Schwachkopf.

Sie dachte oft an eine Zeile, die sie an einer Toilettenwand gelesen hatte: Was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker. Während Melissa zusah, wie sich auf Rex’ Oberlippe Schweißtropfen sammelten, dachte sie, dass er den gleichen Fehler beging wie der Typ mit dem Toilettenspruch.

Nicht alles machte einen stärker. Man konnte auch überleben, aber von den Ereignissen verkrüppelt. Manchmal war es in Ordnung, wegzurennen, die Prüfung zu schwänzen, feige zu sein. Oder sich wenigstens ein bisschen Hilfe zu holen.

Sie nahm ihn fest bei der Hand, ließ nicht zu, dass er sich ihr entzog, und suchte in sich selbst nach einem Ort, den Madeleine ihr gezeigt hatte, einem alten Trick der Gedankenleser, um sich abzusetzen. Melissa schloss die Augen und drang in Rex ein, schob den Chor der Meute sanft aus seinen Gedanken.

Sie spürte, wie er entspannte, wie seine Angst vor der Menge – und vor dem Tier in ihm – verschwand.

„Uff“, sagte er leise. „Danke, Cowgirl.“

„Wann immer du willst, Loverboy.“

„Okay. Wie wär’s heute Nacht?“

Sie schlug die Augen auf. „Was?“

„Vielleicht können wir später …“ Rex’ Stimme verstummte, plötzlich verstärkte sich sein Griff. „Da kommt was.“

„Wie meinst du …?“, hob sie an, aber dann spürte sie es auch und schloss die Augen sofort wieder.

Ein Geschmack kam über die Wüste auf sie zugedonnert, weit und uralt und bitter, überschlug sich wie eine tosende Welle. Je näher er kam, desto stärker wurde er, wie eine Lawine, die immer mehr Schnee vom Berg mitnahm und alles unter sich begrub.

Dann war er da, fuhr durch die Sporthalle und fegte alle kleinlichen Energien der Footballshow fort, löschte den Gedankenlärm von Bixby aus, der von den Wänden triefte. Er saugte alles auf. Nur Melissas Verbindung zu Rex blieb bestehen, sein Schock und seine Unruhe hallten in ihr wider wie das Echo eines Gewehrfeuers.

Sie schlug die Augen auf und sah, was geschehen war. Das blaue Licht, die reglosen Körper, ein Cheerleader-Mädchen mitten im Sprung in der Luft erstarrt. Die ganze Welt war erfasst von …

Stille.

Melissa sah erstaunt auf ihre Uhr. Es war erst kurz nach neun Uhr morgens.

Die blaue Zeit war trotzdem da.