blitze
12.00 Uhr nachts – lange Midnight
31
Sie sprangen an den Schienen entlang dem Riss hinterher. Er lief ihnen voraus, eine rote Pfeilspitze, die auf das Herz von Bixby zeigte.
„Können wir es rechtzeitig schaffen?“
„Er räumt uns den Weg frei, indem er den erstarrten Regen runterholt. Aber pass auf, wenn wir ihn überholen.“
„Jonathan!“
Ein Mann stand vor ihnen auf den Schienen. Er trug einen Bademantel und machte ein ungläubiges Gesicht. Sie machten einen extragroßen Satz, um ihn nicht anzurempeln, und er hob das Gesicht, um ihren Flug über ihn hinweg zu verfolgen.
„Na, das war vielleicht seltsam“, sagte Jessica.
„Es gibt noch mehr von denen. Der Riss füllt sich langsam.
Und nicht nur mit Menschen.“
Als sie sich Bixby näherten, nahm die Zahl der Häuser zu.
Sie sahen mehr Leute, die umherzogen, zunächst allein oder zu zweit oder zu dritt, dann Gruppen, die sich auf der Straße versammelten. Einige sahen verwundert zu Jessica und Jonathan hoch, aber viele bemerkten die beiden gar nicht, wenn sie über ihre Köpfe sausten, vor lauter Verwirrung über die blaurote Welt um sie herum.
„Glaubst du, Rex hat recht?“, sagte sie. „Können wir das hier wirklich aufhalten?“
„Wenn er nicht recht hat, dann bekommen die meisten von ihnen große Probleme. Sie stehen einfach hier, genau in der Mitte des Risses.“
„Wenigstens sind die Darklinge noch nicht hier.“
Er deutete nach vorn. „Einige schon.“
Vor ihnen war noch eins von den Biestern mit den fedrigen, greifenden Tentakeln. Es lauerte über einer kleinen Gruppe im Hinterhof eines Hauses, einer Halloweenparty vermutlich, die sich bis in die Nacht hingezogen hatte. Alle waren kostümiert
– Ritter, Teufel und Cowboys und sogar ein Gespenst im weißen Laken – und standen fast reglos da. Das Darklingwesen hatte um jeden eins seiner Tentakel gelegt, und Jessica sah, wie ihre Hände zitterten, als ob jeder Einzelne in seinem eigenen, privaten Entsetzen gefangen wäre.
„Mein Gott, sollen wir anhalten?“
„Keine Zeit“, sagte Jessica. Sie mussten diese Invasion aufhalten. Die ganze Invasion, überall, nicht nur in diesem einen Hinterhof. „Mach aber ein bisschen langsamer.“
Sie zog eine Fackel aus ihrer Tasche und steckte sich das eine Ende in den Mund, um sie aufzureißen. Dann schlug sie gegen die Reibfläche, die zwischen ihren Zähnen klemmte, Funken flogen ihr ins Gesicht, die erste zischende Flamme verbrannte ihr die Augenbrauen, bevor sie sie wegwischen konnte.
Vom höchsten Punkt ihres nächsten Sprungs warf sie die Fackel in die platte Mitte des Wesens. Es fing Feuer, der Schrei hallte durch die blaue Zeit, seine Tentakel glitten allmählich von den kostümierten Leuten.
Jessica blickte über ihre Schulter, während sie vorwärtsflogen, und sah, wie Leben in die Gruppe kam und sie plötzlich wie wahnsinnig an den Armen des Wesens zogen, als ob sie es in Stücke reißen wollten.
„Da sind noch mehr“, sagte Jonathan leise.
Vor ihnen lauerten zwei von den alten Darklingen über den Bahnschienen wie schwebende Spinnennetze.
„Umfliegen wir sie?“, fragte er.
„Sie sind zu schnell.“ Jessica zog wieder eine Fackel aus der Tasche, dann fiel ihr auf, dass dies ihre letzte war. „Mist.“
Sie riss sie mit den Zähnen auseinander, diesmal konnte sie sie zünden, ohne sich das Gesicht zu verbrennen. Sie hielt sie ausgestreckt vor sich, während sie in das Knotennetz aus Tentakeln sausten.
Beim Kontakt mit der Flamme schrien die beiden Darklinge auf, aber Jessica spürte kalte Federn, die ihre Beine, ihre Arme, ihren Hals streiften – sich für einen flüchtigen Moment um ihre Taille legten. Angst kochte erneut in ihr hoch, ein lähmendes Entsetzen, sie könnte die falsche Entscheidung getroffen haben. Es war verrückt, Jenks ohne Verteidigung zurückzulassen und ihre Schwester an das Schicksal auszuliefern.
Und plötzlich wusste sie es: Die Darklinge hatten die blaue Zeit wegen ihr geöffnet, weil sie Jessica Day so sehr hassten …
Das Ende der Welt … es ist alles meine Schuld.
Nur Jonathans Hand, die sie in ihrer spürte, hinderte sie daran, der furchtbaren Verzweiflung nachzugeben, die sie quälte. Er würde sie nicht verlassen, das wusste sie. Sie hatten sich aber auch um Jonathan geschlungen. Sie musste kämpfen.
Jessica biss die Zähne zusammen und schlug mit der Fackel zu, schnitt in die verfilzten Tentakel und riss sich frei.
Eine Angst nach der anderen fiel von ihr ab.
Dann verschwand das Gefühl, und die Schwerelosigkeit strömte wieder in sie hinein, die Schienen ragten auf, und sie sprang instinktiv wieder ab. Sie blickte zurück. Die beiden Darklinge waren nur noch eine schmorende Masse, die sich auf den Schienen verteilte.
„Nein!“, schrie Jonathan und umklammerte ihre Hand.
„Aua! Was ist los?“, schrie sie zurück.
„Was?“ Er sah sie verblüfft an. „Warte mal. Ich hab dich festgehalten …?“
„Festgehalten? Ich bin gar nicht gefallen.“
„Aber ich dachte …“ Er betrachtete ihre verschränkten Hände.
„Oh.“ Jessica machte große Augen. „Ist das dein schlimmster Albtraum, Jonathan? Mich fallen zu lassen?“
Er blinzelte „Na klar. Aber …“
Jessicas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Wie süß von dir!“ Sie landeten und sprangen wieder ab. Jessica sah eine leuchtend rote Barrikade, die vor ihnen aufragte. „Was ist denn jetzt …?“
„Das ist die Spitze vom Riss“, rief er. „Mach dich bereit!“
Jessica wollte antworten, aber dann klatschte ihr eine Wasserwand ins Gesicht.
Sie war noch nie durch erstarrten Regen geflogen. Bei ihrem ersten Besuch in der geheimen Stunde war Jessica durch einen Mitternachtsschauer gelaufen, ein magisches Erlebnis, wie ein Sprung durch den Rasensprenger im Sommer. Aber ein Aufprall mit hundert Sachen auf ein regloses Gewitter traf einen wie der brutale Strahl aus einem Feuerwehrschlauch.
Das Wasser tränkte ihre ohnehin feuchten Sachen, lief ihr in den Mund, bis sie kaum noch reden oder atmen konnte, und ließ den Weg vor ihnen im Nebel verschwinden. Die Autobahnfackel in ihrer Hand fing an zu flackern, zischend wie eine verärgerte Schlange. Sie konnten den Boden kaum erkennen, wenn er auf sie zusauste.
Sie sprang blind ab, und sie kamen ins Trudeln.
„Warte! Ich kann nichts sehen!“, rief sie in die Wasserwand hinein. Ein riesiger roter Streifen strich über Bixby, der fast so schnell war wie sie.
Als sie sich der Sintflut wieder zuwandte, stellte sie fest, dass sie in dem nassen, blauen Chaos endlich etwas erkennen konnte. Zwischen schmalen Augenschlitzen sah Jessica, dass sie die Innenstadt erreicht hatten. Mit ihrem nächsten Sprung setzten sie auf das Dach eines sechsstöckigen Gebäudes, dann sprangen sie höher.
Vor ihr erwartete sie das höchste Gebäude von Bixby, auf dessen Spitze eine riesige Figur mit Flügeln schimmerte.
„Ist das …?“
„Erkennst du den Pegasus nicht mehr?“
„Toll.“ Sie hatte das riesige Pferd schon aus nächster Nähe gesehen, aber nie so illuminiert wie heute. Ein langer Blitz ragte wie ein Finger oben aus den schweren Wolken und tauchte das Schild in tausend helle Glühfäden.
Sie landeten wieder auf einem Dach, rutschend kamen sie auf dem schwarzen, nassen Teer zum Stehen. Ihre durchweichten Turnschuhe stolperten über verstreute kleine Teile.
„He! Pass auf das Feuerwerk auf!“
Jessica wischte sich das Wasser aus den Augen. „Oh. Entschuldige, Dess.“
„Wo sind Rex und Melissa?“
„Lange Geschichte“, sagte Jonathan. „Wir sind auf dem Weg nach da oben.“ Er deutete auf das blitzumhüllte Pegasusschild.
„Wozu das denn?“
„Rex glaubt, wir können den Riss versiegeln.“
„Hä, mit Blitzen?“ Dess fluchte. „Ihr wisst doch, dass Rex in letzter Zeit durchgeknallt ist, oder?“
Jonathan sah Jessica an, die wieder Zweifel in sich aufkommen spürte.
Aber sie hielt stand. „Wir dürfen das nicht verpassen. Wir müssen es versuchen.“
„Mich braucht ihr nicht zu fragen. Kann ich das aber haben?“ Dess deutete auf die lodernde Fackel. „Nur für den Fall, dass ihr beiden auch durchgeknallt seid?“
„Klar.“ Jessica gab sie ihr.
„Komm jetzt.“ Jonathan hatte sich bereits am Rand des Daches niedergelassen. „Der Riss ist direkt hinter uns.“
„Viel Glück“, sagte Dess.
„Dir auch.“ Jessica rannte zu Jonathan und nahm seine Hand. Sie sah zu dem glitzernden Flügelpferd auf.
„Versuchen wir, ob wir es in einem Sprung schaffen“, sagte Jonathan.
„Kommen wir so weit?“
„Ich hoffe es. Drei … zwei … eins …“
Jessica stieß sich so fest ab, wie sie konnte, und sie sausten in die Luft. Am höchsten Punkt ihres Bogens befand sie sich fast in Augenhöhe mit dem riesigen Pferd, höher als sie je geflogen war. Aber als sie näher kamen, merkte sie, dass es knapp wurde.
„Au weh.“
„Wir werden es schaffen!“ Jonathan wedelte wie ein verletzter Vogel gegen den Regen an, dann streckte er eine Hand aus, und als sie das Gebäude erreicht hatten, packten seine Finger den Rand des Daches. Jessica knallte gegen die Wand unter ihm, federte ab und auswärts. Einen Moment lang tat sich die Schlucht bis zur Straße unter ihr auf, und ihre Hand schien durch Jonathans nasse Finger zu gleiten.
Aber sein Griff blieb fest, es gelang ihm auch, die Kante nicht loszulassen und sie in einem Bogen über seinen Kopf zu schwingen. Sie landete am Rand des Gebäudes und zog ihn hinter sich hoch.
„Geschafft!“, brüllte er.
Sie blickte dahin zurück, wo sie hergekommen waren, und bekam große Augen. „Jonathan …“
Der Riss rollte jetzt auf sie zu, höher als ein Wolkenkratzer, breiter als ein Fußballfeld. Wenn die Grenze der roten Zeit auf den Regen traf, setzte sie riesige Wassermassen frei. Wie eine gewaltige, karmesinrote Flutwelle, die durch die Straßen von Bixbys Innenstadt rollte.
Hinter ihr flog ein Schwarm Darklinge, tausend geflügelte Gestalten in jeder Größe, unermessliche Wirbelwinde aus rot und schwarz glitzernden Gleitern, die ihre rattenartigen Schreie ausstießen. Eine verknotete Gruppe der Tentakelwesen, deren Appendizes wie Haarflechten miteinander verwoben waren, flog in der Mitte der Horde.
„Rex hat es nicht geschafft“, sagte sie leise. „Beth …“
„Nein, sieh mal.“ Jonathan deutete mit dem Finger. Meilenweit entfernt erhob sich eine winzige Feuerfeder über Jenks in den Himmel, die Funken und Explosionen in allen Farben regnen ließ. „Er und Melissa müssen einen Teil aufgehalten haben. Vielleicht sind es mehr, als wir dachten.“
Jessica nickte bedächtig. Ihr sorgsam vorbereiteter Plan war erbärmlich unangemessen gewesen – ein paar Feuerwerkskörper gegen eine Armee aus Monstern.
Sie riss sich von dem Anblick los, ließ Jonathans Hand los und rannte auf das Riesenpferd zu. Sein tiefster Huf reichte fast bis auf das Dach hinunter – ein Ausläufer des gefangenen Blitzes wand sich um dessen Metallstütze: strahlende, summende, gebündelte Elektrizität.
Sie streckte die Hand aus, Handfläche nach oben, als ob sie die Hitze eines Feuers testen wollte. Enorme Energien bewegten sich darin, an ihren Armen standen die Härchen senkrecht, überall in ihrem Körper kribbelte es. Es war wie das großartige, summende Gefühl, als sie zum ersten Mal weißes Licht in die blaue Stunde gebracht hatte, nur tausendmal intensiver. Es ließ ihr Herz schneller schlagen, ihr Blickfeld verschwimmen.
Erstarrt oder nicht, dass hier war ein echter Blitz, erkannte sie. Eine Ehrfurcht gebietende Kraft der Natur, unvorstellbar tödlich. Als ob man die Hand in eine Steckdose stecken würde, aber millionenfach stärker. Was würde mit ihr passieren, wenn sie da hineingriff?
Sie wusste nur, was geschehen würde, wenn sie es nicht tat: Tausende würden sterben, die Alten, die sich an ihren Opfern hemmungslos labten, die Menschheit ihren ältesten Widersachern gnadenlos ausgeliefert.
„Ich muss das tun“, sagte sie leise.
„Bist du sicher?“ Jonathan stand direkt hinter ihr.
„Tritt zurück.“
Er schüttelte den Kopf, packte sie, um sie zu küssen. Dann spürte es Jessica auf ihren Lippen: die Energie des gefangenen Blitzes, überall um sie herum, vermischt mit dem schwindelerregenden Leuchten von Jonathans Mitternachtsschwerelosigkeit. Ihre Haut schien Spannung aufzunehmen, von den wilden Strömen und der Hitze, die darüberlief.
Jonathan ließ sie los und trat zurück. „Okay. Jetzt mach schnell.“
„Weiter zurück, Jonathan.“
Er nickte und machte einen Satz an den Rand des Daches.
Hinter ihm hatte sie die karmesinrote Welle fast erreicht, ein turmhoher Streifen aus stürzendem Wasser und kreischenden Räubern.
Plötzlich stieg ein fauchendes Raketenbataillon zu ihnen auf und ergoss sich in Schauern aus weißem Licht. Darklinge kreisten und wirbelten herum, um ihnen zu entkommen.
„Dess“, flüsterte sie. Das andere Gebäude, nur einen Sprung weit entfernt, war jetzt in dem Riss.
Jessica Day stieß mit ihrer Hand in den Blitz …
Das erstarrte Gewitter fuhr wie eine Explosion durch sie hindurch. Donner dröhnte in ihren Ohren, und Welle um Welle wälzte sich Energie gnadenlos durch Jessica, bis ihr Körper zu verschwinden schien und sie nichts mehr spüren konnte, außer der Urenergie, die in jenem einzigen Augenblick eingeschlossen wurde, als es blitzte. Sie nahm in ihr Gestalt an, weiße Punkte tanzten vor ihren Augen, ihr Trommelfell platzte, ein metallischer Geschmack fuhr über ihre Zunge.
Sie fühlte sich, als ob es sie in Stücke reißen würde.
Dann brach die weiße Hitze wie eine Flut hervor, schoss auf die sich nähernde Wand des Risses zu, schnitt sie auf und in das Heer aus Darklingen und Gleitern, Feuer sprang in einem wilden Zickzackmuster von einer Kreatur zur anderen.
Die Meute aus fliegenden Biestern machte aufjaulend kehrt.
Wieder brach ein Blitzstrom aus Jessica hervor, dann zwei weitere – vier Feuerlinien, die in die Richtungen des Kompasses ausfuhren, funkelnd in der Finsternis der blauen Zeit.
Endlich spürte sie, wie die wilden Energien in ihrem Körper nachließen, abfielen wie das Pfeifen des Kessels, den man vom Herd genommen hatte. Das blendende Licht wurde blasser, und Jessica konnte wieder spüren, dass sie atmete, und hören, dass ihr Herz schlug.
Der Riss war fast verschwunden, hatte sich selbst zusammengezogen, bis auf einen schmalen Strahl in Rot. Die Darklingmeute war in Fragmente zerteilt, vereinzelte Gleiterschwärme und wenige wütende Darklinge flohen in die Wüste zurück.
Jessica sah sich um. Vier weiße, weiche Lichtstrahlen flossen um sie herum, die Norden, Süden, Osten und Westen in der Ferne aufteilten. Die Energien in ihrem Körper schwanden weiter, während sie spürte, dass sie sich über den gesamten Globus ausbreiteten, sich in einem bestimmten Muster über die Erde legten.
Dess würde das sicher gern sehen, dachte sie benommen.
Aber die Sinne schwanden ihr.
Dann sah sie zwischen den Stützen des riesigen Pferdes, wie es sich von Osten auf sie zu bewegte. Das Licht der normalen Zeit strich wie eine Dämmerung über die Erde. Der dunkle Mond über ihr sank schnell. Samhain hatte keinen ganzen Tag angehalten, nicht einmal eine Stunde …
„Jessica.“ Jonathan kam über das Dach auf sie zu. „Du bist
…“
„Sei vorsichtig“, sagte sie mit schwacher Stimme. Weiße Hitze brannte noch immer in ihrer Hand. Sie hob sie mühsam vor ihre Augen und starrte den gefangenen Blitz an, den sie dort sah.
Warum war die Mitternachtsstunde nur schon vorbei?
Sie riss ihren Blick von dem pochenden Feuer in ihrer Hand los und sah zum Horizont. Sie sah, wie sich das Gewitter aus der Erstarrung löste, wie sich das blaue Licht der Midnight aus der Welt schlich.
Als die normale Zeit Jessica erreicht hatte, spürte sie, wie sie verschwand …
„Oh nein“, sagte sie und warf einen letzten Blick auf Jonathans bestürztes Gesicht.
Ein unterbrochenes Donnergrollen setzte sich fort, als die Midnight endete.
Und dann war alles vorbei.