feuerwerk
6.29 Uhr morgens
22
„Wenn Rex nicht pünktlich auftaucht, bring ich ihn um.“
Jonathan sah Dess müde an, dann auf seine Uhr. „Er hat noch eine Minute.“
„Eine Minute zu leben, wolltest du sagen.“
„Eigentlich nicht“, widersprach Jonathan. „Entweder kommt Rex hier in einer Minute an, was bedeuten würde, dass er pünktlich ist und du ihn nicht umbringst. Oder er kommt zu spät, und dann ist er nicht hier, und du kannst ihn nicht umbringen. So oder so hat er noch mehr als eine Minute zu leben.“
Dess warf Flyboy einen wütenden Blick zu. Er argumentierte logisch, und das war um diese Zeit an einem Samstagmorgen absolut unfair.
„Jess“, sagte sie. „Sag Jonathan, er soll aufhören, so logisch zu sein.“
Jessica, die ihren Kopf verschlafen an Jonathans Schulter gelehnt hatte, wollte antworten, ihre Worte gingen aber in einem Gähnen unter. Am Ende fuchtelte sie nichtssagend mit der Hand durch die Luft.
„Wartet mal“, sagte Jonathan. „Sind sie das?“
Jessica setzte sich mit einem Ruck auf. „Was? In dem Ding?“
Dess fiel die Kinnlade runter. „Niemals!“
Ein pinkfarbener Cadillac rumpelte über den Acker auf sie zu und holperte mit seiner ausladenden Karosserie über die Furchen.
„Rex meinte, er hätte eine neue Karre“, sagte Dess in stiller Ehrfurcht. „Ich hätte aber nicht gedacht, dass er das Auto seiner Mutter meint.“ Ihr fiel auf, dass sie grinsen musste. Ihn damit aufzuziehen würde viel mehr Spaß machen, als ihn umzubringen.
Rex’ Mutter verkaufte Mary-Kay-Kosmetik von Tür zu Tür, und als Anerkennung für ihre millionste Gesichtsmaske oder etwas in der Art hatte sie den pinkfarbenen Cadillac bekommen. Dess hatte das sagenumwobene Fahrzeug aber noch nie gesehen. Rex weigerte sich, damit zur Schule zu fahren, und sie hätte nie geglaubt, dass er überhaupt jemals damit fahren würde.
Und da war er nun, bei Tagesanbruch kreuzte er durch Jenks, als ob ihm die ganze Stadt gehören würde.
Der Wagen glitt neben Jonathans Auto und hielt an, worauf Flyboy einen kurzen Lacher ausstieß, als sich das Fenster geöffnet hatte. „Mensch, Rex. Ding-dong! “
„Das ist leider Avon“, sagte Melissa, als sie auf der Beifahrerseite aus dem Cadillac stieg. „Gib dir ein bisschen mehr Mühe.“
„In Ordnung“, antwortete Jonathan. „Was allerdings gar nicht so schwer ist. Will sagen … “ Er breitete die Arme aus und deutete auf das Fahrzeug. „Es ist so pink. “
Flyboys Stimme versiegte, als Rex ausstieg, das Auto betrachtete und sagte: „He, du hast recht. War mir noch gar nicht aufgefallen.“
Dann drehte er sich lächelnd zu ihnen um.
Dess seufzte erleichtert. Das war seit Tagen der erste Witz von ihm. Mit seiner wirren Morgenfrisur sah er menschlicher aus als üblich. Vielleicht hatte die Wirkung der von Maddy in seinem Hirn entfesselten Darklinge ein wenig nachgelassen.
„Wie hast du deine Mom dazu gebracht, dass sie ihn dir leiht?“, fragte sie. Seit dem Unfall seines Vaters tauchte Rex’
Mutter nur selten in Bixby auf. Dess konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihrem Sohn die Schlüssel für eine morgendliche Ausflugsfahrt dagelassen hatte.
„Sie ist vorgestern Nacht zu Besuch erschienen“, sagte Rex.
„Und ich hatte die Idee, ihr das Kabel vom Anlasser rauszuziehen.“
Dess machte große Augen. „Wie bitte?“
„War ganz leicht. Ich bin rausgeschlichen, als sie auf der Toilette war, und hab das Kabel abgemacht.“ Rex setzte sein neues böses Lächeln auf. „Sie war in Eile, unterwegs zu irgendwem, wie üblich, also rief ich ihr ein Taxi. Sie hat schon einen anderen Caddy gemietet, also ist dieser hier meiner, bis ich ihr sage, dass er wieder in Ordnung ist.“
Dess tauschte einen Blick mit Jonathan, und sie sah, dass sogar Jessica wach genug geworden war, um sich beeindrucken zu lassen.
„Rex“, sagte Dess. „Das ist total kaltblütig.“
„Stimmt.“ Er nickte. „Ich brauchte aber ein Auto. Es gibt wichtige Dinge, um die wir uns kümmern müssen.“
„Zum Beispiel uns alle samstagmorgens um halb sieben aus dem Bett zu schmeißen?“, fragte Flyboy.
„Ganz genau.“ Rex sah auf seine Uhr. „Mir nach.“
Er führte sie über den Acker auf den Riss zu, und Dess war froh, dass sie ein Kleid angezogen hatte, das ihr nur bis ans Knie reichte. Um diese Zeit am Morgen war das hohe Gras reichlich feucht, und ihre Turnschuhe waren in Windeseile durchgeweicht, als ob sie durch eine Autowaschanlage geschlendert wäre.
Während sie liefen, erklomm die Sonne die Baumlinie in der Ferne und bohrte mit ihrem leuchtenden Auge endlich ein Loch in die Kälte vor Sonnenaufgang.
„Du weißt hoffentlich, was du tust, Rex.“
„Keine Sorge, Dess“, antwortete er. „Ich denke, das wird dich interessieren.“
„Morgens um sechs Uhr dreißig gebe ich mich mit
,interessant‘ nicht zufrieden, Rex.“
„Ich bin sicher, dass Jessica uns nicht enttäuschen wird.“
Dess sah Jessica an, die nur mit einem Schulterzucken antwortete.
Plötzlich fiel Dess auf, dass Melissa nicht mit ihnen gegangen war. „He, wo ist die göttliche Hure? Die hat sich doch nicht im Caddy auf dem Rücksitz schlafen gelegt, oder?“
Rex schüttelte den Kopf. „Sie wird in … zwei Minuten hier sein.“
„Super. Schon wieder ein Timing auf die Sekunde.“ Dess seufzte. „Hoffentlich klappt es diesmal besser als bei deinem letzten Plan.“
„Da ist nur eine Sache, Leute“, sagte Jessica nervös. „Cassie Flinders wohnt direkt da drüben. Was ist, wenn sie uns sieht?“
„Sie wird sich nicht an uns erinnern.“
„Bist du dir da sicher?“
Rex zog eine Augenbraue hoch. „Warum sollte sie?“
Jessica blickte mit einem unglücklichen Gesicht zu dem Wohnwagen der Flinders hinüber. „Also, eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, darüber zu reden, aber meine Schwester und sie haben sich … angefreundet. Ich hatte Angst, euch davon zu erzählen, falls … “ Ihr fehlten die Worte.
Falls die göttliche Hure beschließen sollte, das Hirn deiner kleinen Schwester in zwei Hälften zu zerteilen, dachte Dess.
Sie sah Rex an und fragte sich, ob er vorhatte, eine seiner Psychotransformationen hinzulegen. Nach einer Pause zuckte er aber nur mit den Schultern. „In Kürze werden alle über die blaue Zeit Bescheid wissen, Jessica. Es ist egal.“
„Puh“, sagte Jessica und sah verblüfft aus. „Da bin ich aber erleichtert.“
Flyboy legte seinen Arm um sie, lächelnd, aber Dess lief bei der Vorstellung, dass Rex die Geheimhaltung egal sein könnte, ein Schauer über den Rücken. Als sie sich umdrehte, um den Riss in Augenschein zu nehmen, sackte die Erkenntnis, was Samhain alles verändern würde, noch ein Stück tiefer.
Der Riss glühte hier in der normalen Zeit nicht rot, Dess konnte aber an der Farbe des Grases seine derzeitige Form erkennen, als ob die Kontorsion ein riesiges Stück Rasenanlage wäre. Vielleicht wandelte der dunkle Mond das Chlorophyll um oder so ähnlich. Sie prägte sich die Umrisse ein: ein langes, schmales Oval, das fast genau von Osten nach Westen zeigte.
Sie zog den GPS-Empfänger aus der Tasche und notierte die Koordinaten in der Mitte. Ziemlich genau auf dem 36. Breitengrad.
Sechs Uhr dreißig Aufstehen rechtfertigte das vielleicht nicht, aber es war interessant.
„Okay, gut. Keine Daylighter in der Nähe“, sagte Rex.
„Das hängt damit zusammen, dass die im Bett liegen“, erläuterte Dess.
Rex ignorierte sie. „Ich will hier heute ein paar Experimente machen, und ich will, dass ihr alle zuseht. Wenn Samhain kommt, wird ganz Bixby – mindestens – von dieser Kontorsion geschluckt werden. Und wie wir bemerkt haben, hat der Riss nicht genau die gleiche Größe wie die blaue Zeit. Habt ihr alle gesehen, wie in der Midnight die Blätter gefallen sind?“
„Haben wir“, sagte Dess. „Aber was soll das? Jetzt ist nicht Midnight.“
„Noch nicht“, sagte Rex.
„Nein.“ Dess warf einen Blick auf den GPS-Empfänger.
„Und wird es in den nächsten zweiundsechzigtausendsechshundertfünfzehn Sekunden auch nicht werden. Weshalb mussten wir dann so …?“
„Au Mann!“, rief Jonathan dazwischen. „Was ist mit Melissa los?“
Dess drehte sich um und sah, wie der Cadillac über den Acker galoppierte. Er erklomm den Bahndamm und nahm die Schienen in die Mitte, Schotter und Staub stoben unter den Reifen auf, als er wie ein frenetischer, pinkfarbener Güterzug mit flackernden Scheinwerfern darauf entlangraste.
„Ist die übergeschnappt?“, rief Dess.
„Keineswegs“, sagte Rex mit einem Blick auf seine Uhr. „Sie liegt genau in der Zeit. Wir sollten aber vielleicht beiseitetreten.“
Die vier schlidderten den Bahndamm hinunter, und der Cadillac schien dazu zustimmend zu röhren, beschleunigte und schoss vorwärts, die Reifen wirbelten eine riesige Staubwolke auf.
Dess spürte ein Kribbeln in ihren Fingern, stärker als in der Cafeteria, und plötzlich wusste sie, was geschehen würde.
„Sie kommt wieder“, sagte sie leise.
„Du hast es erfasst“, antwortete Rex.
Dess sah erschrocken zu dem rasenden Cadillac hoch. „Sie wird aber doch nicht …?“
Das Tintenblau der Finsternis strich von Osten heran, über den wolkenlosen Himmel und freie Felder, brachte den eisigen Wind zum Erliegen und bedeckte die Welt mit Stille. Der dunkle Mond schoss am Himmel auf wie eine riesige, fliegende Untertasse.
Der Cadillac rollte dennoch in dem rot getönten Oval des Risses weiter.
Der Motor ging aus, die Scheinwerfer wurden dunkel, er erstarrte aber nicht wie erwartet. Der Wagen trieb weiter, bis er schließlich in einem Staub- und Schotterregen rutschend zum Stehen kam.
Dess nahm den Anblick blinzelnd in sich auf: Der pinkfarbene Cadillac hatte Melissa nicht durch die Windschutzscheibe geschleudert, weil er seinen Schwung behalten hatte.
„Ist sie dadrinnen okay?“, fragte Flyboy.
Rex nickte. „Es geht ihr gut. Wie ich vermutet hatte, befördert der Riss alles in die blaue Zeit, nicht nur Leute. Ich nahm an, wenn tote Blätter immer noch fallen konnten, dann würde auch totes Metall rüberkommen.“
„Du hattest verdammtes Schwein, dass du richtig vermutet hast.“ Dess machte sich nicht mehr viel aus Melissa, sie wünschte sie aber auch nicht ins Krankenhaus zurück. Die Narben, die sie behalten hatte, waren unheimlich genug.
„Sie war angeschnallt“, sagte Rex gelassen.
„Moment mal, Rex“, sagte Dess. „Woher wusstest du, dass es eine Finsternis geben wird?“
Er schwieg eine Weile, und seine violetten Augen verengten sich. „Es gibt ein Muster. Ich kann sie kommen sehen, jede einzelne zwischen jetzt und Samhain. Diese hier müsste ein bisschen länger dauern.“
„Du kannst ein Muster sehen?“, rief Dess. „Dann schreib es für mich auf!“
Er schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht in Zahlen ausdrücken, ohne dass mir der Kopf platzt. Aber sie kann es dir geben.“ Er deutete auf den Cadillac.
Die Fahrertür öffnete sich, und Melissa stieg aus, mit einem breiten Grinsen von einem Ohr zum anderen. „Das war cool!“
Dess schüttelte den Kopf. Nie wieder würde Melissa sie berühren.
„Ich dachte, du hättest Angst vor schnellem Fahren“, sagte Jessica.
Die göttliche Hure zuckte mit den Schultern. „Man muss sich seinen Ängsten stellen, um sie zu bewältigen, Jess. Das hat mir Rex kürzlich erklärt.“
„Ihr seid beide bescheuert“, sagte Dess leise.
Rex zog eine Augenbraue hoch. „Bei diesem Experiment ging es nicht nur um den Kick, Dess. Wir mussten sichergehen, dass an Samhain, wenn die Midnight eintrifft, nicht alle umkommen, die zufällig in einem Auto sitzen. Womit wir eine Sorge weniger haben.“
Für kurze Zeit herrschte Schweigen, und Dess fiel auf, dass sie daran gar nicht gedacht hatte. Wenn sich der Riss wirklich so sehr ausweiten würde, dass er Millionen Menschen schlucken könnte, und von denen nur ein Prozent um Mitternacht fuhr, dann waren das zehntausend Melissas, die alle auf einmal durch die Windschutzscheiben flogen.
Sie schluckte. Diese Sache wurde einfach immer heftiger, je länger sie darüber nachdachte.
„Autos sind also kein Problem“, sagte Flyboy und stieß sich vom Boden ab. „Aber was ist mit Flugzeugen?“
Rex dachte kurz nach. „Kleine Flugzeuge können notlanden. Aber bei den großen Verkehrsflugzeugen wird es schwierig.“
„Wir könnten an Halloween an alle Flughäfen Bombendrohungen durchtelefonieren“, schlug Jonathan aus der Luft vor.
„ Bomben drohungen?“, rief Jessica aus. „Moment mal, Rex.
Warum reden wir überhaupt über all das? Hast du nicht gesagt, wir würden versuchen, Samhain zu verhindern? Ich dachte, es ginge darum, dafür zu sorgen, dass halb Oklahoma nicht von der blauen Zeit geschluckt wird.“
Rex holte tief Luft, dann schüttelte er den Kopf. „Wir können zu verhindern versuchen, was passieren wird – die schlimmsten Unfälle, einen Teil der Panik. Wir können die meisten unnötigen Todesfälle verhindern.“
„Die ,unnötigen‘ Todesfälle, Rex?“, sagte Dess. „Willst du behaupten, dass einige Todesfälle nötig sind?“
Er fixierte sie mit kaltem Blick. „Die Raubtiere kehren zurück, Dess. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir nicht jeden retten können.“
Sie erwiderte seinen Blick. Dieser neue, darklinginfizierte Rex schien sich überhaupt nichts daraus zu machen, das Undenkbare zu denken. Der alte Rex wäre bei der Vorstellung eines Todesfalls entsetzt gewesen, und dieser hier, der redete über tausende wie über die Bixby Tigers, wenn sie gerade mal wieder verloren hatten.
„Wir können uns nur an die alten Traditionen halten“, sagte Melissa. Sie lehnte an Rex’ Seite.
„Und das wäre?“, fragte Dess. „Uns verkleiden?“
„Nur zu“, sagte Rex. „Aber an diese Tradition hatte ich nicht gedacht. Wir müssen Leute zusammenbringen und ihnen beibringen, sich selbst zu verteidigen. In der Zwischenzeit müssen wir die Darklinge so lange wie möglich aufhalten.“ Er sah Jessica an. „Das ist vielleicht der Grund, weshalb du hier bist.“
„Weshalb ich wo bin?“, fragte Jessica.
Rex’ Augen wurden schmaler. „Hier in Bixby, Jessica. Hier auf der Erde. Du bist schließlich der Flammenbringer, und wir werden ein richtig großes Freudenfeuer brauchen.“
Rex hatte drei Experimente für den Riss mitgebracht.
Als Erstes ließ er Jessica eine Kerze anzünden und sich dann entfernen. Normalerweise wäre die Kerze ausgegangen, sobald Jessica ihre Hand wegnahm – ohne den Flammenbringer gab es kein Feuer in der blauen Zeit.
Doch als Jessica von der Kerze zurücktrat, erst nur ein kleines Stück, dann weiter, dann schließlich bis zur anderen Seite der rot glühenden Grenze, brannte die Kerze weiter. Ihre Augen weiteten sich. Der Riss funktionierte tatsächlich nach anderen Regeln. Wie der pinkfarbene Cadillac weitergerollt war, würde das Feuer weiterbrennen, wenn es erst in Gang war.
„Diesen Preis müssen die Darklinge zahlen, wenn sie die blaue Zeit schwächer machen“, sagte Rex. „Wenn normale Leute durch den Riss schlüpfen können, dann geht das auch mit Flammen.“
„Also kann jeder ein Feuer anzünden?“, fragte Dess.
„Das bezweifle ich.“ Rex versuchte ein paar Mal, sein Feuerzeug zu zünden. Es produzierte keinen einzigen Funken.
Wenn er aber den Hebel herunterdrückte und das Gasventil an die Kerze hielt, dann brannte es. Er lächelte und hielt die kleine, aber blendend helle Flamme hoch. „Wenn Jessica es einmal angezündet hat, kann sich ein Feuer selbst ausbreiten.
Leute können es weiterreichen.“
„Mensch, Jess“, sagte Jonathan. „Probier mal, ob deine Taschenlampe genauso funktioniert.“
Jessica wartete, bis sie alle ihre Augen bedeckt hatten, dann flüsterte sie den Namen von Bunsenbrenner und schaltete ihn ein. Dess, die zwischen ihren Fingern hindurchspähte, sah den weißen Strahl, der wie ein blendender Keil durch die blaue Zeit fuhr.
Als Jess sie aber auf die Schienen legte und zurücktrat, flackerte das Licht und ging aus.
„Hatte ich mir gedacht“, meinte Rex. „Die chemische Reaktion in einer Batterie ist zu kompliziert, um sich selbst zu erhalten – wie ein Automotor. Aber wenn Jessica eine Handvoll Taschenlampen einschaltet, können wir etliche Leute gleichzeitig schützen.“
„Schon, irgendwann. Aber das hier passiert um Mitternacht, Rex“, warf Jonathan ein. „Die Leute werden über ganz Bixby verteilt sein. Wie sollen wir die alle ohne Radio oder Telefon unter einen Hut kriegen?“
„Wir kriegen nicht alle unter einen Hut, Jonathan. Wir retten so viele wie möglich.“
Sie schwiegen alle wieder eine Weile.
Dess spürte, wie sich ein scheußliches Gefühl in ihrem Magen breitmachte. Zum ersten Mal fing sie an, diese Sache mit dem Weltuntergang ernst zu nehmen. Hier ging es nicht um die Rettung eines einzelnen Kindes. Das Leben von zahllosen Fremden hing von ihnen ab. Sie waren nur zu fünft.
Wie viele Leute konnte ein Darkling in einer Nacht verspeisen? Wie viele Darklinge gab es insgesamt? Bei dieser Rechnung platzte ihr fast der Kopf. Zahlen waren in Ordnung, wenn sie abstrakt blieben: Koordinaten oder Computerbits oder Sekunden von jetzt bis Mitternacht. Wenn sie aber Menschenleben repräsentierten, dann wurde die Vorstellung von all diesen Zahlen in einer Reihe plötzlich abscheulich.
Doch Rex stand da und plante gelassen die lange Midnight.
„Als Erstes müssen wir uns was ausdenken, wie wir so viele Leute wie möglich wach kriegen“, erklärte er. „Dann sollten wir uns ein Signal ausdenken, das man überall in der Stadt sehen kann. Das wird hoffentlich dafür sorgen, dass sich die Leute sammeln. Und zum Schluss brauchen wir eine Möglichkeit, wie wir sie alle gegen die Darklinge verteidigen können.“
Rex zog eine Rakete hervor. „Ich hab mir gedacht, mit Feuerwerk kann man alle drei Sachen auf einmal erledigen.“
Dess nickte. Rex ging zwar ziemlich kaltherzig an die Sache dran, brachte aber wenigstens was Sinnvolles zustande. Als Jessica ihr Talent gerade entdeckt hatte, hatte sie aus Neugier versucht, Goldregen in der blauen Zeit anzuzünden, die Feuerräder waren aber immer nach wenigen Metern ausgegangen.
Im Innern des Risses würden sie allerdings weiterbrennen – als kurzfristige Antidarklingflammenwerfer.
Jessica stand nur da und hörte verblüfft zu. Erst als Rex den Stiel der Rakete in den Kies steckte, riss sie sich zusammen.
Auf Knien setzte sie die Zündschnur in Brand, dann trat sie zurück, als die blendenden Funken am Raketenkörper entlangwanderten …
Mit einem Zischen schoss sie gen Himmel, vielleicht fünf Meter hoch, dann verlosch die Flamme plötzlich.
„War das ein Blindgänger?“, fragte Jonathan.
„Nein.“ Dess schüttelte den Kopf. „Der Riss ist dreidimensional. Oben geht er nur bis dahin.“ Sie konnten die erstarrte Rakete am Rand des Risses über ihnen erkennen, wo sie bis zum Ende der Finsternis bleiben würde, um dann weiterzufliegen.
Rex fing wieder an, über Verkehrsflugzeuge zu reden, die so hoch fliegen würden, dass sie der Riss an Samhain nicht erwischte.
Dess hatte genug über Flugzeugunfälle gehört. Sie wandte sich ab und ging zum Rand des Risses, wobei sie sich fragte, ob er immer noch wuchs.
Von Rex wollte sie eigentlich nur, dass er seine Darklingphobie gegen Zahlen überwand und ihr die exakten Daten und Zeiten aller bevorstehenden Finsternisse aufschrieb.
Wenn er mit seinem mathelädierten Hirn ein Muster erkennen konnte, würde Dess ganz sicher analysieren können, was los war. Dann konnten sie zu fünft etwas Sinnvolleres für Bixby tun, als mit Raketen zu zündeln.
Beispielsweise einen Weg finden, um diese Sache zu stoppen.
Plötzlich hörte Dess hinter sich Kies knirschen. Sie wirbelte herum – es war Melissa.
„Fass mich nicht an!“, fauchte sie.
Melissa hob abwehrend die Hände. „Entspann dich. Ich werde dich nicht zwingen.“
„Mich zwingen! Du wirst überhaupt nichts mit mir anstellen.“
„Hör zu, Dess, ich war dabei, als Madeleine Rex’ Erinnerungen aufgemacht hat. Ich kann sie dir geben.“
Dess schüttelte den Kopf.
„Tut mir leid, was ich dir angetan habe, Dess, okay? Aber wir müssen es wissen. Ich weiß, dass du weißt, wie ernst diese Sache ist.“
Dess wandte sich ab. Natürlich, die Gedankenleserin hatte ihren Ekel geschmeckt.
„Vielleicht gibt es einen Weg, das hier zu verhindern, Dess.
Aber den kannst nur du finden.“
Ein Bild, wie Darklinge in Bixby wüteten, tauchte vor Dess’ geistigem Auge auf, und einen Moment lang fragte sie sich, ob Melissa es dort platziert hatte. Natürlich, selbst wenn die Gedankenleserin sie manipulierte, das Bild würde in dreizehn Tagen Wirklichkeit werden, wenn sie keine Lösung fanden.
„Die Antwort könnte genau hier auf dich warten, mitten zwischen uns“, sagte Melissa. „Aber diese Finsternis ist bald zu Ende.“
Dess holte tief Luft. Sie wusste, dass sie die Wahl hatte: Entweder stellte sie sich der Berührung durch die Gedankenleserin, oder sie fand sich mit Rex’ unheilvollen Berechnungen ab. Entweder öffnete sie ihr Gedächtnis jetzt, oder sie sah bei dem Schlachtfest zu.
Es war nicht fair, wenn man Menschen zu tausenden retten sollte. Überhaupt nicht fair.
„Mach’s kurz“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen und streckte die Hand aus.
Melissa schloss die Augen.
Beim ersten Kontakt mit ihren Fingern drang etwas Massives und Finsteres in Dess hinein. Bilder flossen durch sie hindurch, eine Erde aus Drähten, rotes Feuer lief an den Längen-und Breitengraden entlang. Sie sah die Tage zwischen jetzt und Samhain um Mitternacht, stetig pulsierende Finsternisse, bis die blaue Zeit zersprang und der Riss über tausende von Meilen weiter aufbrach. Sie sah, wie lang er dauern würde, fünfundzwanzig Stunden erstarrte Zeit – Menschen, die im Riss um ihr Leben kämpften, während außerhalb alles erstarrt war und niemand etwas bemerkte.
Dann sah sie, welche Form der Riss wirklich hatte … und die Anfänge einer Lösung.
Dess entzog Melissa ihre Hand, als ihr bewusst wurde, dass sie in der Ferne ein Geräusch hörte. Es war ein leises Prasseln, wie leichter Regen auf einem Metalldach.
Sie wandte sich wortlos ab und lief an den Schienen entlang zu der Stelle, an der der Cadillac den Bahndamm hinaufgeröhrt war. Am rot glühenden Rand des Risses fiel etwas Leichtes wie ein dunkler Vorhang vom Himmel.
Dess streckte die Hand aus …
Staub sammelte sich allmählich auf ihrer Haut. Dann hörte sie ein hartes Ping auf der Schiene aus Metall neben ihr – das heruntergefallene Kieselsteinchen schlitterte an den Schienen entlang.
Sie trat ein paar Schritte zurück und sah nach oben, ihre Augen blieben an einem Fleck auf dem dunklen Mond hängen. Wie die angehaltene Rakete hing Staub und Schotter, die der Cadillac aufgewirbelt hatte, noch über ihnen und schwebten in der erstarrten Zeit. Aber in der Staubwolke fehlte ein langes, ovales Stück …
Dess nickte. Plötzlich ergab das Ganze einen Sinn. Die Reifen des Cadillacs hatten beim Eintreten der Finsternis viele Teilchen aufgewirbelt, die dort oben blitzschnell erstarrten, bis die normale Zeit wieder anfing. Der Staub innerhalb des Risses war jedoch zu Boden gefallen, mit der regulären Schwerkraft.
Jetzt konnte Dess die ganze Sache in drei Dimensionen sehen.
Seine blasenartige Form war aus der Wolke ausgeschnitten, wie ein langes, ovales Stück aus einem Berg.
Warum rieselte dann aber immer noch Staub nach unten?
Dess ging wieder an den Rand, streckte noch einmal ihre Hand aus und erkannte, dass der Staub jetzt an den Schienen entlang etwas weiter hinten fiel.
Natürlich … der Riss wurde größer, zerlegte die blaue Zeit in zwei Hälften. Und während sich seine Ränder nach außen bewegten, fiel mehr schwebender Staub zur Erde.
Dess sah nach oben, ihr Herz schlug schneller. Sie sah tatsächlich zu, wie sich der Riss ausbreitete. Sie spähte in die verschwommene Wolke aus schwebendem Staub, um die exakten Ausmaße erkennen zu können, und verfluchte das schwache blaue Licht. Wenn Rex sich schon auf dramatische Experimente verlegte, warum hatte er dann beim Eintritt der Finsternis keine Wolke aus Tischtennisbällen losgelassen, damit man sehen konnte, was sich wirklich abspielte? Dann hätte Dess berechnen können, wie schnell sich der Riss in der blauen Zeit ausbreitete und in welche Richtung.
Sie stolperte den Bahndamm hinunter bis zum längeren Rand des Risses und streckte die Hand aus. Hier fiel fast kein Staub.
„Dess?“, rief Rex.
„Warte.“ Sie kletterte wieder zu den Schienen hoch. Ja, der Riss breitete sich an der kurzen Seite des Ovals viel schneller aus.
Sie rannte zu den anderen zurück, vorbei an dem Cadillac bis ans andere Ende des Risses. Als sie aufsah, rieselte ihr Staub in die Augen. Auch hier fiel mehr Staub. Aber warum bewegte er sich an den Eisenbahnschienen entlang?
Sie schloss die Augen, um zuzulassen, wie Melissas Wissen in ihr Gestalt annahm.
„Na klar“, sagte sie laut.
„Was ist klar?“, rief Rex.
Dess winkte ab. Sie konnte es jetzt sehen – so offensichtlich, dass sie sich gern an die Stirn geschlagen hätte, weil sie es vorher nicht bemerkt hatte. Bis jetzt hatte sie vermutet, der Riss würde sich wie das Universum ausbreiten – eine große, fette Blase, ein Raum. Wenn er aber stattdessen lang und schmal war?
Der Riss verlief in zwei Richtungen, an einer einzigen Achse entlang, genau wie ein echter Riss in einem Stück Stoff. Was befand sich aber an jedem Ende?
Dess rief sich die Karte des Landes vor Augen, die sie im Kopf hatte, und wusste auf Anhieb, was los war und warum dieser gottverlassene Flecken genau in der Mitte des Risses lag.
Jenks lag auf halbem Wege nach Nirgendwo, genau in der Mitte zwischen dem Stadtzentrum und der tiefsten Wüste.
Die blaue Zeit öffnete sich lang und gerade, wie eine Art Darklingautobahn, ein Kanal zwischen Räubern und Beute.
Im Westen führte er in die Berge, wo die ältesten Geister lebten, jene, die seit Jahrtausenden nichts Gescheites mehr gefressen hatten. Und zur gleichen Zeit wanderte der Riss nach Osten, genau auf die bevölkerte Mitte von Bixbys Innenstadt zu.
„Dess?“, fragte Rex. Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit.
Sie antwortete immer noch nicht. Sollte er doch wieder seine Angstmaske aufsetzen.
Mit geschlossenen Augen lief Dess in Gedanken die Schienen entlang und rief sich die Bilder des Drahtgitterglobus vor Augen, den Melissa ihr übergeben hatte.
Was würde passieren, wenn der Riss einfach jedes Jahr weiter wachsen würde, wie eine brennende Leitung, die immer an Halloween über das Land sauste?
Er teilte sich an Bixbys schicksalsträchtigem sechsunddreißigsten Breitengrad entlang. Diese Linie führte im Osten nach Broken Arrow, weshalb die Grayfoots evakuierten. Dann flitzte er durch etliche kleine und mittelgroße Städte weiter, bis er irgendwann in Nashville ankam, das genau bei sechsunddreißig Grad und zehn Minuten lag. Von da aus würde er weitergehen und Charlotte in North Carolina auf fünfunddreißig Grad und vierzehn Minuten schlucken. Westwärts würde der Riss mitten durch die Innenstadt von Las Vegas kreuzen, deren Zentrum genau auf sechsunddreißig Grad und elf Minuten lag. Und würde hundert Meilen weiter nördlich von Opa Grayfoots neuer Behausung an L.A. vorbeikommen.
„Dess?“, rief Rex. „Was ist es?“
„Vielleicht können wir mehr Leute retten, als du glaubst, Rex. Oder die Darklinge wenigstens so lange aufhalten, bis wir Bixby organisiert haben.“
Er kam zu ihr hinübergelaufen, seine violetten Augen blitzend, ein Lächeln auf dem Gesicht. Plötzlich wusste sie, dass er die Sache von Anfang an so geplant hatte – Dess so früh aus dem Bett zu scheuchen, dass sie zu müde war, um sich gegen Melissas Berührung zu wehren.
Na, hatte ja funktioniert.
„Wie machen wir es?“
„Wir müssen zwei große Freudenfeuer aufbauen – oder noch besser: Feuerwerksinstallationen. Mit der hier draußen werden wir sie abfüllen, so lange wir können.“
„Abfüllen?“
„Genau. Der Riss wird sich lang und schmal ausbreiten, Rex, wie eine Straße. Sie führt genau hier durch, direkt aus den Bergen auf die Innenstadt zu. Wenn wir sie in Jenks eine Weile aufhalten, könnten wir Zeit haben, die Leute in Bixby zu organisieren.“
Als Rex den Weg an den Schienen entlang auf die Berge zu mit den Augen verfolgte, sah er nachdenklich aus, als würde er sich zu den zahlenlosen Darklingberechnungen in seinem Gedächtnis Zugang verschaffen. „Stimmt. Kann sein, dass du recht hast.“
Dann bebte die Erde – der dunkle Mond fiel wie ein Stein, die rot getönte blaue Zeit verschwand –, und die Kälte umfing Dess und fuhr ihr in die Knochen. Sie zitterte vor Aufregung.
Sie wussten einen Weg, wie sie die Darklinge aufhalten konnten … wenigstens eine Weile. Vielleicht könnten sie den Einwohnern von Bixby Zeit verschaffen, damit sie verstanden, was vor sich ging, und eine Chance bekamen, zu kämpfen und ihre Nacht in der Hölle zu überleben. Vielleicht mussten Menschen doch nicht zu tausenden sterben.
Über Dess’ Kopf wurde die Rakete plötzlich aus der erstarrten Zeit befreit. Sie schoss weiter in den Himmel hinauf, wo sie mit einem leisen Bäng explodierte.