blauer montag

9.03 Uhr morgens

3

Mitternachtsschwerelosigkeit floss in Jessica hinein.

Sie umklammerte Jonathans Hand fester. „Was soll denn

…?“ Ihre Stimme verhallte in der plötzlichen und überwältigenden Stille, ihr Herz pochte, als ihre Augen über die erstarrte Eröffnungsfeier schweiften.

Alles war blau.

Die glänzenden Lycratrikots des Footballteams, das Stadtwappen von Bixby in der Mitte des Basketballfeldes, die reglosen Tentakel der hochgeschwenkten Pompoms – alles hatte die Farbe der Midnight angenommen. Und alles war vollkommen still.

„Jonathan?“ Jessica sah zu seinem Gesicht auf, in der Hoffnung, dort einen Schimmer von Verstehen zu entdecken. Vielleicht war all das schon einmal in Bixby passiert, ein verrückter Schluckauf der blauen Zeit, und Rex hatte einfach nur vergessen, ihr davon zu erzählen.

Jonathan antwortete nicht. Seine Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.

„Da ist was durcheinander“, bestätigte Dess mit ruhiger Stimme.

Jessica klammerte sich am Rand der Tribünenbank fest, auf der sie saß, um die raue Wirklichkeit des Holzes zu spüren.

Das hier war kein Traum – das war die blaue Zeit.

Ihre Augen entdeckten Bewegung am anderen Ende der Sporthalle. Rex und Melissa erhoben sich langsam, unter all den erstarrten menschlichen Gestalten sahen sie seltsam isoliert aus.

Plötzlich aus seiner Erstarrung erwacht, stieß Jonathan einen Schrei aus und sprang auf. Jessica klammerte sich instinktiv an seine Hand, und als er vom Boden abhob, zog er sie sanft hinter sich her in die Luft – beide waren federleicht.

„Jonathan!“

„Was ist denn los?“ Seine Stimme verhallte, als sie von der Mitternachtsschwerelosigkeit unweigerlich hoch über die Menge getragen wurden, wo sie wie zwei Ballons an einer Leine umeinanderkreisten. „Ist das wirklich …?“

„Ja, das passiert wirklich“, stieß Jessica hervor und packte seine Hand noch fester. Der Boden sah aus, als ob er meilenweit unter ihnen liegen würde, und plötzlich sah sie ein Bild aus dem Sportunterricht vor Augen: Sie hing beim Klettern oben an einem dicken Seil mit Knoten und blickte nach unten, angsterfüllt, weil sie runterfallen könnte.

Als sie die Spitze ihres Fluges erreicht hatten und wieder zu sinken begannen, setzten die Reflexe nach zahllosen gemeinsamen Flugstunden ein. Jonathan steuerte ihrer Drehbewegung entgegen, und als sie wieder auf dem Boden der Sporthalle landeten, direkt auf dem Stadtwappen von Bixby, als ob sie es geplant hätten – beugte Jessica die Knie, um sanft zu landen.

Sie sah wieder zu den Tribünen auf und schluckte. Die reglose Menge starrte direkt auf sie und Jonathan. Das erinnerte Jessica an jenen wiederkehrenden Albtraum, den sie am wenigsten ertrug: Sie spielte in einem Stück, das sie nicht geprobt hatte, und das reglose Publikum wartete auf ihren ersten Satz.

Es war niederschmetternd, so viele Leute zu sehen, die von der Midnight erfasst worden waren. Ihre Gesichter waren wächsern und blass, ihre Augen leblos, sie sahen aus wie eine Armee Plastikpuppen. „So viele Starre hab ich noch nie gesehen.“ Melissas leise Worte wurden über den Sportplatz getragen, wie ein Echo von Jessicas Gedanken.

„Raus, schnell!“, rief Rex. Er rannte an der Tribüne entlang, über die erstarrten Körper setzte er wie über Hürden hinweg.

Dess und Melissa folgten ihm auf das Tor zum Parkplatz zu.

Jessica sah Jonathan an, der mit den Schultern zuckte. „Ich seh lieber nach, wie es am Himmel aussieht“, sagte er.

„Ach ja, stimmt.“ Wenn Midnight war, würde der dunkle Mond dort oben stehen, der die Welt in sein kaltes, blaues Licht tauchte.

Es war aber nicht Midnight. Es war Saisonstart am Montagmorgen, und viel weiter konnte man von der Magie der blauen Zeit kaum entfernt sein.

„Komm mit“, sagte Jonathan und beugte seine Knie.

Sie sprangen gemeinsam ab, erreichten mit einem Satz den Ausgang, wo sie gleichzeitig mit Rex eintrafen. Die drei stürzten gemeinsam auf den Parkplatz, die Augen zum Himmel aufwärtsgewandt.

Hinter ein paar erstarrten Wolkenfetzen stand der volle Mond hoch am Himmel. Anscheinend saß er genau in der Mitte und bedeckte mit seinem gewaltigen Umfang den ganzen Himmel bis auf einen schmalen Spalt am Horizont. Die Sonne war hinter ihm verborgen. Einige wenige weiße Sterne schimmerten an den Rändern, ein gedämpftes Leuchten, als ob sie der riesige Mond mit seinem Gewicht zur Erde niederdrücken würde.

Plötzlich spürte Jessica das Bedürfnis nach festem Boden unter den Füßen. Sie ließ ihre Finger aus Jonathans Hand gleiten, worauf sich die normale Schwerkraft auf sie herabsenkte. Von dem eigenartig abweisenden Licht des Mondes wurde ihr schwindelig, sie senkte den Blick zu Boden auf den Asphalt.

Die rissige Oberfläche leuchtete gespenstisch blau.

Dess und Melissa stürzten durch das Tor und kamen taumelnd zum Stehen, die Blicke aufwärtsgerichtet.

„Das hier kann nicht sein“, murmelte Rex.

„Stimmt“, sagte Dess, die ihre eigene blaue Hand betrachtete. „Aber irgendwie … ist es so.“

Eine ganze Weile standen sie alle schweigend da. Jonathan federte nervös am Boden und hob ein paar Zentimeter ab.

Jessica sah auf ihre Uhr. Die Zahlen blinkten noch: 9.05 Uhr vormittags. Genau wie in der normalen Midnight hielt ihr Flammenbringertalent die Uhr in Betrieb.

Wie lange hatte es bis jetzt gedauert? Zwei Minuten?

„Der Mond bewegt sich nicht“, sagte Rex.

„Er tut was nicht?“, fragte Dess.

Seine Augen sahen gebannt nach oben und blitzten violett.

„Er hängt da oben fest, mitten auf seiner Bahn.“

„Woher weißt du das?“, fragte Jessica, die zu dem riesigen, unheilvollen Auge über ihnen aufsah. Der dunkle Mond überquerte den Himmel viel schneller als die Sonne. Er brauchte nur eine Stunde, um auf- und wieder unterzugehen, aber dennoch war es, als ob man einen Minutenzeiger auf einer Uhr im Auge behalten wollte. „Eigentlich ist er doch zu langsam, um das zu erkennen, oder?“

„Für dich vielleicht.“ Er lächelte. „Ich bin aber ein Seher, wie du weißt.“

„Ach so, ja.“ Jessica sah Jonathan an, der mit einem Schulterzucken antwortete. Zurzeit konnte man leicht vergessen, dass Rex über ein besonderes Sehvermögen und tiefe Erkenntnisse aus der Lehre verfügte. Nach der Verwandlung draußen in der Wüste war er irgendwie … anders. Seit Kurzem war sein Blick so irre und wild, dass er mehr stoned als weise aussah.

„Der Mond ist also nicht aufgegangen?“, fragte Dess. „Er ist einfach so aus dem Nichts aufgetaucht?“

„Oder er ist richtig schnell aufgegangen.“ Rex sah auf seine eigene Uhr. Mechanische Uhren funktionierten in der blauen Stunde am Handgelenk eines Midnighters. „Wir sind in weniger als drei Minuten hier rausgekommen.“

„Warum ist das so eine große Sache, was der Mond macht?“, fragte Jessica gelassen. „Das hier ist doch sowieso alles total durchgeknallt.“

„Der Mond macht die geheime Stunde, soweit wir wissen.“

Stirnrunzelnd starrte Rex zum Himmel. „Wenn er sich nicht bewegt, kann man unmöglich sagen, wie lange das hier dauern wird.“

„Ach so.“ Jessica sah Jonathan nach, der auf einen Schulbus gesprungen war, um sich umzusehen. „Na ja, vielleicht …“

„Bringen wir die Sache auf den Punkt, Rex“, sagte Dess.

„Rechnen wir ein bisschen: Null Geschwindigkeit mal irgendeine Zeit ergibt null Bewegung. Was ist, wenn der Mond einfach da oben festsitzt?“

„Festsitzt?“, wiederholte Jessica. „Du meinst für immer?“

„Für immer habe ich nicht gesagt.“ Rex senkte den Blick.

„Das wäre … verrückt.“

„Diese ganze Sache ist verrückt, Rex!“, rief Dess. „Es ist nicht Mitternacht. Vielleicht in Australien oder sonst irgendwo, aber nicht hier. Trotzdem ist es blau.

„Genau, was passiert hier, Rex?“, fragte Jonathan, der geschmeidig zur Gruppe zurückfederte.

Rex hob die Hände. „Nun, davon steht nichts in der Lehre.“

Seine Stimme blieb ruhig. „Ich weiß also nicht, warum ihr mich danach fragt.“

Vorerst sagte niemand etwas, seine Worte hatten sie verblüfft. Jessica fiel auf, dass ihr Mund offen stand. Das tat man schließlich immer, wenn seltsame Dinge geschahen: Man fragte Rex, was los war.

Mit kühlen Seheraugen erwiderte er ihre Blicke, dann lächelte er, ein Punkt für ihn. „Okay, jetzt beruhigt euch alle erst mal und macht Melissa Platz im Kopf.“ Er wandte sich an die Gedankenleserin. „Kannst du Madeleine spüren?“

„Nein, sie bleibt in ihrem Versteck. Ich wette aber, dass sie genauso entsetzt ist wie wir alle.“

„Wie steht’s mit den Darklingen? Sind sie wach?“

Melissa stand eine Weile schweigend da. Mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf ließ sie ihren Geist über die Wüste schweifen.

Jessica sah einen nach dem anderen an. Sie waren schon eine Weile nicht mehr alle fünf zusammen gewesen. Vermutlich seit jener Nacht in der Salzebene, als alles aus dem Ruder gelaufen war – Rex gekidnapped, Melissa durch die Windschutzscheibe geflogen, und Dess …

Dess hatte es anscheinend am schlimmsten erwischt. Sie aß seit Neustem mittags mit Jessica oder Jonathan – niemals mit Rex und Melissa. Sie hatte der Gedankenleserin nicht verziehen, dass sie in jener Nacht ihre Gedanken geplündert hatte.

Jessica machte ihr allerdings keinen Vorwurf daraus. Rex auch nicht, der wegen seiner Verwandlung in einen Halbling ausgeflippt war. Und an den Narben in Melissas Gesicht sah man immer noch rosa Stiche.

Alle schienen jedoch vergessen zu haben, dass Anathea, die junge Seherin, die in den alten Zeiten in einen Halbling verwandelt worden war, in jener Nacht gestorben war. Und das war viel schlimmer als das, was mit ihnen allen passiert war.

Manchmal, wenn Jessica beobachtete, wie die anderen Midnighter miteinander umgingen, kam sie sich vor, als ob sie ein T-Shirt anhätte, auf dem in Druckbuchstaben stand: VERGISS

ES.

„Doch, sie sind wach“, sagte Melissa bedächtig. „Mich wundert, dass ihr sie nicht alle hören könnt.“

„Hören?“ Rex warf einen Blick über seine Schulter in Richtung Badlands. „Meinst du damit, sie kommen hierher?“

Jessica griff in ihre Tasche, auf der Suche nach Desintegrator, fand aber nichts. Nie hätte sie gedacht, dass sie tagsüber eine Taschenlampe brauchen könnte. Sie hatte nur Acariciandote, das Armband, das Jonathan ihr geschenkt hatte. Sie griff danach und berührte die dreizehn kleinen Glücksbringer, die an ihrem Handgelenk baumelten.

Melissa schüttelte den Kopf. „Sie kommen nicht, bewegen sich kaum. Sind einfach so laut.“ Sie krümmte sich, ihr Gesicht nahm den gequälten Ausdruck an, den es immer bekam, wenn zu viele Leute um sie herum waren.

„Melissa“, fragte Rex, „was meinst du mit ,laut‘?“

„Damit meine ich, dass sie schreien, jaulen, Rabatz machen.“ „Als ob sie Angst hätten?“

Melissa schüttelte den Kopf. „Nein. Als ob sie feiern würden.“

Auf Jessicas Uhr war es 9.17 Uhr, obwohl es schien, als hätte die blaue Zeit vor Stunden begonnen. Die Minuten schienen sich hinzuschleppen, als ob aus Zeit an sich etwas Formloses, Humpelndes geworden wäre.

Wie konnte sie eigentlich sicher sein, dass ihre Uhr richtig ging? Es kam ihr so vor, als ob sie seit Stunden hier draußen auf dem Parkplatz stehen würden.

„Geh da runter!“, brüllte Rex.

Jessica sah auf und seufzte. Jonathan stand immer noch auf dem Dach der Schule.

„Ich dachte, du hättest gesagt, dass das hier ewig dauern könnte“, rief er nach unten.

„Genau, oder jede Sekunde aufhören!“

„Nee, Midnight gibt’s immer nur in Stundenetappen, Rex.

Das weißt du.“ Jonathan lachte und begab sich mit einem eleganten Satz auf das Dach der Sporthalle. Von da aus ließ er den Blick über den Horizont schweifen, als ob die Skyline von Bixby verraten würde, was vor sich ging.

Jessica sah, wie hoch er war, und schluckte. Sie wusste aber, dass es keinen Zweck hatte, Jonathan anzubrüllen. Er flog immer bis zur letzten Sekunde der Midnight, nutzte jede Sekunde Schwerelosigkeit aus. Er hatte nicht lange dazu gebraucht, um sich einzureden, dass diese unerwartete blaue Zeit mindestens eine ganze Stunde lang dauern würde. Für Jonathan gab es hier kein entsetzliches Mysterium zu enträtseln – für ihn war das eine doppelte Portion Nachtisch, eine Zusatzerholung, eine Pause, die den ansonsten beschissenen Montag verschönte.

Jessica hätte ihm gern zugerufen, er solle aufhören, sich dämlich anzustellen. Aber wenn sie sich vor allen anderen auf Rex’ Seite stellen würde, konnte es passieren, dass Jonathan bis zum Untergang der Welt dort oben blieb.

Natürlich nur, wenn die nicht schon untergegangen war.

„Komm schon, Jonathan“, rief Melissa zu ihm hinauf. „Da gibt’s nichts zu sehen, und du könntest dich ernsthaft verletzen.“

Jonathan sah sie böse an, stieg aber kurz darauf vom Dach und segelte nach unten.

Jessica sah aus dem Augenwinkel zu Melissa hinüber. Die Gedankenleserin hatte sich richtig besorgt angehört, und Jonathan hatte auch noch auf sie gehört. Das waren eindeutig zu viele seltsame Ereignisse für einen einzelnen Montagmorgen.

Aber Jonathan war wenigstens wieder sicher am Boden. Sie lief über den Parkplatz und hielt ihn an seiner Jacke fest.

„Tut mir leid“, sagte er, als er ihr Gesicht sah. „Kam mir aber wie Verschwendung vor, einfach nur rumzustehen.“

„Du hättest tot sein können.“

„Aber was ist, wenn das hier wirklich lange dauert?“, murrte er. „Oder für immer.“

Sie nahm ihn bei der Hand, die Midnighterschwerelosigkeit besserte ihre Laune jedoch nicht. Das wäre, als ob die Welt an einem Montag untergehen würde, genau an diesem Montag, dem Tag, an dem ihr Hausarrest theoretisch zu Ende war.

Natürlich nur theoretisch. Heute Morgen hatte es eine heftige Debatte gegeben, an welchem Tag genau ein Monat vergangen war, nach der Nacht, in der sie von der Polizei nach Hause gebracht worden war: heute oder morgen. Sie hatte schließlich aufgegeben zu widersprechen. Schließlich würde es auch nicht ewig dauern, wenn sie am Dienstag in die Freiheit entlassen wurde.

Jetzt möglicherweise doch.

Während sie unter dem dunklen Mond stand, leuchtete ihr absolut ein, warum die Zeit stehengeblieben war: Die Darklinge hatten entschieden, dass Jessica Day für immer Hausarrest haben sollte. Das hatte sie davon, dass sie als Flammenbringer zur Welt gekommen war.

„Seht mal! Da ist Sanchez“, rief Dess plötzlich. Sie deutete auf einen Starren direkt am Eingang zur Sporthalle. Der reglose Mr Sanchez kauerte dicht an der Wand, außer Sichtweite für jeden, der durch die Tür trat, und aus seinem Mund wehte eine erstarrte Rauchfahne.

Jonathan entzog Jessica seine Hand und hüpfte über den Parkplatz. „Oh Mann – der raucht heimlich eine Zigarette. Ich wusste gar nicht, dass er raucht!“

„Ja ja, Mr Sanchez“, sagte Dess. „Jetzt ist Ihr Geheimnis endlich gelüftet.“ Sie trat in die Rauchwolke und wedelte sie lachend fort. Vom Bann des dunklen Mondes befreit, stieg der Rauch langsam in der reglosen Luft nach oben.

„Geht von ihm weg, ihr beiden“, rief Rex. „Bleibt nicht da stehen, wo er euch sehen kann. Was ist, wenn die Zeit wieder weitergeht?“

Jonathan trat aus Sanchez’ Blickfeld, aber Dess blieb einfach kichernd, wo sie war. Rex seufzte.

Beim Anblick des erstarrten Lehrers lief Jessica ein Schauer über den Rücken. Wenn die Zeit weiterlief, standen die Chancen gut, dass sie hier erwischt und bestraft wurden, weil sie die Eröffnungsfeier schwänzten. Dann, wie bei den Jahreszeiten, würde der mächtige Kreislauf des Hausarrestes von vorn anfangen …

„Vielleicht sollten wir drinnen warten?“, fragte sie leise.

„Habt ihr dadrinnen mit jemandem geredet?“, fragte Rex.

„Oder war hinter euch jemand, der merken könnte, dass ihr verschwunden seid?“

„Nein“, antwortete Jessica. „Wir saßen in der letzten Reihe, genau wie ihr.“

„Wo ist dann das Problem?“

„Na ja, du weißt schon“, sagte Jessica. „Wenn die Zeit wieder weiterläuft, wollen wir doch nicht wegen Schwänzen bestraft werden.“

Rex sah sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. „Zum ersten Mal bleibt die Zeit am helllichten Tag stehen, und du machst dir Sorgen, weil du eine Eröffnungsfeier schwänzt?“

„Äh, na ja …“

„He, vielleicht ist das hier wie bei einer Sonnenfinsternis!“, rief Dess über den Parkplatz.

„Wie meinst du das?“, fragte Jonathan.

Dess starrte Mr Sanchez an, während sie weitersprach, als ob sie der gehetzte Blick ihres Trigonometrielehrers inspirieren würde. „Eine Sonnenfinsternis sieht schließlich wie ein bisschen Nacht mitten am Tag aus. Eigentlich ist nicht Nacht, sondern der Mond hat sich vor die Sonne geschoben.“

„Und vor langer Zeit“, fügte Rex hinzu, „sind die Leute bei einer Sonnenfinsternis durchgedreht, als ob die Welt untergehen würde.“

„Genau. Dabei ist das gar keine große Sache, nur ein totaler Zufall – zwei Dinge, die zusammenfallen. Dauert auch gar nicht so lange.“ Dess lief über den Parkplatz, als sie das sagte, Jonathan federte an ihrer Seite. „Der Trick ist, deshalb keine Herzattacke zu kriegen.“

„Kann man von einer Sonnenfinsternis nicht blind werden?“, fragte Jonathan.

„Doch, das stimmt.“ Dess sah zu dem dunklen Mond hoch.

„Wenn du blöd genug bist, zu lange in die Sonne zu glotzen.“

Rex überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. „Eine Sonnenfinsternis kann man doch Jahre im Voraus berechnen, oder?“

„Jahrhunderte, Rex“, antwortete Dess und verdrehte die Augen, als ob die Berechnung einer Sonnenfinsternis zu den Dingen gehören würde, die sie nebenbei in der Bibliothek erledigte. (Was, wie Jessica vermutete, wohl auch so war.)

„Jahrtausende sogar. Du musst nur richtig rechnen, dann passieren sie genau nach Plan.“

„Und wo ist dann der Plan?“, fragte Rex. „Ich sag’s noch einmal: In der Lehre wird nirgendwo etwas Derartiges erwähnt.“

„Die Lehre ist nicht vollkommen, Rex“, sagte Jonathan und federte einen knappen Meter in die Luft. „Man kann nicht alles nachsehen. Ich dachte, das hättest du inzwischen kapiert.“

Jessica wartete auf einen Ausbruch. Rex konnte man mit solchen Worten provozieren. Und eine heftige Auseinandersetzung war genau das, was jetzt noch fehlte.

Aber Rex nickte nur und kratzte sich am Kinn. „Stimmt, da könntest du recht haben. Vielleicht ist das einfach nur eine Sonnenfinsternis oder so ähnlich. Total zufällig.“ Er sah zum Himmel hoch und blinzelte, wobei seine Augen purpurfarben aufblitzten.

Jessica wagte einen kurzen Blick auf den dunklen Mond, wovon sie wie üblich Kopfschmerzen bekam. Soweit sie sehen konnte, hatte er sich keinen Zentimeter oder Millimeter von der Stelle gerührt. Bei einer Sonnenfinsternis wanderte der normale Mond doch einfach weiter, oder nicht?

„Also, die Darklinge müssen jedenfalls gewusst haben, dass das hier passiert.“ Melissa meldete sich zu Wort. „Jedenfalls wussten sie irgendwas. Sie feiern immer noch, als wär’s der vierzehnte Juli.“

„Ich schätze, in dem Fall wissen sie Bescheid“, sagte Dess leise.

Jonathan stieß sich sanft ab und erhob sich ein paar Meter in die Luft, um in die Wüste hinauszusehen. „Sag mal, Rex, könnte es sein, dass sie das gemacht haben?“

„Die Darklinge? Vielleicht.“

„Es war aber doch helllichter Tag, als es passiert ist, Rex“, wandte Jessica ein. „Wie konnten die Darklinge da irgendwas tun? Die sind doch in der normalen Zeit irgendwie erstarrt?“

Rex nickte langsam. „Genau, erstarrt. Und in der Wüste tief eingegraben, um der Sonne zu entkommen. Trotzdem … es könnte sein.“ Er zuckte mit den Schultern.

Jessica seufzte. Sie wusste nicht, was beunruhigender war: Der totale Riss in der Zeit, oder Rex, der sich nicht allwissend gab.

Was sich an ihm verändert hatte, ließ sich nicht leicht beschreiben. Einerseits trat er viel sicherer auf, als ob er stärker geworden wäre und seine Angst vor der Daylightwelt verloren hätte. Gleichzeitig konnte er aber völlig desorientiert wirken, als ob die Erde ein unbekannter Planet für ihn wäre und jedes vorbeifahrende Auto ein erstaunliches Wunder.

In Zeiten wie diesen vermisste sie den alten Rex, bei dem man sich darauf verlassen konnte, dass er wenigstens so tat, als ob er wüsste, was los war.

Und wenn sie hier festsaßen? Wenn dies hier wirklich das Ende der normalen Zeit war, wenigstens für die fünf Midnighter? Was sollten sie tun? Bis zum Ende ihres Lebens hinter Dosenfutter herlaufen und sich permanent von den Darklingen verfolgen lassen?

Die geheime Stunde war magisch, konnte aber auch eine Falle sein. Jessica hatte seit ihrer Ankunft in Bixby genug erlebt, um das zu wissen. Wenn sie hier wirklich festsaßen, würde sie ihre Eltern und ihre Schwester nie wiedersehen, außer als wächserne Statuen – Starre. Sie würde nie wieder mit jemand anderem als den vier Midnightern reden und nie mehr die Sonne auf ihrem Gesicht spüren.

Und sie würde nie wieder …

„Mensch, Jessica, kannst du mal damit aufhören?“, schrie Melissa. „Du machst mich fertig, und ich glaube, es passiert etwas.“

Jessica spürte, wie sie rot wurde. „Hast du meine Gedanken gelesen?“

Melissa seufzte. „Mir bleibt gar nichts anderes übrig. Reiß dich einfach mal kurz zusammen. Mit den Darklingen ist irgendwas …“ Sie schloss die Augen, ihr Gesicht sah erst konzentriert, dann verwundert und plötzlich alarmiert aus. „Flyboy! Komm runter!“, rief sie.

Jessica wirbelte herum und sah Jonathan, der knapp drei Meter über dem Boden schwebte. Er war nervös auf und ab gefedert, weil diese zusätzliche blaue Zeit für ihn trotz allem eine verlockende Einladung war, nach Herzenslust zu fliegen.

Er wedelte sinnlos mit den Armen, noch immer sacht aufwärtsschwebend, seinen Kurs konnte er nicht ändern. Wenn er jetzt fallen würde, wäre das keine Katastrophe, aber der Asphalt war hart genug, um sich einen Knöchel oder ein Bein zu verstauchen oder zu brechen.

Über ihm ging der dunkle Mond unter, schneller als ein Sekundenzeiger. Die Sonne guckte dahinter hervor, ein kaltes und lebloses Auge vor der Finsternis.

Als sie auf ihn zurannte, erinnerte sich Jessica an das, was sie beim Fliegen und im Physikunterricht gelernt hatte. Jonathans Midnightertalent machte die Dinge fast schwerelos, aber ansonsten blieben die Gesetze der Bewegung in Kraft. Wenn sie ihm etwas Schweres hinaufwerfen könnte und er es auf dem Weg nach unten fangen könnte, würde er mit diesem Schwung schnell zur Erde zurückkehren.

Jessicas Rucksack lag aber noch in der Sporthalle, und etwas Schwereres als Kleingeld hatte sie nicht in ihren Taschen.

Sie konnte nur ihren eigenen Körper einsetzen.

Sie rannte drei Schritte und schwang sich auf die Motorhaube des nächsten Autos, von da sprang sie auf Jonathans baumelnde Beine zu. Mit ihren Fingern erwischte sie ihn am Knöchel und gab ihm einen Ruck in Richtung Erde.

Sie hatte damit gerechnet, dass Leichtigkeit in ihren Körper strömte, dass Jonathans Mitternachtsschwerelosigkeit ihrem Fall die Wucht nehmen würde. Aber Jessica fühlte sich immer noch schwer, wie ein Backstein taumelte sie zurück in Richtung Asphalt.

Dann fiel ihr auf, dass sie nicht Jonathans Haut berührte, sondern ein Hosenbein seiner Jeans. Nur wenige Sekunden bevor sie am Boden auftraf, blieb keine Zeit mehr, nach seinen bloßen Händen zu greifen, um an der Leichtigkeit des Akrobaten teilzuhaben. Sie zog ihn zu schnell nach unten.

Jessica ließ los … und der Boden raste auf sie zu.

Als sie am Boden auftraf, endete die blaue Zeit. Die Sonne von Oklahoma blendete sie, während sie über den heißen, schwarzen Asphalt stolperte. Ein Knöchel verdrehte sich unter ihr, und sie stieß mit der linken Schulter seitlich an ein Auto.

Bei dem Zusammenstoß blieb ihr die Luft weg.

Jessica fiel auf ihre Knie, packte ihren Knöchel und wunderte sich, warum ein ohrenbetäubendes Kreischen die Luft erfüllte.

Plötzlich hockte Jonathan an ihrer Seite.

„Bist du okay?“, versuchte er den Lärm zu übertönen.

„Au. Ich weiß nicht. Was ist das …?“ Jessicas Stimme erstarb, als sie erkannte, dass das Geheul von dem Wagen neben ihr kam. Als sie gleichzeitig mit dem Ende der blauen Zeit gegen den Wagen gefallen war, hatte sie den Alarm ausgelöst.

„Das war ich, oder?“

„Mach dir deshalb keine Sorgen. Und danke, dass du mich gerettet hast.“ Jonathan erhob sich ein wenig aus seiner geduckten Haltung und spähte über die Motorhaube. „Dess redet mit Sanchez. Sieht so aus, als wäre er hauptsächlich verlegen. Ich glaube, sie hält ihm einen Vortrag über die Gefahren des Rauchens.“ Er duckte sich. „Er schaut aber hierher, wundert sich über die Autosirene. Bleib einfach unten.“

Jessica untersuchte ihren Knöchel und zuckte zusammen, als der Schmerz durch ihr Bein fuhr. „Damit hab ich keine Probleme. Dir ist also nichts passiert?“

Er nickte. „Du hast genau fest genug gezogen. Perfektes Timing. Ich bin mit ein paar Zentimetern normaler Schwerkraftbeschleunigung davongekommen. Außerdem bin ich senkrecht nach unten gefallen und nicht gestolpert, so wie du.“ Er grinste. „Und ich habe ein paar Jahre Landeerfahrung mehr als du.“

„Hm.“ Sie seufzte. „Mein Rettungsversuch war vermutlich bescheuert.“

Er nahm ihre Hand. „Kein bisschen bescheuert, Jess. Ich wäre mindestens drei Meter über dem Boden gewesen, wenn du mir keinen Ruck gegeben hättest. Das ist ziemlich hoch, um auf Beton aufzukommen, glaub mir.“ Er beugte sich über sie und küsste sie, dann lehnte er sich zurück. „Das war eine echt schnelle Reaktion unter hervorragendem Einsatz der Gesetze der Bewegung, glaub mir.“

„Wirklich?“

„Ja. Wie schon gesagt: Danke, dass du mich gerettet hast.“

„Vor einem verstauchten Knöchel. Wie tapfer von mir.“

„Hätte schlimmer als eine Verstauchung ausgehen können.“

Er erhob sich ein wenig und spähte noch einmal über das Auto. „Sie schleichen jetzt alle in die Sporthalle zurück, Mr Sanchez auch. Macht einen einigermaßen entspannten Eindruck.“

„Was ist mit der blöden Autosirene? Jemand wird kommen und nachsehen.“

„Ich glaube kaum, dass bei dem Krach dadrinnen jemand was hören kann. Kannst du auftreten?“

Jessica versuchte, ihren Knöchel zu belasten. „Autsch.“

„Okay, wir bleiben einfach noch ein paar Minuten hier. Die Feier ist sowieso fast zu Ende. Wir mischen uns unter die Leute, wenn sie sich auflösen, holen unsere Sachen und gehen in Physik.“

„Klar, super.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich hab bloß den Eindruck, dass ich meine Physikstunde für heute schon hinter mir habe.“

„Das glaub ich auch“, pflichtete Jonathan ihr bei. Er kniete nieder und massierte ihr vorsichtig den Knöchel. Anfangs zuckte sie bei seiner Berührung zusammen, aber dann begannen sich die verspannten Muskeln zu lösen. „Ich wahrscheinlich auch.“

„Wie meinst du das?“

Er seufzte. „Na ja, irgendwie war es dämlich, herumzufliegen, solange wir keinen blassen Dunst hatten, was los ist.“

Jonathan sah zum Dach der Sporthalle hoch. „Einen richtigen Sturz hätte ich nicht ausgehalten.“

Jessica strich ihm mit den Fingerspitzen über die Hand.

„Das wäre echt scheiße gewesen.“

„Also, wenn das wieder passiert, dann werde ich auf Rex hören.“

Sie lächelte erstaunt, weil Jonathan die Begriffe „auf jemanden hören“ und „Rex“ im selben Satz verwendete. Aber dann kehrte die erste Hälfte seines Kommentars in ihr Bewusstsein zurück, und sie runzelte die Stirn.

„Warte mal. Wenn das wieder passiert?“

Jonathan sah sie verständnislos an, dann lachte er, während er ihren Knöchel bearbeitete. „Glaubst du wirklich, die ganze Sache war nur so was wie eine Sonnenfinsternis? Dass sie nichts bedeutet und nie wieder vorkommen wird?“

„Ja, na ja.“ Sie schluckte. „Ich meine, es könnte doch so sein, wie Dess sagt. Ein total zufälliges Ereignis …“

Er kicherte.

Was ist, Jonathan?“

Er unterbrach seine Massage und sah mit einem schiefen Lächeln zu ihr auf. „Doch, sicher, könnte total zufällig passiert sein. Genau wie all die anderen total zufälligen Dinge, die seit deiner Ankunft hier in Bixby passiert sind.“ Er zählte an seinen Fingern mit. „Die Darklinge drehen durch und versuchen, dich umzubringen. Aus Broken Arrow kidnappen sie Rex.

Madeleine taucht wieder auf, nachdem sie sich fünfzig Jahre versteckt hat … Wie viele Zufälle kann es da noch geben?“

Die Autosirene verstummte mit zwei kurzen Tönen, endlich war ihr die Puste ausgegangen.

„Spitze“, sagte Jessica leise in die plötzlich nachhallende Stille. „Der Flammenbringer ist wieder unterwegs.“