epilog

10.30 Uhr nachts

32

Der Wagen hielt vor dem Haus auf der anderen Straßenseite, worauf der Nachbarhund anfing, wütend zu bellen.

Gut gemacht, Flyboy, dachte Melissa. Dess hatte ihm gesagt, er sollte heute Nacht leise sein. Ihre Eltern waren seit der großen Halloween-Hysterie in Bixby mit Hausarrest immer noch schnell bei der Hand.

Er wartete einen Moment, dann wollte er auf die Hupe drücken.

„Lass es“, sagte Melissa. „Sie kommt.“

Er machte ein finsteres Gesicht, seine Ungeduld hing bitter in der Luft. Natürlich war noch reichlich Zeit, vor Mitternacht zu Jessicas Haus und anschließend bis nach Jenks zu fahren.

Aber Jonathan hatte es eilig, die heutige Nacht hinter sich zu bringen. Das Ganze war viel zu emotional, und unter seiner Anspannung erschnüffelte Melissa einen kleinen Funken Angst …

„Keine Sorge, Jonathan. Sie wird ihre Meinung über das Weggehen nicht ändern.“

Er sah sie an, widerstrebend, dann seufzte er.

„Sollte sie auch besser lassen“, sagte Melissa. „Ich glaube nicht, dass ich es bei meinen Eltern noch viel länger aushalte.

Nicht mit Rex’ neuen Regeln beim Gedankenlesen.“ Ihre Eltern waren nie solche Psychos wie Rex’ Dad gewesen, aber allmählich fing das Netz aus Lügen, das sie im Laufe der Jahre um sie herumgesponnen hatte, an zu reißen. Melissa hatte die vergangenen sechzehn Jahre damit zugebracht, sich unter ihrer Berührung zu ducken. Sie bezweifelte, dass sie zu irgendwelchen wohlmeinenden Gesprächen über ihr Privatleben bereit war.

Insbesondere hatten sie angefangen zu fragen, wo ihr Auto geblieben war. Es wurde eindeutig Zeit, die Stadt zu verlassen.

Dess tauchte auf, glitt durch ihr Fenster und überquerte den verkümmerten Rasen absichtlich mit langsamen Schritten.

Melissa spürte ihre Verärgerung über Jonathans Lautstärke und sah, wie sie sich Zeit ließ.

„Hallo, Flyboy.“ Dess öffnete die hintere Tür, schob ihren Rucksack durch, dann sprang sie selbst hinterher. Melissa begrüßte sie nicht, aber das war keine echte Abneigung, nur Gewohnheit.

Jonathan warf einen Blick über seine Schulter auf den Rücksitz. „Glaubst du wirklich, dass wir das ganze Zeug brauchen. Ich meine, sind überhaupt noch Darklinge übrig?“

Melissa musste Dess in Schutz nehmen. „Ein paar sind davongekommen. Und die wirklich vorsichtigen sind gar nicht erst aufgetaucht.“

„Logo“, sagte Flyboy. „Aber die sind nicht mehr in Bixby.

Und wir werden alle vier da sein.“

Dess zuckte mit den Schultern. „Wenn’s um die Midnight geht, ist Vorsicht besser als Nachsicht.“

Jonathan warf ihr einen seiner neuen gekränkten Blicke zu.

„Dann hab ich wohl wieder das Nachsehen.“

Melissas Blick verfinsterte sich, als der saure Milchgeschmack seiner Schuldgefühle aus ihm herausfloss. Zwei Wochen später weidete er sich immer noch an der Vorstellung, dass er die Verantwortung trug für das, was Jessica zugestoßen war. Sie seufzte leise und fragte sich, wie es sein müsste, wenn man Flyboy vierundzwanzig Stunden am Tag allein aushalten müsste.

Wenn Rex seine Freiheit nicht ständig infrage stellen würde, könnte er vielleicht runterkommen …

Bei dem Gedanken, Rex zurückzulassen, fröstelte Melissa leicht und riss ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. Die Zukunft konnte sich selbst klären, nachdem sie jetzt tatsächlich eine hatten, auf die sie sich freuen konnten.

Jonathan scherte aus der Parklücke aus und beschrieb einen weiten Bogen, mit dem er Staub auf den vertrockneten Rasen vor Dess’ Haus schleuderte. Dann raste er die nicht asphaltierte Straße hinunter, unter den Reifen spritzten Sand und Schotter auf. Wie seit Neustem üblich war er nicht in der Stimmung, über Bullen zu reden oder nach ihnen Ausschau zu halten.

Melissa machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem und schickte ihren Geist über die leeren Flächen am Rande der Stadt, stets wachsam. Seit der Hysterie hatte die Sperrstunde hier in Bixby eine ganz neue Bedeutung bekommen.

Die offizielle Story war natürlich der blanke Hohn. Eine seltene Kollision von Luftmassen über dem Osten von Oklahoma hatte eine Rekordzahl an Blitzen und hirnerschütternden Donnerschlägen hervorgerufen. Im ganzen Land war der Strom ausgefallen, und verschiedene elektrische Felder hatten selbst batteriebetriebene Geräte und Autos zum Erliegen gebracht. Dieses Naturphänomen – neben statistischen Häufun-gen von Herzattacken, Feuerwerksdiebstahl und kostümierten Halloweenclowns – war der offizielle Grund für die Panik.

Nichts von alldem erklärte die verstümmelte Leiche eines Campers, der in der Nähe von Jenks gefunden worden war, oder die siebzehn Menschen, die noch immer vermisst wurden. Aber als Rationalisierung für alle, die in jener Nacht nicht wach und im Inneren des Risses gewesen waren, reichte es aus.

Natürlich gab ein es ein paar konspirative Typen mit viel besseren Theorien. Melissas liebste waren die über den elektromagnetischen Impuls aus einem Versuchsflugzeug auf der neuen Landebahn (die noch gar nicht gebaut war) und die mit den psychedelischen Pilzen in der städtischen Trinkwasseranlage.

All das entsprang teilweise dem Wunsch, zu verstehen, oder besser, wegzuerklären, was passiert war. Alles, um sich nicht mit der Wahrheit zu konfrontieren – dass das Unbekannte zu Besuch vorbeigekommen war.

Eine Gewissheit blieb allerdings: Halloween in Bixby würde nie mehr sein, was es war.

Sie kamen kurz vor elf bei Jessicas Haus an.

Drinnen brannte kein Licht, beide Autos parkten in der Einfahrt. Auf dem Rasen stand noch kein „Zu Verkaufen“-

Schild und auch sonst nichts, wodurch sich das Haus von den anderen in der Straße unterscheiden würde. Trotzdem sah es irgendwie anders aus, obwohl sie ihren Geist noch nicht hineingeschickt hatte. Trauriger.

„Ziehen sie wirklich weg?“, fragte Dess.

„Das wird in der Schule getuschelt“, sagte Flyboy. Er sah Melissa fragend an.

Sie nickte, in ihrem Mund sammelte sich der verbrannte Kaffeegeschmack nach Verärgerung, die sich noch immer an eine Hoffnung klammerte. „Sie wissen es nicht genau. Warten immer noch auf einen klaren Beweis, schätze ich.“

„Warten ist scheiße“, sagte Dess, und Jonathan nickte.

Und dann warteten sie.

Nach etwa fünfzehn Minuten kletterte sie zum Fenster hinaus und ließ sich unbeholfen in die Büsche plumpsen. Ihre Jacke sah zu groß für sie aus, und sie hielt sich krumm, die ganze Zeit mit den Händen tief in den Taschen.

Als sie fast auf der Straße angekommen war, schaltete Jonathan seine Scheinwerfer ein. Sie wirbelte zu dem Wagen herum, und plötzlich schoss Angst durch die Luft. Eine Sekunde lang dachte Melissa, sie würde kneifen und direkt wieder unter die Bettdecke kriechen.

Aber dann stand sie am Autofenster. Ihre Angst pulsierte in Melissas Kopf, hinter ihrem Misstrauen war die fest zusammengeballte Trauer in ihrem Bauch kaum noch wahrnehmbar. Plötzlich erkannte Melissa, wie viel Mut Beth bewies, indem sie sich mit all dem einverstanden erklärt hatte.

„Hallo“, sagte Jonathan.

„Du bist Dess, nicht wahr?“, sagte die Kleine.

Dess nickte. „Genau. Woher weißt du das?“

„Du siehst genauso aus wie auf Cassies Zeichnung.“

Dess antwortete nicht und gab den beklemmenden Geschmack nach dem Klumpen ab, der in ihrer Kehle aufstieg.

„Du hast dir die Haare geschnitten“, sagte Beth zu Melissa.

Die Gedankenleserin fuhr sich mit den Fingern über den Stoppelkopf, eine nervöse Geste, die sie von Rex übernommen hatte. „Das passiert, wenn man mit dem Feuer spielt.“

Beth stieg hinten bei Dess ein, es klirrte, als sie sich auf dem Rucksack niederließ.

„Autsch!“

„Gib einfach her“, sagte Dess.

„Was ist da drin?“

„Magisches Zeug.“

Jonathan drehte sich um und warf Dess einen bösen Blick zu, aber die Kleine reichte den Rucksack mit äußerster Vorsicht weiter.

Rex humpelte bei Madeleine die Treppe hinunter und versuchte, nicht daran zu denken, was in Jenks vor sich ging. Es gab Wichtigeres zu bedenken, bevor die anderen gehen würden. Er hielt Angies letzten Brief und die dazugehörigen Fotokopien – von Speerspitzen mit Doppelklinge aus einem Museum in Cactus Hill in Virginia – fest umklammert. Sie recherchierte dort über Steinzeitkulturen und half Rex bei der Suche nach einer Verbindung zu alten Funden in Südspanien. Rex hatte heute Abend ernsthafte Arbeit vor sich, Wichtigeres als die Überwachung von Abschiedsritualen.

Außerdem musste Madeleine gefüttert werden.

In seiner anderen Hand trug er einen Wärmebehälter mit Hühnersuppe. Nicht zu heiß natürlich. Sie konnte inzwischen selbständig trinken, aber wie ein Baby war sie zu dumm, um sich nicht die Lippen zu verbrennen. Glücklicherweise kannte sich Rex mit der Pflege von Invaliden gut aus.

Eigentlich machte es ihm nichts aus, sich um Madeleine zu kümmern. Hier in der temporalen Kontorsion, die sie fünfzig Jahre lang beschützt hatte, störten ihn all die menschlichen Wesen dort draußen nicht so sehr. Kein Kabelfernsehen, kein schnurloses Telefon erfüllte die Luft mit Gesumm. Der Ort stank nach dreizehnzackigem Stahl, dem Rost aber schon vor langer Zeit den Biss genommen hatte. Jene Midnighter, die sich die Namen all der Waffen ausgedacht hatten, waren schon lange tot, außer Madeleine.

Die kaum noch lebte. Melissa meinte, dass sich ihr Geist allmählich instand setzen würde, sich von dem, was ihm seine Darklinghälfte zugefügt hatte, wieder erholen würde, eine Überlebende bis zum Schluss.

Als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, sah Rex sie zu seiner Überraschung aufrecht sitzen, mit einem intelligenten Schimmer in ihren Augen. Der Geruch nach Schwäche und Tod hatte sich ein wenig verflüchtigt.

„Madeleine?“

Sie nickte bedächtig, als ob sie sich an ihren Namen erinnern würde. „Welcher Tag ist heute?“

Rex blinzelte. Die rauen, gekrächzten Worte waren die ersten, die aus ihrem Mund kamen. „Samhain ist gekommen und gegangen. Der Flammenbringer hat es verhindert.“

Sie stieß einen rasselnden Seufzer aus, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich wusste, dass das Mädchen was Besonderes ist. Ich hatte recht, als ich sie hierher nach Bixby gerufen habe.“

Rex konnte dagegen nichts einwenden. Seit Samhain war er gezwungen anzuerkennen, dass Madeleine mit ihren Manipulationen über die Jahre hinweg etliche Leben gerettet hatte.

Ihre verwaiste Midnightertruppe hatte mehr für Bixby getan als alle vorherigen Generationen zusammen. Die beiden mochten noch so kaputt sein, an diesem Punkt konnten sie sich gratulieren.

Er setzte sich neben sie und schraubte den Deckel von der Thermoskanne.

„Wo ist Melissa?“, krächzte sie.

„Sie geht weg.“ Die beiden einfachen Worte versetzten ihm einen schmerzhaften Stich. Aber natürlich war das die einzige Lösung.

„Wohin?“

Er zuckte mit den Schultern. „Iss.“

Sie nahm die Thermoskanne mit zittrigen Händen, hob sie an die Lippen und trank. Rex sah, wie sich ihr runzeliger Hals bei jedem gierigen Schluck bewegte. Offensichtlich war es harte Arbeit, ihren zerstörten Verstand wieder aufzubauen. Er senkte den Kopf und sah sich die Speerspitzen an, las die Zeichen der Lehre in Angies verkrampfter Handschrift. Sie waren für sein Hirn einfacher als moderne Buchstaben. Melissa fand es verrückt, wie sehr er sich über die Briefe seiner neuen Brieffreundin freute.

Schließlich setzte Madeleine die Thermoskanne in ihrem Schoß ab, atemlos. „Es ist dumm von dir, mich zu hassen, Rex.“

„Ich hasse dich nicht. Du tust mir leid, wenn ich es mir recht überlege.“

„Ich habe all das für dich getan, Rex. Siehst du das nicht?“

Ihre Augen leuchteten, und er konnte sehen, was von ihrer kolossalen Selbstgerechtigkeit geblieben war. „Ich wollte Bixby wieder zu dem machen, was es in den alten Zeiten gewesen ist.“

Er schüttelte den Kopf. „Dieses Bixby war ein Albtraum.

Wir sind jetzt dran.“

Sie rümpfte die Nase. „Was weißt du denn schon? Halb Darkling, halb Midnighter, und so besorgt um Daylighter. Das ist pervers.“

Rex lächelte, nahm ihre Diagnose erfreut zur Kenntnis. Sie konnte sehen, dass er das Biest in seinem Inneren unter Kontrolle, seiner menschlichen Hälfte untergeordnet hatte. Vielleicht war sie nicht die Einzige, die sich selbst wieder instand setzte.

„Hast du gesagt, dass Melissa weggeht?“

Er nickte.

„Aber warum? Ich habe lieber fünfzig Jahre in diesem Haus gehockt, als diese Kontorsion zu verlassen. Sie wird da draußen blind und taub sein, nicht das Geringste schmecken. Ein Daylighter, Rex – ein Niemand.

„Nein, das wird sie nicht.“

Er schluckte. Wieder kochte Angst in ihm hoch, wenn er daran dachte, dass sie wegging. Es war aber nicht Melissa, um die er sich Sorgen machte, natürlich nicht. Es war Rex Greene.

Würde er sich immer noch zusammenreißen können, wenn seine älteste Freundin gegangen war? Vielleicht sollte er mit den anderen gehen, Dess ganz allein in Bixby zurücklassen, seinen Vater und die alte Frau dem Tod ausliefern.

Alles, was sie bekamen, hatten sie verdient, und ohne Melissas ruhigen Geist, ohne ihre Berührung …

Rex schüttelte den Kopf, um sich zu wappnen. Er nahm Madeleine die Thermoskanne aus der Hand und wischte ihr einen Tropfen Suppe vom Kinn. Vielleicht hatte Melissa recht, und es war die Pflege seines Vaters und der alten Frau, weshalb er nicht den Verstand verlor. Seine Sorge bewahrte ihm seine Menschlichkeit.

Madeleine hatte ihn nicht gehört. Sie jammerte immer noch. „Warum, Rex? Warum will sie gehen? Das hier ist schließlich Bixby.

Er richtete sich auf und schenkte ihr ein wildes Lächeln, weil er wusste, dass diese Nachricht sie zum Schweigen bringen würde.

„Weil Bixby nichts Besonderes mehr ist.“

Sie erreichten Jenks ohne Zwischenfälle, und Jonathan hielt an demselben Acker an, über den Rex mit dem pinkfarbenen Cadillac seiner Mutter gerast war. Als sich die vier schweigend auf den Weg zum Riss machten, sah er sich an den Bahnschienen um, die immer noch Zeichen von Halloween aufwiesen –

einige Schwellen waren schwarz vom brennenden Öl und Raketenabgasen, und die durchgeweichten Relikte des roten Kracherpapiers klebten überall an Schottersteinchen.

Aber das Gras in der Umgebung hatte sich von dem seltsamen Licht in dem Riss erholt, wie Jonathan auffiel, und sah wieder saftig grün aus. Der dunkle Mond war vielleicht doch nicht so stark gewesen.

Viel war vom Riss nicht mehr übrig, nur noch ein Schlitz.

Nur noch wenige Nächte, dann würde er komplett in der Lehre verschwinden. Als sie ihn erreicht hatten, zog Dess ihren GPS-Empfänger heraus und legte einen kleinen, präzisen Steinkreis aus.

Beth stand dicht neben ihm und beobachtete Dess. „Was ist das für ein Ding?“, fragte sie leise.

„Ein GPS-Gerät“, antwortete er. „Kein bisschen magisch.“

„Was soll es tun?“

„Es findet Orte. Du musst an genau der richtigen Stelle stehen, damit das hier funktioniert.“

Beth sah ihn an, plötzlich mit grimmigem Blick. „Ich hab das Handy von meiner Mom dabei, weißt du.“

Er blinzelte. „Das ist … gut.“

„Irgendwas Irres braucht ihr also gar nicht erst zu probieren.“

Jonathan seufzte. Was sie vorhatten, war sozusagen per definitionem irre. „Keine Sorge, okay? Wir sind hier alle freundlich. Du hast gesagt, du wolltest das tun.“

Beth schluckte nur und sah einen Moment lang so aus, als würde sie anfangen zu weinen.

„Sie will das auch“, fügte Jonathan hinzu und wünschte sich, er wäre woanders. Er war es gewesen, der mit Beth hatte reden müssen, ihr das Misstrauen ausreden, ihren wütenden Unglauben. Nachdem er Stunden gebraucht hatte, um sie zu überzeugen, dass sie mit hierherkam, fehlten Jonathan die Worte. Er legte einen Arm um Beth und zog sie an sich.

„Wirklich?“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Und das hier ist echt?“

Er lächelte. „Na ja, ich träume jedenfalls nicht.“ Sie fühlte sich unglaublich klein und zerbrechlich an, zitternd vor Kälte.

„Komm jetzt“, sagte Dess. „Stell dich genau hier hin.“

Jonathan führt Beth an den Schienen entlang und in den Steinkreis. Ihr ängstliches Gesicht führte dazu, dass sich etwas in seiner Kehle löste, und seine Stimme wurde rau. „Keine Sorge. Alles wird gut gehen.“

Er trat zurück, abwartend, und hoffte, dass es klappen würde.

Midnight setzte kurz darauf ein, das Heulen des kalten Windes schaltete sich ab wie ein Licht, die blaue Zeit sog ihnen die Farbe aus den Gesichtern. Jonathan spürte, wie das scheußliche Gewicht des Flächenlandes von ihm abhob.

Gute alte Midnight – angeschlagen, losgelöst von ihren richtigen Grenzen, aber nicht zerstört.

Einen Moment lang fragte sich Jonathan, ob sie mit ihrem Versuch zu lange gewartet hatten und der Riss bereits wieder geschlossen war. Beth stand einfach da in ihrem Steinkreis, reglos wie alle anderen Starren.

Aber dann blinzelte sie. „Das war irre.“

„Kann man wohl sagen“, sagte Jessica hinter dem Rücken ihrer kleinen Schwester. Sie hatte sie gebeten, die Kleine mit dem Gesicht in die Richtung von Bixby zu stellen, und klugerweise beschlossen, sich nicht in Beths Blickfeld zu stellen.

Sie behielt außerdem ihre rechte Hand in der Tasche.

Jonathan flippte immer noch aus, wie Jessica aufkreuzte, wenn Midnight eintrat. Sogar Darklinge und Gleiter mussten vor der Sonne fliehen, sich in Höhlen verkriechen oder in der Erde eingraben. Aber aus dem Flammenbringer war etwas ganz anderes geworden, eine ganze neue Spezies unter den Midnightwesen.

Sie erstarrte während des Tages nicht … es gab sie einfach nicht.

Rex nannte das „temporale Abhängigkeit“. Jonathan wusste nicht, wie er es nennen sollte. Während des Tages fühlte er sich, als ob Jessica verschwunden wäre, wie in der ersten Nacht, als glaubte, er hätte sie an den Blitz verloren. Er hatte stundenlang das Dach abgesucht, bis er die sechsundzwanzig Stockwerke bis zum Erdgeschoss hinuntergestürzt war, vom Flächenland erschöpft, von Trauer erschlagen. Der ganze Tag war schrecklich gewesen, bis die Midnight wieder kam und er zum Pegasus zurückgeflogen war, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis zu finden.

Und da stand sie … immer noch unter Schock, ohne zu wissen, dass ein ganzer Tag ohne sie vergangen war. Sie lebte.

Aber seine Freude verging, als die Midnight wieder endete, und ihnen bewusst wurde, dass Jessica jetzt in der geheimen Stunde gefangen war.

Jonathan sah sie an, wieder mit dem brüchigen Gefühl der Erleichterung. In den letzten zwei Jahren hatte sich sein Leben in zwei Hälften geteilt: die eine mit der gloriosen Midnight, und die andere mit der niederschmetternden Schwerkraft am Tag. Inzwischen war es noch schlimmer: Flächenland war ohne Jessica viel flacher und die geheime Stunde plötzlich viel kostbarer.

Midnight erstreckte sich jetzt über die ganze Welt, wenigstens das. Sie konnten überall hinfliegen … in ihrer einen Stunde.

Beth drehte sich langsam um, in ihre Jacke gekuschelt, als ob es immer noch kalt wäre. Sie starrte Jessica an.

„Komm mit, Flyboy“, sagte Dess. „Lassen wir sie ein bisschen allein.“

Er fing Jessicas Blick auf, und sie nickte.

Weggehen, diese Minuten mit Jessica aufzugeben, fühlte sich wie ein Tritt in die Magengrube an. Das war es gewesen, was er nie mehr hatte erleben wollen, seit dem Tag, als seine Mutter gegangen und nie mehr zurückgekehrt war: dieses Gefühl, wenn man jemanden verlor und die Welt zusammenbrach. Und es war wieder passiert.

Aber Jessica war wenigstens nicht ganz verschwunden. Sie war nur vierundzwanzig Stunden am Tag weg. Und Jonathan wusste, dass er an dieser einen Stunde, die ihm geblieben war, so lange festhalten würde, wie er konnte.

„Jess?“, sagte Beth mit dünner Stimme.

„Ja, ich bin’s.“ Jessica spürte Tränen auf ihrem Gesicht. Sie hatte genau gewusst, an welchem Fleck ihre Schwester sichtbar werden würde, trotzdem verschlug es ihr noch immer den Atem.

„Du bist wirklich … hier.“

Jessica nickte. Sie hätte ihre kleine Schwester gern in den Arm genommen, aber in diesen ersten fragilen Momenten beschloss sie, ihre rechte Hand in ihrer Tasche zu lassen. „Ja.

Ich bin die ganze Zeit hier gewesen.“

„Warum bist du nicht nach Hause gekommen?“

Jessica biss sich auf die Lippe. „Ich kann nicht. Ich stecke hier fest.“

„Was? In Jenks?“

„Nein, in der Midnight. Es gibt mich nur eine Stunde am Tag. Ich bin jetzt ein Teil der Midnight.“ Jessica schüttelte traurig den Kopf. Vielleicht war sie Teil der Midnight geworden, als sie zum ersten Mal in der geheimen Stunde aufgewacht war. Seit damals hatte es an ihrem Leben genagt, bis nur noch dieser eine Splitter übrig war.

Sie spürte einen mentalen Schubs von Melissa, die ganz in der Nähe stand, richtete sich auf und schluckte ihr Selbstmitleid runter. Jessica hatte sich oben auf jenem Dach entschieden, schließlich hatte sie gewusst, dass alles anders werden würde, wenn sie ihre Hand in den Blitz stecken würde.

„Warum hast du mir nicht gesagt, was los war?“, fragte Beth. „Die ganze Zeit hättest du mich einweihen können.“

Jessica hatte mit der Frage gerechnet. „Wirst du es Mom und Dad erzählen?“

„Erzählen …?“

„Was hier passiert. Wirst du ihnen sagen, dass du gesehen hast, wie deine vermisste Schwester an einer Bahnlinie in Jenks erschienen ist?“

Beth dachte eine Weile nach, dann schüttelte sie den Kopf.

„Sie würden mich wahrscheinlich zum Psychofritzen schicken.“

„Genau.“ Jessica nickte. „Also musst du es für dich behalten. So wie ich. So läuft das eben. Aber Beth, du weißt wenigstens, dass ich … irgendwo bin.“

Irgendwo ist nicht genug, Jess! Du lässt mich ganz allein.“

„Das ist nicht wahr. Du hast immer noch Mom und Dad.“

Beth biss die Zähne zusammen. „Mom heult die ganze Zeit.

Sie glaubt, du bist verschwunden, weil sie so viel arbeitet. Und aus Dad ist noch ein schlimmerer Zombie geworden als vorher.“

Jessica schloss die Augen, heiße Tränen rollten in der kühlen blauen Zeit ihre Wangen hinunter. Den Gedanken, dass ihre Eltern sie vermissten, ohne zu wissen, was passiert war, konnte sie nicht ertragen. „Sie brauchen dich, Beth.“

„Sie brauchen dich. Vielleicht könnten sie hierherkommen und genauso hier stehen wie ich. Ich werde mir was ausdenken, wie ich sie nach Jenks schaffe. Ich werde sie zwingen, dass sie mitkommen …“

„Nein.“ Jessica trat einen Schritt vor und legte einen Arm um Beth. „Der Riss verschwindet. Und außerdem werde ich nicht mehr hier sein. Jonathan und Melissa und ich gehen weg aus Bixby.“

Beth trat gegen den Schotter, Tränen stiegen ihr in die Augen. „Du lässt mich im Stich.“

„Midnight breitet sich aus, Beth. Es wird mehr Leute wie mich geben, die aufwachen und sich in der blauen Zeit wiederfinden.“

„Und ihre kleinen Schwestern belügen?“

„Möglicherweise, anfangs.“ Jessica nickte. „Sie brauchen jetzt unsere Hilfe.“

Ich brauche dich auch, Jessica.“ Beth schluchzte inzwischen.

„Ich weiß.“ Sie zog ihre kleine Schwester in eine linksarmige Umarmung und seufzte. „Es tut mir so leid, Beth. Vielleicht war es nicht fair, dich hierherzubringen.“

Beth schüttelte den Kopf.

„Aber du musst alle im Unklaren lassen, genau wie ich“, sagte Jessica. „Du wirst sie belügen müssen.“

Beth hob den Kopf. „Nicht alle. Da ist Cassie.“

Jessica nickte langsam. „Das stimmt. Sie hat den Riss sowieso gesehen. Ich schätze, ihr kannst du auch von mir erzählen.“

Beth zog die Nase hoch. „Hab ich schon.“

„Was?“

„Als Jonathan mich zu überreden versucht hat, dass ich mit hierherkomme. Ich hab sie bei mir übernachten lassen, und sie hat sich in meinem Schrank versteckt. Und hat gelauscht.“

Eine Woge der Verärgerung, die ihr nur allzu vertraut war, wallte in Jessica kurz auf. Aber dann wurde ein Gefühl der Erleichterung daraus, und sie fing an zu kichern. „Du kleines Biest.“

„Es muss mehr Leute in Bixby geben, die über all das Bescheid wissen. Leute, die sich zusammengereimt haben, wie es funktioniert.“ Beth zog sich ein bisschen zurück und sah ihrer Schwester streng in die Augen. „Und glaub mir, Cassie und ich, wir werden sie finden. Glaub nicht, dass du uns so schnell losgeworden bist.“

Jessica sah auf ihre kleine Schwester hinab. Ein Lächeln machte sich auf ihrer Miene breit, und plötzlich war sie sich sicher, dass Beth zurechtkommen würde, mit oder ohne große Schwester.

Dess schlenderte an den Schienen entlang, sah zu den Bäumen auf, suchte nach irgendwelchen Zeichen von Leben. Es war in der letzten Zeit fast zu still. Gegen einen Gleiter zwischen den Zweigen hätte sie nichts einzuwenden gehabt. Mit dem Unheilstifter in ihrer Tasche und dem Flammenbringer ein paar hundert Meter weiter war sie unbedingt sicher. Jessica hatte ihre neue, leise funkelnde Hand noch nicht an Darklingen ausprobiert, Dess war sich aber ziemlich sicher, dass sie keine Taschenlampe mehr brauchte.

Dess hatte seit Ewigkeiten nichts mehr abgeschlachtet. Warum waren sie alle abgehauen? Darklinge waren wie Tiger, fand sie. Man wollte sich nicht von ihnen fressen lassen, aber ausrotten wollte man sie auch nicht. Die Welt war ohne sie weniger spannend.

Klar, nach ein paar tausend Jahren in einer einzigen miesen Stadt war Halloween den Darklingen, die überlebt hatten, wahrscheinlich wie Weihnachten vorgekommen.

Nachdem Jessica den Riss versiegelt hatte, waren die Energien, die sich an Bixbys Bruchlinie entlang aufgebaut hatten, nicht verschwunden – sie hatten sich über den Globus verteilt.

Dess schüttelte den Kopf. Nach der vielen Arbeit, die sie sich mit der Geografie der geheimen Stunde gemacht hatte, hielt sie es für eine Schande, die vielen Karten wegzuwerfen.

Sie konnte es immer noch nicht abwarten, bis Jonathan und Jess mit ihrer Erkundung des sechsunddreißigsten Breitengrades anfingen, um herauszufinden, wie weit sich die blaue Zeit in der Folge von Samhain ausgebreitet hatte.

Erstreckte sie sich am ganzen Breitengrad entlang? Und auch am zwölften, am vierundzwanzigsten und am achtundvierzigsten? Wand sie sich um den ganzen Globus, oder tauchte sie nur da auf, wo Vielfache von zwölf einander kreuzten?

Oder gab es jetzt einfach überall Midnight? Wachten in allen Dörfern und Städten glückliche Midnighter auf, staunend über die blaue und angehaltene Welt?

Dess hörte Kies knirschen und drehte sich um. Flyboy federte hinter ihr her, mit unglücklichem Gesicht, als ob er jemanden zum Reden brauchen würde.

Sie seufzte. „Wann geht ihr drei denn jetzt?“

„Wahrscheinlich ziemlich bald.“ Er deutete mit dem Kinn auf die Mädchen hinter sich. „Nachdem das hier endgültig erledigt ist.“

„Es wird einsam werden, Jess nur eine Stunde am Tag zu begegnen.“

„Es ist schon einsam.“

Dess schüttelte den Kopf und fragte sich, ob er schon durchgerechnet hatte, was bei diesem kleinen Rätsel herauskam. Jess lebte nur eine von seinen fünfundzwanzig Stunden, was bedeutete, dass ihr neunzehnter Geburtstag ungefähr dann stattfinden würde, wenn er an Altersschwäche starb.

Und irgendwann weit vor dieser Zeit, würde die Sache … eklig werden.

„Was soll’s.“ Dess grinste vielsagend. „Schließlich hast du immer noch Melissa, mit der du reden kannst.“

Er blickte von den Schienen auf. „Warum hasst du sie immer noch? Sie hat Jessica in jener Nacht gerettet, wie du weißt.

Und Beth. Vermutlich sogar die ganze Welt.“

„Ich hasse sie nicht.“ Als ihr die Worte über die Lippen kamen, fiel Dess auf, dass sie das wirklich meinte – ihr Hass auf die Gedankenleserin war in aller Stille verflogen. „Trotzdem taugt sie nicht unbedingt zum Globetrotter.“

„Kann schon sein.“ Er lächelte. „Aber ohne sie werden wir sie niemals alle finden.“

Alle? Flyboy, es gibt mehr, als du dir vorstellen kannst.“

Jonathan sah sie an, dann schüttelte er den Kopf. „Hast du eine Idee, wie das alles passiert ist? Ich meine, warum das alles passiert ist?“

Dess rümpfte bloß die Nase. Sollte Rex sich in der Lehre vergraben, der immer noch erforschen wollte, wie das Zeitbeben und der Blitzschlag zum selben Zeitpunkt passieren konnten. Aber Dess wusste, das war alles Blödsinn. Nicht, dass sie was gegen Berechnungen hatte – Erklärungen für das Wie und Warum waren schließlich die Quintessenz des Discovery Channel. Aber manchmal gingen Berechnungen einfach nicht auf, da konnte man noch so lange rechnen.

Schließlich war die Wahrscheinlichkeit, dass ein Blitz genau in der Mitte von Bixby exakt um Mitternacht einschlug …

ziemlich gering. Und wenn man zu lange darüber nachdachte, warum es genau so passiert war, tat man seinem Hirn keinen Gefallen. Wenn das der Fall war, ließ man eben einfach die Finger von der Mathematik.

Sie blickte zum Himmel auf und sah, dass der dunkle Mond seinen Zenit erreicht hatte. „Auf geht’s, Flyboy. Zeit für deinen Partytrick.“

„Okay.“ Er schluckte. „Du glaubst wirklich, das könnte was nützen?“

„Klar wird es das.“ Dess führte Jonathan zu der Stelle zurück, wo die anderen drei standen. Sie wusste, dass die beiden Schwestern noch einiges zu klären hatten, aber Mathe mit Entschuldigungen gab manchmal ein komisches Ergebnis: Die Zahl konnte noch so hoch sein, man musste einfach darüber weg.

Sie hielten sich in den Armen, als ob ihnen die Worte bereits ausgegangen wären. Melissa stand etwas abseits, mit geschlossenen Augen. Vorsagend? Kontrollierend? Oder lauschte sie einfach nur? Dess fragte sich, ob diese neue Harmlosigkeit der Gedankenleserin wirklich nützte oder einfach nur eine neue Masche war.

Dess wartete, bis sie Jessicas Blick auffing, dann deutete sie auf Jonathan.

Gib der armen Kleinen das zum Schluss.

Jessica nickte und trat zurück. „Komm mit. Ich will dir etwas über die Midnight zeigen. Etwas nicht Beängstigendes. Es ist ein bisschen verrückt, aber … vertraust du mir?“

Beth schluckte ein bisschen, wischte sich über das Gesicht, dann sagte sie leise: „Ich vertraue dir.“

Jonathan trat vor, beide Hände ihr entgegengestreckt. „Du hast gesehen, wie wir das gemacht haben, nicht wahr? An Halloween?“

Beth nickte, dann nahm sie vorsichtig seine Hände. Als ihre kleineren Finger die seinen umschlossen, nahm ihr Gesicht einen überraschten Ausdruck an.

„Davon wird einem … schwindelig.“

„Viel besser als schwindelig“, sagte Jessica lächelnd. Sie zog ihre rechte Hand aus der Tasche. Weiße Funken sprühten aufwärts. Das Armband, das sie trug, leuchtete, die kleinen Glücksbringer schillerten. Dess blinzelte von dem Licht.

Beth starrte es mit offenem Mund an. „Was ist das?“

„Erinnerst du dich nicht? Es ist ein Geschenk von Jonathan

… und ein bisschen Blitz dazu.“ Jessica nahm Flyboy bei der Hand.

Zuerst wagten sie einen ängstlichen Hopser, drei Meter hoch. Dann landeten sie nach einem höheren in der Mitte des Ackers. Schließlich legten sie richtig los, auf den reglosen Arkansas River zu. Jessicas rechte Hand leuchtete aus der Ferne, hinter sich einen funkelnden Schweif weißen Lichts über den Horizont ziehend.

Dess spürte, wie sie lächelte, und plötzlich war sie viel weniger depressiv. Beth hatte die blaue Zeit wiedergesehen. Sie hatte fliegen dürfen.

„Ja, ich weiß“, sagte Melissa.

Dess seufzte. Noch einmal mit der göttlichen Hure allein.

„Es tut mir immer noch leid, weißt du. Was ich dir angetan habe.“

Typischer Gedankenlesertrick. Abwarten, bis die Kontrolle nachlässt, und dann sentimental werden. Dess hörte sich sagen: „Egal. Vielleicht kannst du nichts dafür. Dass du so bist.“

„Wir haben Rex in jener Nacht gerettet.“

So leid dann auch wieder nicht? , dachte Dess. Gegen Melissas Argumente kam sie nicht an. „Er wird dir bestimmt fehlen.“

Melissa nickte. „Tut er jetzt schon.“

Dess seufzte wieder. Vielleicht war doch noch ein Darkling in Bixby.

Sie standen eine Weile schweigend da, während sie warteten, dass die anderen zurückkamen.

„Und wie viele von uns gibt es noch da draußen?“, fragte die Gedankenleserin schließlich.

Dess holte tief Luft, erleichtert, wieder über Mathe zu reden ohne den ganzen emotionalen Mist. „Also, wir gehen davon aus, dass man innerhalb einer halben Sekunde um Mitternacht geboren sein muss, okay? Das wäre dann einer von sechsundachtzigtausendvierhundert Leuten.“

„In einer Großstadt sind das doch eine ganze Menge, oder?“

„In New York ungefähr hundert. Auf der Welt … hunderttausend.“

„Scheiße“, sagte Melissa leise, als ob sie noch nicht so richtig über das Ausmaß ihrer kleinen Reise nachgedacht hätte.

Erstaunen löste sich von der Gedankenleserin, ein Kribbeln, das an Dess’ Armen bis in ihre Finger hinunterlief, worauf ihr Lächeln zurückkehrte. Obwohl sie hier in Bixby mit dem durchgeknallten Rex und der noch durchgeknallteren Maddy festsaß, obwohl sie die nächsten zweieinhalb Jahre in einer heftigen Sperrstundenzone verbringen musste, konnte sich Dess nicht über die Karten beschweren, die sie gezogen hatte.

Wenn die Midnighter erst einmal eigene Wege gingen, dann saß sie nicht mehr mitten zwischen zwei Pärchen, die permanent aneinanderrasselnden Egos würden sie nicht mehr einengen. Und irgendwann würde sie sich auch von Bixby befreien.

Kein fünftes Rad am Wagen mehr.

Nach der Highschool, das wusste Dess, konnte sie überall einen Job kriegen. Computer, Raumfahrt, lauter coole Sachen, die noch gar nicht erfunden waren – überall wurde Mathe gebraucht. Und da sich die Midnight über den Globus ausweitete, würden zahllose Universalgenies aufwachen. Endlich würde sie mit Gleichgesinnten reden, mit Mathegenies in einer angehaltenen Zeit, in der es auf Mathe ankam. Gemeinsam könnten sie die erweiterte geheime Stunde kartografieren, in Tridekalogismen ganze Unterhaltungen führen, auszurechnen versuchen, wie Zeit als solche funktionierte. Vielleicht sogar die Welt verändern.

Scheiß auf die Lehre, mit all ihrer Propaganda und den Lügen und der bitteren Geschichte. Dess würde es sein, die die ersten Axiome der Midnight niederschrieb, die ersten Regeln der Dessometrie.

Unversieglich. Unversöhnlich. Überwältigend. Das war sie.

Es war so cool, sich nur um Mathe zu kümmern.

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