monster

12.00 Uhr Mitternacht

18

Rex stolperte durch die Wüste zurück wie ein Zombie.

Sein Gesicht war fahl, seine Hände zitterten wie in der Nacht nach seiner Transformation vor einigen Wochen. Er sah seinem Vater beängstigend ähnlich – mit glasigem, verschleiertem Blick, sein Gang war kaum ein Schlurfen.

Er war nicht verletzt und blutete auch nicht, seine Kleider waren intakt, aber bei dem leeren Ausdruck auf seinem Gesicht bekam Jessica eine Gänsehaut.

„Ist alles in Ordnung, Rex?“, fragte sie.

Er antwortete nicht und wandte sich nur an Melissa. „Hast du sie berührt?“

„Nein, ich habe gewartet. Habe ich doch versprochen.“ Melissa streckte die Hand nach ihm aus. „Loverboy, du siehst scheiße aus.“

„Fühl mich auch so.“ Rex nahm ihre dargebotene Hand und erschauderte, dann richtete er sich auf, als ob er Kraft von ihr bekommen hätte. „Danke.“

„Was soll der Mist, Rex?“, fragte Jonathan. „Hattest du vor, dich umbringen zu lassen?“

Rex dachte ein paar Sekunden über die Frage nach, als ob sie schwierig wäre, dann schüttelte er den Kopf. „Ich bemühe mich bloß um alle Standpunkte. Ich glaube, ich bin ein ziemlich lausiger Historiker gewesen.“

„Eher ein ziemlich lausiger Autofahrer!“, beschwerte sich Melissa. Sie deutete auf den alten Ford, der sich zu einer Seite neigte, nachdem die beiden Reifen rechts fast nur noch aus Metallfelgen bestanden. „Da lasse ich dich einmal allein mit meinem Auto fahren, und du erledigst es komplett!“

„Stimmt, sieht so aus.“

„Das kann doch nicht wahr sein, Rex! Mister Verantwortlich bringt seine geliehenen Bücher stets pünktlich in die Bibliothek zurück, aber bei meinem Auto macht er sich nicht mal die Mühe, auf der Straße zu fahren? Die Achse ist gebrochen!“

Als Jessica Melissa bei ihrer Tirade beobachtete – mit jedem Vorwurf packte sie Rex’ Hand fester, verschränkte ihre Finger mit seinen, beide Körper aneinandergelehnt, um sich gegenseitig zu stützen –, fiel ihr auf, wie gut die Gedankenleserin ihre Angst verborgen hatte, er könnte nie mehr zurückkehren.

Bei ihrer Berührung hatte sie auch nur einen kurzen Blick erhascht.

Endlich kam Melissas Schmährede stotternd zum Ende. Rex umarmte sie eine Weile schweigend, dann sagte er: „Ich werde das alte Biest in guter Erinnerung behalten. Es starb, um mir und Angie das Leben zu retten.“

Melissa entzog sich ihm und sah sich nach der erstarrten Gestalt in dem zerschmetterten Auto um. Mit tiefer Stimme knurrte sie: „Die ist jetzt jedenfalls mein Trostpreis. Jetzt ist sie mir wirklich was schuldig.“

„Warte noch“, sagte Rex.

„Kommt nicht infrage. Darauf habe ich schon zu lange gewartet.“

Er zog Melissa wieder an sich und legte ihr eine Hand an die Wange.

Kurz darauf wurden ihre Augen größer. „Was? Warum nicht?“

„Ich habe einen Deal mit ihr abgemacht.“

„Aber ich habe keinen Deal!“

„Hast du doch. Mit mir.“ Er schüttelte den Kopf. „Wir müssen warten, bis Mitternacht vorbei ist.“

Jessica fragte sich, ob sie die Einzige war, die nicht mehr mitkam. „Wovon redet ihr eigentlich?“

„Stimmt“, schloss sich Dess an, die immer noch einen blutigen Fetzen an den Riss über ihrem linken Auge hielt. „Könnten wir, die wir nicht durchgeknallt sind, vielleicht wenigstens Untertitel kriegen?“

Melissa riss sich aus Rex’ Umarmung, taumelte ein paar Schritte rückwärts und starrte ihn böse an. „Er will nicht, dass ich Angies Gedanken lese.“

„Wie bitte?“, fragte Dess.

„Angie hat mir ein paar Dinge über die Vergangenheit erzählt“, sagte Rex. „Über Midnighter und Grayfoots. Und dann haben wir einen Deal gemacht. Ich habe ihr versprochen, dass wir warten, bis die Midnight vorbei ist, und dann mit ihr reden. Einfach nur reden.“

„Moment mal“, schaltete sich Jonathan ein. „Willst du damit sagen, dass wir hier alle heute Nacht unser Leben riskiert haben, um zu plaudern?“

„Kommt nicht infrage!“, schrie Dess.

Rex sah Jessica an und bat sie mit erschöpftem Blick um ihre Hilfe. „Wir brauchen keine Gedanken zu lesen“, sagte er.

„Wir können ihr vertrauen.“

„Auf was?“, giftete Melissa. „Dass sie uns weniger häufig kidnappt?“

„Ich habe nicht gesagt, dass Angie unsere Freundin ist oder so“, antwortete er, ohne den Blick von Jessica abzuwenden.

„Bei Weitem nicht. Aber in einer Beziehung ist sie wie wir: Sie will die Wahrheit über die Midnight herauskriegen. Wir müssen uns ihre Gedanken nicht gegen ihren Willen aneignen.“

Jessica holte tief Luft. In der Nacht, in der sie Cassie Flinders gerettet hatten, hatte sie ihnen ausreden wollen, die Erinnerungen des Mädchens zu löschen, und damals war sie im Großen und Ganzen ignoriert worden. Wenn aber sogar Rex zögerte, könnte die Sache diesmal anders laufen.

„Ich stimme Rex zu“, sagte sie. „Glaube ich.“

Die anderen drei starrten sie an, und Jessica rechnete damit, dass einer von ihnen brüllen würde: Und wen interessiert das, was du denkst? Als sich das Schweigen dann aber in die Länge zog, spürte sie, wie sich innerhalb der Gruppe etwas veränderte. Selbst Melissas manische Energie schien ein bisschen nachzulassen, wie bei einem Kind, auf dessen Wutanfall niemand reagierte.

Jessica verschränkte die Arme. Offensichtlich interessierte sich doch jemand dafür, was sie dachte.

Nach einer ganzen Weile sagte Dess leise: „Ich will das ja nur verstehen. Ich blute hier oben. Ein paar Zentimeter tiefer, und das Psychokätzchen hätte mir ein Auge ausgekratzt. Und wir wollen bloß mit ihr reden, was beinhalten würde, dass wir das auch einfach mit einem einfachen Telefonat hätten erledigen können?“

„Wobei mein Auto möglicherweise weniger demoliert worden wäre?“, ergänzte Melissa.

„Nicht ganz“, antwortete Rex. „Wenn sie hier vor uns steht, können wir sicherstellen, dass Angie nicht lügt. Ich glaube ihr, aber ihr anderen müsst ebenfalls sicher sein.“ Er lachte kurz auf. „Und, ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass das am Telefon funktioniert hätte. Manchmal hilft ein bisschen geteilte Gefahr.“

„Na dann, schön, dass ihr beiden mein Auto zerklatscht habt“, sagte Melissa. „Solange du dir nur sicher warst.“

„Nein, nein.“ Rex schüttelte müde den Kopf. „Ich bin mir erst da draußen sicher geworden. Angie ist nur verwirrt.“

„Verwirrt!“ Melissa schnaubte. „Sie ist eine Kidnapperin, Rex. Sie sollte für immer im Knast sitzen! Und ihr soll nichts geschehen?“

Er grinste, seine Augen blitzten im dunklen Mondlicht auf.

„Das hab ich nicht gesagt.“

Als der dunkle Mond unterging, strich echte Zeit über die Wüste, mit der plötzlich der kalte Herbstwind zurückkehrte.

Rex neben Jessica zuckte kurz, wie ein Teller, unter dem man das Tischtuch wegzieht – als ob er nicht mehr in die normale Zeit gehören würde.

Er hatte sich geweigert, ihre Fragen nach den Geschehnissen draußen in der Wüste zu beantworten, und behauptet, er könne sich nicht erinnern. Jedenfalls jetzt noch nicht.

Mit dem Moment, als Angies Gesicht zum Leben erwachte, flackerten Gefühle darüber hinweg wie über einen Fernseher beim Zappen: Verwirrung, Angst, Misstrauen und schließlich noch viel mehr Verwirrung. Sie berührte vorsichtig ihren Kopf mit den Fingerspitzen, als ob sie sichergehen wollte, dass ihr um Mitternacht nicht die Ohren abgefallen waren.

Zu fünft standen sie in einer Reihe vor dem Wagen, mit verschränkten Armen – ähnlich einer Band, die für ein Plattencover posiert, dachte Jessica. Sogar die immer noch brodelnde Melissa hatte beschlossen, sich zu ihnen zu stellen, als ihr bewusst geworden war, dass dieses kleine Überraschungsmoment ihre einzige Chance werden würde, sich an Angie zu rächen.

Die Augen der Frau weiteten sich, als sie sie hinter der Windschutzscheibe erblickte.

„Steig schon aus“, rief Rex. „Reden wir.“

Angie zog sich langsam aus dem zerbeulten Ford und blieb vor ihnen stehen, die offene Wagentür hielt sie sich wie ein Schutzschild vor den Körper.

„Mann“, sagte sie leise.

Jessica vermutete, dass Leute, die aus dem Nichts auftauchten, wesentlich beeindruckender waren, als ein paar hüpfende Dominosteine.

„Wie geht’s deinem Verstand?“, fragte Rex. „Fühlst du dich noch wie du selbst?“

Angie brütete einen Moment über der Frage, dann zog sie die Schultern hoch. „Kann schon sein.“

„Als ob ich mir an deinem ekligen kleinen Hirn die Finger schmutzig machen würde“, sagte Melissa.

Jessica sah sie von der Seite an. Total gelogen.

„Reden wir also über die Geschichte von Bixby“, sagte Rex.

„Ich dachte, das hätten wir schon hinter uns.“

„Vielleicht will ich das alles noch einmal hören.“ Er klopfte Melissa auf die Schulter. „Und diesmal kann ich mir sicher sein, wenn du die Wahrheit erzählst. Oder wenigstens, wenn du glaubst, du würdest die Wahrheit erzählen.“

„Das ist alles wahr“, sagte Angie. „Ich kann euch die Dokumente zeigen.“

„Erzähl einfach“, sagte Rex.

Angie nickte und fing an, ihnen von den früheren Midnightern zu erzählen, vom Aufstand der Grayfoots, und alles über die andere geheime Geschichte von Bixby. Sie fing langsam und leise an, der verblüffte Ausdruck auf ihrem Gesicht über das plötzliche Auftauchen der anderen verschwand erst allmählich. Aber dann gewann ihre Stimme an Sicherheit, und bald deklamierte sie mit äußerster Überzeugung.

Rex hatte das meiste bereits erklärt, während sie darauf gewartet hatten, dass die blaue Zeit zu Ende ging. Doch als Jessica hörte, wie die Enthüllungen mit Angies kühner Stimme wiederholt wurden, begann ihr die Geschichte in die Knochen zu kriechen, zusammen mit der Wüstenkälte einer Herbstnacht in Oklahoma.

Wenn das alles stimmte, wie viel hatte Madeleine dann von all dem gewusst, was sich zu ihrer Zeit abgespielt hatte? Sie war erst siebzehn gewesen, als die Grayfoots den Midnightern die Macht entzogen hatten, aber sie trug Erinnerungen von Generationen von Gedankenlesern in sich. Sie müsste es doch wissen, wenn Midnighter über Jahrtausende gruselige Dinge angestellt hatten?

Und würde einer von ihnen den Mut aufbringen, sie zu fragen, was sie von all dem hielt? Melissa würde natürlich nichts anderes übrigbleiben, wenn sich die beiden das nächste Mal berührten. Jessica war nur froh, dass es Melissa war und nicht sie, die fragte.

Als Angie am Ende ihres Vortrags angekommen war, schien sie sich nicht mehr vor ihnen zu fürchten. Inzwischen rauchte sie und sah aus, als ob sie sie für normale Kids halten würde.

„Jetzt habe ich euch erzählt, wie es wirklich war“, endete Angie. „Was wollt ihr mir jetzt im Gegenzug berichten?“

Jessica sah die Frau mit zusammengekniffenen Augen an.

Sie war froh, dass Melissa keine sabbernde Idiotin aus ihr gemacht hatte, was aber nicht heißen sollte, dass sie Angie deshalb mochte. Ganz und gar nicht.

„In der Hauptsache solltest du eins wissen“, sagte Rex. „Soweit wir wissen, wird am 1. November die Hölle losbrechen.“

„Um Mitternacht davor, genau genommen“, fügte Dess hinzu. „Wenn der 31. Oktober in den November übergeht.“

Angie grinste. „Mitternacht an Halloween, was?“

„Das mag sich miserabel anhören“, sagte Dess gelassen.

„Aber Zahlen lügen nicht.“

„Ich weiß nicht, ob ich den Kram mit der Numerologie glauben soll.“

„Numerologie?“ Dess fiel die Kinnlade runter. „Das ist Mathe, du Schwachkopf.“

Die Frau sah Dess lange skeptisch an, aber dann machte sie ein besorgtes Gesicht. „Wisst ihr, bevor sie mich ausgeschlossen haben, hat Ernesto Grayfoot immer gesagt, irgendwas würde bald eintreffen. Und nachdem die Darklinge nicht mehr geantwortet haben, fingen alle an, sich davor zu fürchten. Er meinte, es hätte mit dem Flammenbringer zu tun.“ Sie sah Jessica an. „Das bist doch du, oder?“

Jessica nickte.

„Die Grayfoots haben aber nicht alle Instruktionen bekommen, bevor der Halbling starb.“

„Was hat Ernesto genau gesagt?“, fragte Rex.

„Er hat mir nur einen Namen gesagt – der alte Mann war nervös, weil ,Samhain‘ kommen würde.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er hat mir nie erzählt, wer das ist.“

Melissa schüttelte den Kopf. „Nicht ,wer‘, Schwachkopf, wann. Samhain ist der altertümliche Name für Halloween.“

„Gespensterjagd“, murmelte Dess.

„Du musst gerade was sagen“, antwortete Melissa.

„Schon wieder Halloween“, stöhnte Rex müde. „Lässt uns anscheinend nicht los.“

„Kommt schon, Leute. Seid nicht blöd“, sagte Angie. „Halloween ist nichts als Popkulturunsinn. In Oklahoma gibt es das erst seit einem Jahrhundert, und wie ich euch erklärt habe, sind die Monster hier schon viel früher gewesen.“ Sie musterte die fünf nacheinander. „Sie sind immer noch hier.“

„Monster?“, sagte Rex. Er trat einen Schritt auf Angie zu, dann noch einen, und Jessica spürte ein nervöses Kribbeln ganz unten im Bauch. Etwas veränderte sich an Rex, die Erschöpfung fiel von ihm ab. Plötzlich kam er ihr größer vor, sein Gesichtsausdruck härter, jede Linie in seinem Gesicht schien eine Bedrohung. Dann passierte das Unglaublichste –

Jessica sah, wie seine Augen purpurn aufleuchteten, obwohl der dunkle Mond längst untergegangen war. Er stand eine Armlänge von Angie entfernt, aber die Frau taumelte rückwärts und sank gegen das zerbeulte Auto. Die Zigarette glitt ihr aus den Fingern.

„Vielleicht hast du recht, Angie“, sagte er. „Vielleicht leben seit langer, langer Zeit Monster hier in Bixby. Aber eins solltest du nicht vergessen.“

Dann änderte sich sein Tonfall, seine Stimme wurde trocken und kalt, als ob etwas Altertümliches aus ihm sprechen würde. „Monster oder kein Monster, ich bin, was du aus mir gemacht hast, als du mich in der Wüste ausgesetzt hast. Ich bin jetzt dein Albtraum.“

Ein Fauchen brach aus ihm hervor, und sein Hals streckte sich nach vorn, als ob sich sein Kopf Mühe geben würde, sich von seinen Schultern zu entfernen. Seine Finger schienen länger und dünner zu werden und faszinierende Muster in die Luft zu zeichnen. Sein Fauchen sägte an Jessicas Nervenkostüm, als ob jemand mit einer Glasscherbe an ihrer Wirbelsäule entlangfahren würde.

Angies blasiertes Selbstvertrauen schmolz dahin, und sie sank zusammen, nur der Ford in ihrem Rücken verhinderte, dass sie zu Boden glitt.

Das Fauchen wurde leiser, bis es sich im Wind verlor, und dann schien sich Rex’ Körper wieder in sich hineinzufalten, bis er zu seiner normalen Größe und Gestalt zurückgekehrt war. Jessica wusste nicht genau, ob sie seine Verwandlung wirklich gesehen hatte oder ob die ganze Sache ein bombastischer Psychotrick gewesen war.

Er wandte sich von Angie ab. „Kommt, Leute.“

„Sie weiß aber noch mehr“, sagte Melissa.

„Nichts Wichtiges. Sie haben mir gesagt, was ich wirklich wissen muss.“

Seine Stimme hörte sich wieder normal an, und als Rex auf Jonathans Auto zulief, sah er müde aus. Die Energie, die während der plötzlichen Transformation seinen Körper durchströmt hatte, war weg.

Jessica und Jonathan tauschten vorsichtige Blicke, dann folgten sie Melissa, die besorgt hinter Rex herlief.

„Was ist mit ihr?“, rief Dess. Jessica hielt inne und sah über ihre Schulter. Dess sah auf Angie hinab wie auf einen besonders interessanten Käfer, den sie totgetreten auf dem Boden gefunden hatte.

Rex drehte sich nicht um, er redete zu der Wüste, die vor ihm lag.

„Sie geht zu Fuß. Sie kennt den Weg aus der Stadt.“