in sachen spaghetti

6.23 Uhr abends

19

„Heute gelten die üblichen Regeln“, verkündete Beth.

Jessica sah von ihrem Physikbuch auf. „Äh, Beth? Darf ich dich darauf hinweisen, dass ich mich in meinem eigenen Zimmer aufhalte, nicht in der Küche? Es besteht also gar keine Möglichkeit, wie ich gegen die Regeln verstoßen könnte.“

„Ich wollte dich bloß warnen“, antwortete Beth.

„Mich warnen?“, fragte Jessica genervt.

Es war Beths Spaghettiabend, was bedeutete, dass Jessicas kleine Schwester das Essen kochte. In den vergangenen vier Jahren, seit Beth neun Jahre alt geworden war, hatte das Ritual jeden Mittwochabend stattgefunden und war nur in den ersten chaotischen Wochen nach der Ankunft der Familie in Bixby ausgefallen.

Die eine Regel von Beths Spaghettiabend war einfach: Beth kochte, und alle anderen hielten sich von den Töpfen fern.

Schon jetzt strömte der Geruch nach schmorenden Zwiebeln durch die offene Tür in Jessicas Zimmer. Der vertraute Duft hatte sie bis zu dieser Unterbrechung froh gestimmt.

„Was ist es genau, wovor du mich warnen willst?“

„Dass ich die Regel heute auf die Spitze treiben werde“, sagte Beth.

„Was soll das heißen? Das wir alle das Haus verlassen müssen, während du kochst?“

„Nein, aber … “ Beth rümpfte die Nase und prüfte über ihre Schulter, ob sie eventuell einen verbrannten Geruch entdeckt haben könnte. „Bleib einfach hier. Okay, Jess?“

„Warum?“

Beth lächelte. „Das ist eine Überraschung.“

Jessica dachte daran, Mom um ihr Urteil zu dieser neuen und lästigen Interpretation der Regel zu bitten, aber das war möglicherweise der Mühe nicht wert. Jessica hatte ohnehin vorgehabt, bis zum Essen zu lernen, und vielleicht verhinderte die Drohung hinter Beths Konfusion, dass sie vor dem Fernseher endete.

Physik stand als einziger Test vor Halloween auf Jessicas Kalender, und es wäre doch eine Schande, wenn die Welt mit einer Vier plus unterginge.

„Tust du’s?

„Klar. Wenn du willst“, sagte Jessica und verdrehte die Augen.

„Prima. Meine kleine Überraschung wird dir gefallen.“

„Okay.“ Beths triumphierender Blick überzeugte Jessica wenig. „Kann’s kaum erwarten.“

„Kann ich die Tür zumachen?“

Jessica stöhnte. „Riecht hier nicht irgendwas angebrannt, Beth?“

Ihre kleine Schwester machte auf dem Absatz kehrt, ein alarmierter Blick huschte über ihr Gesicht. Irgendwas brannte tatsächlich an. Trotzdem gelang es ihr noch, die Tür hinter sich zuzuknallen, bevor sie floh.

Jessica lauschte auf ihre Schritte, die in Richtung Küche donnerten, und fragte sich, was das für eine Überraschung sein könnte. Der Umgang mit Beth war in der vergangenen Woche viel einfacher gewesen, sie hatte viel weniger herumgeschnüffelt, von ihren neuen Freunden bei den Majorettes erzählt und ihre Schritte geübt. Vielleicht hatte sie wirklich vor, sie alle mit irgendetwas zu überraschen.

Und selbst wenn sie Ärger machen wollte, konnte Beth kaum etwas im Ärmel haben, was die Sache noch schlimmer machen würde.

Es hatte keine weiteren Finsternisse – oder Zeitbeben oder was auch immer von dem Primärdingsda – seit der Mittagspause in der vergangenen Woche mehr gegeben. Melissa wusste aber zu berichten, dass die Darklinge bald mit einer rechneten. Nach der letzten Finsternis hatte sich der Riss in Jenks zu einem Oval etwa von der Größe eines Tennisplatzes ausgedehnt. Inzwischen kontrollierten sie abwechselnd jede Midnight, nur um sicherzugehen, dass keine normalen Leute in den Riss gelangt waren. Neben dem üblichen blauen Leuchten war da drinnen alles rot gefärbt und nichts erstarrt – Herbstblätter fielen, Regenwürmer krochen, Moskitos summten und stachen. Zu seltsam für Worte.

Dess meinte, mit jeder Finsternis würde der Riss größer werden, wie bei einer Laufmasche in alten Strümpfen. An Halloween würde sich die Struktur der geheimen Stunde schließlich auflösen, und im Umkreis von Meilen würden sich alle in einer blau-roten Welt wiederfinden.

Als Jessica ihr Physikbuch durchblätterte, während sie sich auf ein Kapitel mit dem Titel „Wellen und du“ zu konzentrieren versuchte, tauchten immer wieder Bilder von der Nacht am letzten Mittwoch auf – wie Rex ausgesehen hatte, als er aus der Wüste zurückgetaumelt kam, bleich wie ein Gefangener, der Jahre in einer winzigen Zelle ohne Licht verbracht hatte.

Wie er sich in seiner Wut in etwas Unmenschliches verwandelt hatte.

Rex sagte, er könnte sich noch immer nicht erinnern, was ihm da draußen in der Wüste zugestoßen war, und selbst Melissa hatte nicht tief genug in ihn eindringen können, um irgendetwas auszugraben. Er meinte, er hätte aber seltsame Träume, als ob ihm alte Darklingerinnerungen in Hochauflösung durch den Kopf wandern würden. Alles aus einer Unterhaltung mit den Alten in der Wüste.

Es war eher eine Gehirnwäsche als eine Unterhaltung gewesen, soweit Jessica erkennen konnte. Vielleicht auch eine komplette Körperwäsche – seine gespenstische Transformation schien Angies Vorwürfe wahr werden zu lassen, als ob Rex inzwischen wirklich zum Monster geworden wäre.

Jessica fröstelte bei der Vorstellung und gab den Versuch auf, sich auf toroidale und sinusförmige Wellen zu konzentrieren. Stattdessen schloss sie die Augen und sog den Duft nach Tomatensoße auf, der unter ihrer Tür hervorkam. Wenn sich alles verändern würde, dann waren diese letzten Scheibchen Normalität kostbar.

Nur noch zweimal Mittwoch vor Samhain. Warum sollte sie Beths Spaghettiabend nicht genießen, solange es ihn gab?

„Essen ist fertig!“, rief Beth direkt hinter ihrer Tür.

Jessica schreckte aus ihren Träumen auf und blinzelte.

„Danke, dass du mich erschreckt hast.“

„Gern geschehen.“ Schritte entfernten sich über den Flur.

Jessica lächelte. Mit der krampfhaft begeisterten Beth konnte sie umgehen. Sie ließ sich vom Bett auf die Füße rollen, streckte sich, um einige Muskelverspannungen von zu viel Lernen zu lösen, dann öffnete sie die Tür.

Der verführerische Duft von Beths Tomatensoße wogte aus der Küche auf sie zu, und die Geräusche einer angeregten Unterhaltung ihrer kompletten Familie schallten durch das Haus.

Nur für diese Nacht könnte sie so tun, als ob hier in Bixby alles in Ordnung wäre.

Als sich Jessica aber den Flur hinunter in Bewegung setzte, hörte sie, wie sich eine fremde Stimme erhob, leise, aber irgendwie selbstbewusst – und irgendwie nebulös vertraut.

„Kann nicht sein“, sagte sie leise. Beth redete jetzt wieder.

Sie musste sich verhört haben.

Aber Jessicas Furcht wuchs, als sie an der Küchentür ankam und den leeren Tisch erblickte – zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Bixby war der Esszimmertisch gedeckt worden.

Und das hieß, es war Besuch im Haus.

Sie ging durch die Küche ins Esszimmer, bis sie vier Personen gegenüberstand: Beth, Mom, Dad …

Und Cassie Flinders.

„Hallo, Jess!“, sagte Mom. „Beth hat heute eine Freundin aus der Schule mitgebracht.“

Jessica brachte nur ein zombiehaftes „Ach ja?“ heraus.

„Cassie ist mit mir in der Schulgarde“, sagte Beth, wobei ein amüsiertes Lächeln ihre Lippen umspielte. Sie wandte sich an das Mädchen. „Ich habe dir von meiner Schwester erzählt.“

Cassie Flinders musterte sie von oben bis unten, als ob sie sie mittels einer mentalen Checkliste überprüfen würde.

„Hallo“, krächzte Jessica mit blecherner Stimme, während ihre Gedanken rasten.

Rex und Melissa waren doch noch einmal nach Jenks zurückgekehrt, um sich um Cassies Erinnerungen zu kümmern, oder? Das Mädel sollte doch nur noch äußerst undefinierbare Bilder im Kopf haben über das, was ihr in der blauen Zeit zugestoßen war?

„Ich glaub, wir sind uns schon mal begegnet“, sagte Cassie schließlich.

„Wirklich?“, fragte Mom mit einem strahlenden Lächeln.

„Wo war denn das?“

„Ja, wo denn?“, fragte Jessica, nahm vor ihrem leeren Teller Platz und bemühte sich um eine unauffällige Stimme und einen möglichst wenig verblüfften Gesichtsausdruck. „Ich wüsste nicht, wo das gewesen sein könnte.“

„Ich weiß es auch nicht so genau.“ Cassies Augen erforschten noch immer Jessicas Gesicht, als ob sie sich deren Züge bis ins Detail einprägen wollte. „Ich habe aber ein Bild von dir gezeichnet.“

„Du hast was?“

Cassie zuckte mit den Schultern. „Ein Bild gezeichnet, mit Bleistift. Neulich, als ich krank war.“

„Stimmt“, sagte Beth. „Und es ist ziemlich gut geworden.

Sie hat es mitgebracht, um es euch zu zeigen. Man sieht wirklich, dass du das bist, Jess. Cassie zeichnet andauernd.“

„Ihr beiden könnt euch aber nicht erinnern, wo ihr euch begegnet seid?“, fragte Mom.

„Nein, keine Ahnung“, sagte Jessica. „Ich war jedenfalls noch nie in Jenks.“

„In Jenks?“, wiederholte Beth strahlend. „Woher wusstest du, dass Cassie da draußen wohnt?“

„Ich weiß nicht … woher ich das wusste“, sagte Jessica zögernd. Inzwischen sahen sie sogar Mom und Dad seltsam an.

Ihr fiel auf, dass ein Themenwechsel an der Zeit war. „Du bist also auch eine Majorette?“

„Nein, ich spiele Klarinette.“

„Und sie ist eine richtige Künstlerin“, wiederholte Beth.

„Ja“, sagte Jessica. „Das hab ich schon verstanden.“

„Sie hat außerdem noch eine Zeichnung von diesem anderen Typen“, sagte Beth. „Wie war doch gleich der Name, den du druntergeschrieben hast? Jonath … “

„Ach, warte mal!“, rief Jessica, und spielte die einzige Karte aus, die sicher zu einem Themenwechsel führen würde. „Bist du nicht Cassie Flinders?“

Einen Moment antwortete niemand darauf, dann nickte Cassie langsam.

„Also, Jess“, sagte ihre Mutter. „Ich bin sicher, dass Cassie nicht über diese Sache von der letzten Woche sprechen will, okay?“

„Entschuldigung.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nur sagen, dass das doch alles in den Nachrichten war.“

„Jessica.

Sie sagte nichts mehr, während Beth die Pasta servierte, Spaghetti auf ihre Teller gleiten und Soße oben draufplatschen ließ, während sich die Verlegenheit in die Länge zog.

Unangenehmes Schweigen machte Jessica nichts aus, definitiv weniger jedenfalls als unwillkommene Worte, wenn sie aus Beths Mund kamen. Die kurze Unterbrechung der Unterhaltung verschaffte ihr eine kleine Pause, um herauszufinden, was passiert war.

Rex hatte behauptet, Melissa hätte Cassies Hirn überprüft, um sicherzugehen, dass sie nichts ausgeplaudert hatte. Aber statt loszuplappern, hatte sie gezeichnet, was sie gesehen hatte.

Jessica fragte sich, wie viele Bilder Cassie noch gemalt hatte, bevor ihre Erinnerungen gelöscht worden waren. Eins von Jonathan, offensichtlich, und möglicherweise von den anderen Midnightern auch. Und deren Namen hätte sie auch darunterschreiben können.

Hatte sie den schwarzen Katzengleiter gezeichnet oder den Darkling, den sie gesehen hatte?

Alle fingen an zu essen, und bald fingen Beth und Cassie an, Geschichten von den anderen, langweiligen Gardemitgliedern zu erzählen, als ob an diesem Tisch nie etwas Seltsames erwähnt worden wäre.

Jessica fragte sich, ob die Zeichnungen Cassies Erinnerungen auf die Sprünge helfen und aus all den verborgenen Ecken hervorzerren würden, in die Melissa sie gestopft hatte. Oder ob sie sich nach der Begegnung mit der realen Jessica an mehr Ereignisse aus jener Nacht erinnern würde.

Egal, viel hatte Cassie nicht preiszugeben – nur ein paar Namen, ein paar vage erinnerte Gesichter und vielleicht noch eine schwarze Katze oder eine Monsterspinne aus einem Albtraum. Sie konnte Jessica und Jonathan unmöglich mit den anderen Midnightern in Verbindung bringen und wusste auch sonst nicht, was an jenem Tag wirklich geschehen war.

Cassie Flinders war eigentlich kein Problem.

Wie üblich war es Beth.

Sie hatte Jonathans Gesicht bereits erkannt und erinnerte sich möglicherweise von Telefonaten, dass Jessica Freunde hatte, die Rex und Dess und Melissa hießen. Zu allem Überfluss wusste Beth, dass Jessica sich gern um Mitternacht hinausschlich – genau dann, wenn der expandierende Riss in Jenks am gefährlichsten war.

Und – wie Jessica aus langjähriger Erfahrung wusste – wenn einem jemand wegen einer winzigen Information gewaltig auf den Zeiger gehen konnte, dann war das Beth.

Jessica dachte über Rex’ neue Taktiken beim Gedankenlesen nach. Er hatte Melissa daran gehindert, in Angies Gehirn herumzupfuschen, obwohl Angie seit Jahren über die geheime Stunde Bescheid wusste. Bei Beth lagen die Dinge jedoch anders. Wenn an der Bixby Junior High Gerüchte aufkommen würden, dass um Mitternacht in der Nähe der Bahnlinie von Jenks komische Sachen passierten, dann würde Rex mit kleinen Schwestern vielleicht eine Ausnahme machen.

Jessica beschloss, ihm gegenüber nichts von dieser Sache zu erwähnen und in Melissas Nähe auch nicht zu stark daran zu denken. Ein kurzer Blick in Beths Hirn würde offenbaren, dass sie mehr über die Midnight wusste, als gut für sie war.

Viel mehr, nachdem sie sich jetzt mit Cassie Flinders angefreundet hatte.

Jessica aß weiter und versuchte, die Aromamischung aus lange geschmorten Tomaten, Spaghetti Nr. 18 und fast zu sehr eingekochten Zwiebeln zu genießen. Im Laufe des Essens – bei dem Beth Jessica etliche vielsagende Blicke zuwarf – hinterließen die Familienaromen jedoch allmählich einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund.

„Mom?“, fragte Beth, als sich das Mahl dem Ende näherte.

„Ja?“

„Darf ich irgendwann mal bei Cassie übernachten?“

Jessica sah, wie sich ein Lächeln auf den Gesichtern ihrer Eltern ausbreitete. Die Schulparade hatte sich ausgezahlt, großartig. Beth hatte in der neuen Stadt endlich eine Freundin gefunden. Von jetzt an würde alles viel einfacher werden.

„Natürlich darfst du das“, sagte Mom.

Beth strahlte und richtete ihren Blick auf ihre große Schwester, um in aller Deutlichkeit zu zeigen, dass sie wusste, wo sie mehr Hinweise finden würde und mehr Ärger machen konnte – da draußen in Jenks.

Jessica versuchte, ein unschuldiges Gesicht aufzusetzen, als ob sie heute Abend nichts gestört hätte, spürte aber, wie ihr das Lachen verging.

Es war einfach zu deprimierend. Sogar Beths Spaghettiabend war von der blauen Zeit berührt worden.