süßes oder saures
5.33 Uhr abends
24
„Könnte sein, dass Halloween ausfällt“, sagte Don Day vom anderen Ende der Couch.
Jessica sah von dem Buch auf, in dem sie erfolglos zu lesen versucht hatte. Wie üblich lief der Wetterkanal. Ein Mann mit Fliege begleitete eine wirbelnde weiße Masse vom Golf von Mexiko bis in die Ebenen von Texas.
Sie kam direkt auf Oklahoma zu.
„Ist das Regen?“, fragte sie. „Heute Abend?“
„Das war ein Hurrikan, aber jetzt ist es nur noch ein tropischer Tiefausläufer“, sagte ihr Vater in seiner Wetterkanal-Lehrstimme. „Bis der hier ankommt, ist er nur noch ein Gewitter.“
„Nur ein Gewitter … “ Jessica starrte entsetzt auf das Satellitenbild im Fernsehen. „Äh, wann soll es angeblich hier ankommen?“
„Irgendwann heute Abend. Dann geht der ganze Spaß im Regen unter.“ Er sah sie irritiert an. „Hattest du etwa vor, von Tür zu Tür zu gehen?“
„Ach was. Natürlich nicht.“ Übertrieben verdrehte sie die Augen. „Vermutlich muss ich den ganzen Abend für Trigonometrie büffeln. Aber Gewitter sind irgendwie unheimlich, finde ich, besonders an Halloween.“
Vor allem um Mitternacht, und insbesondere dann, wenn man versucht, hundert Kilo Feuerwerk trocken zu halten, weil man eine Invasion von Monstern abwehren muss. In den letzten zwei Wochen hatte bei ihrer Planung niemand darüber geredet, dass es eventuell regnen könnte.
„Dad“, hob sie kurz darauf an und bemühte sich, möglichst desinteressiert zu klingen, „haben sie was gesagt, ob das Unwetter hier so um Mitternacht ankommen könnte?“
Er zuckte mit den Schultern. „Lässt sich nicht leicht vorhersagen, wenn ein Hurrikan oder auch nur ein tropisches Tiefdruckgebiet an Land angekommen ist. Könnte bis morgen früh dauern. Löst sich vielleicht auch in Luft auf. Wenn es sich mit unverminderter Stärke weiterbewegt, ist es zwischen neun und zehn hier.“
„Was soll’s“, verkündete Beth, die im Türrahmen aufgetaucht war. „Ich gehe auf Tour, auch bei golfballgroßen Hagelkörnern. Oder Golfballhagel.“
Jess sah zu ihrer kleinen Schwester auf und musste einen Lachanfall unterdrücken. Acht Kleiderbügel, die mit schwarzem Papier verkleidet waren, standen von Beths Schultern in alle Richtungen ab und wippten heftig. Ihr Gesicht verschwand beinahe unter schwarzem Make-up, wodurch das Weiße in ihren Augen betont wurde, außerdem trug sie Vampirzähne aus Plastik.
„Was soll denn das darstellen?“
„Ich bin eine Tarantel, Dummchen.“ Beth trat einen Schritt näher an die Couch und richtete eins ihrer Beine so aus, dass es ihren Vater bedrohte.
„Autsch“, sagte er, ohne den Wetterkanal aus den Augen zu lassen.
„Mich nennst du Dummchen. Schau mal in den Spiegel.“
Dann runzelte Jessica die Stirn. „Woher hast du die Idee?“
„Von Cassie. Wir gehen beide als Taranteln. Sie hat da dieses Ding mit den Spinnen.“
Jessica lief es kalt den Rücken hinunter. „Kommt sie heute Nacht hierher?“
„Wieso? Hast du was gegen Cassie?“, fragte Beth zuckersüß.
„Nein, sie ist hinreißend.“ Jessica vertiefte sich in ihr Buch.
Cassie war seit jenem schrecklichen Spaghettiabend ein paar Mal da gewesen. Die beiden hatten Jessica bis jetzt in Ruhe gelassen, aber heute wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie genau um elf Uhr dreißig auftauchen würden, wenn sie sich aus ihrem Zimmer schleichen musste.
Eins hatte die Sache jedoch für sich: Cassie würde hier wesentlich sicherer sein als in Jenks. Wenn erst mal Mitternacht war, würde der Riss anfangen, sich auszudehnen, und am sechsunddreißigsten Breitengrad entlangsausen. Hoffentlich würde er nicht so weit kommen, bis er die Häuser im Norden von Bixby schluckte. Aber selbst dann würden es die Darklinge vielleicht nicht so weit schaffen.
Jedenfalls hatte sich Jessica das die ganze Woche lang eingeredet.
„Mit uns brauchst du heute nicht zu rechnen.“ Beth schwenkte ihre Hüften, sodass eins ihrer Tarantelbeine Jessica am Kopf traf. „Ich fahre zu ihr.“
„Was, nach Jenks?“
Beth sah Jessica überrascht an, und sogar ihr Vater trennte sich mit den Augen vom Wetterkanal.
„Äh, ja, Jess. Weil, äh, Cassie da wohnt.“
„Wann kommst du nach Hause?“
„Jess, du benimmst dich komisch. Dad, sag Jess, dass sie sich komisch benimmt.“
„Jessica?“, fragte ihr Vater.
„Na ja, in einem fremden Stadtteil von Tür zu Tür zu gehen und so.“
Beide sahen sie noch ein bisschen länger irritiert an, und dann breitete sich allmählich ein wissendes Lächeln auf Beths Gesicht aus.
Ihr Vater wandte sich wieder dem Fernseher zu. „Mach dich locker, Jessica. Es ist Halloween. Cassies Großmutter hat versprochen, dass sie um elf im Bett liegen und nicht zu viele Süßigkeiten essen werden.“
Die zweite Hälfte dieses Satzes schien ihn an die offene Tüte mit Candy Corn auf dem Tisch zu erinnern, denn er beugte sich vor und nahm sich eine Handvoll.
„Mom sagt, das soll man nicht essen“, sagte Beth.
„Mom ist noch nicht zu Hause“, antwortete er.
„Das ist aber gefährlich!“, rief Jessica.
„Was?“, fragte ihr Vater. „Candy Corn?“
„Nein. Wenn man sich da draußen auf dem Land aufhält.
Wenn möglicherweise ein Sturm aufkommt und … all so was.“
Beth grinste immer noch. „Du willst nicht, dass ich heute Nacht in Jenks bin, oder?“
Jessica ignorierte die Bemerkung und starrte in ihr Buch, bemüht, nicht an ihrer Lippe zu kauen. Ihre kleine Schwester würde sich direkt in den Weg der Darklinginvasion begeben, aber sie hatte nicht die leiseste Idee, wie sie das verhindern sollte. Beth machte so ein selbstgefälliges Gesicht – diesmal war sie wirklich bereit, alles auszuplaudern, was sie wusste, wenn sich Jessica ihr in den Weg stellen würde.
Und heute durfte sie auf keinen Fall Hausarrest riskieren.
„Komm jetzt, Dad, lass uns fahren“, sagte Beth. „Der Wetterkanal wird auch noch da sein, wenn du zurückkommst. Als ob sich da je was ändern würde.“
„Das Wetter ändert sich ständig, Schlaumeier“, sagte er, griff nach seinen Schlüsseln und stand auf.
Jessica fiel auf, dass sie sich gern in ein Raubtier verwandelt hätte, so wie Rex, um jetzt gleich nach draußen zu schleichen und am Wagen ihres Vaters das Anlasserkabel abzumachen.
Sie wusste aber eigentlich gar nicht, wie Anlasserkabel aussahen, und war sich auch nicht hundertprozentig sicher, ob sie die Motorhaube überhaupt öffnen konnte.
Was könnte sie sonst noch tun? Erklären, dass sich die Nahrungskette umkehren würde? Dass Bixby eine Invasion bevorstand? Sie würden höchstens denken, dass sie Witze machte, oder sie für verrückt erklären.
Sie würde sich um Mitternacht darum kümmern müssen.
Zusätzlich zu all den anderen Sachen würde Jessica heute Nacht auch noch dafür sorgen müssen, dass ihrer kleinen Schwester nichts passierte.
„Bis später, Jess“, höhnte Beth von der Haustür.
Jessica antwortete nicht, und der Knall, mit dem die Haustür zuschlug, hatte etwas Endgültiges. Sie sah auf ihre Uhr, allmählich krampfte sich ihr der Magen zusammen.
Es war erst Viertel vor sechs, und Samhain fing jetzt schon großartig an.