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11.49 Uhr nachts
10
Der Gedankenlärm in Jenks grummelte zu dieser nächtlichen Stunde leise. Ein ziemlich großer Prozentsatz der Einheimischen schien wach zu sein – von denen sich die meisten den späten Müll im Fernsehen ansahen –, die Gegend war aber im Vergleich mit Bixby dünn besiedelt. Die sparsam verteilten Gehirne sprenkelten die geistige Landschaft wie faule Glühwürmchen.
„Jemand in der Nähe der Gleise?“
Sie schlug die Augen auf, leckte sich die Lippen und schüttelte den Kopf. „Nein, Rex. Nichts Größeres als ein Eichhörnchen.“
Ihr alter Ford parkte auf demselben Feld wie in der vergangenen Nacht, vor dem lang gestreckten Hügel, auf dem die Bahnlinie verlief. Melissa konnte zwischen den Bäumen kein menschliches Wesen schmecken, womit ein Problem beseitigt war.
Rex war fast wieder der Alte und fürchtete sich nicht mehr bei jeder Gelegenheit. Er hatte sich Sorgen gemacht, Cassie Flinders könnte ihren Freunden erzählt haben, was sie gestern Nacht alles gesehen hatte – oder schlimmer: sie hätte alles in den Lokalnachrichten ausgeplaudert.
Melissa musste allerdings zugeben, dass ein Haufen Abenteurer an den „verhexten“ Bahngleisen nervig gewesen wäre.
Draußen an der Schlangengrube war es schon schlimm genug, wenn man über starre Teenager krabbeln und mit sogenannten magischen Steinchen spielen musste. Aber dieser Riss in der blauen Zeit war wirklich gefährlich – sie konnten keine weiteren Cassies gebrauchen, die übertraten und eine Menge Unannehmlichkeiten verursachten.
Als Melissa ihren Geist über die Kontorsion schweifen ließ, wurde ihr bewusst, dass sie den Riss schwach schmecken konnte. Dieser Ort hatte etwas Unnatürliches und undefinierbar Falsches an sich, wie der Chlorgeruch auf der Haut nach dem Schwimmen. Sie rümpfte die Nase und fragte sich, ob der Riss seit gestern Nacht größer geworden war oder ob er sich nur bei einer Finsternis erweitern würde.
„Ist vielleicht noch zu früh“, flüsterte er. „Die Gerüchte, die Cassie in die Welt gesetzt hat, konnten sich noch nicht richtig verbreiten.“
„Wir können auch morgen Nacht wiederkommen.“ Sie fuhr mit Klauenfingern durch die Luft. „Und sie zu Tode erschrecken. Was allerdings reine Zeitverschwendung wäre.“
„Wie meinst du das?“
„Sämtliche kleinen Kinder zu retten, die ins Darklingland wandern, während ganz Bixby dabei ist, sich in ein einziges großes Büffet zu verwandeln.“ Sie sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten, spürte die Spannung, die seinen Körper ergriff, und seufzte. „Nur ein Scherz, Rex. Du kennst mich: stets zu Diensten, wenn Leute gerettet werden müssen.“
Er entspannte sich und holte tief Luft. „Mich hast du jedenfalls gerettet.“
Sie lächelte. Das Wunderbare an Rex war, dass er nie die Nacht vergaß, in der sie überall in Bixby herumgewandert war, um ihn zu finden, damals, als sie noch Kinder waren. Nach all den Jahren, all den Fehlern, die sie gemacht hatten, war er immer noch der Achtjährige, der stets dankbar war, weil sie ihm gezeigt hatte, dass die blaue Zeit real war und kein wiederkehrender Albtraum.
Weshalb war er heute Nacht nur so nervös? Trotz ihrer neuen, verbesserten Fähigkeiten konnte Melissa manchmal immer noch nicht alle Einzelheiten schmecken. Nicht ohne Körperkontakt jedenfalls, und Rex hatte heute ziemlich empfindlich auf Berührungen reagiert.
„Vielleicht hat Cassie niemandem etwas erzählt“, sagte er.
„Vielleicht denkt sie wirklich, es war alles nur ein Traum.“
„Ich weiß nicht. Sie schmeckte ziemlich … clever.“ Melissa machte eine Pause, weil sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich clever meinte. Das Kind war zäh, und Melissa hatte in ihr eine schlaue Ader entdeckt. Cassie Flinders war gestern Nacht ziemlich still gewesen, typisch für ein Kind unter Schock, aber sie hatte immer genau zugehört, wenn die Midnighter in ihrer Gegenwart etwas besprachen, und alles gespeichert. Je eher Melissa ihre Erinnerung umfrisierte, desto besser.
„Schieb bloß nicht zu heftig, Cowgirl.“
Rex’ Schuldgefühle überschwemmten sie, eine Mischung aus saurer Milch und Batteriesäure, und sie stöhnte. „Das liegt alles hinter uns, Rex. Keine Bekloppten mehr. Ich werde mich dadrin leicht wie eine Feder bewegen. Vertrau mir einfach, okay?“
„Okay.“ Er sah auf seine Uhr. „Und was machen wir jetzt mit den acht Minuten?“
„Himmel, Loverboy, wenn du fragen musst … “
Er lächelte und beugte sich zu ihr hinüber. Aber seine Bewegungen waren unsicher.
Was verbirgst du, Loverboy? , fragte sie sich.
Als sie sich küssten, spürte sie, wie Rex’ nervöse Energie auf seinen Lippen surrte. Sie fuhr mit ihrer Zunge sacht darüber und verwandelte seinen Angstgeschmack in Verlangen, während sie ihn näher zog. Melissas eigene Erregung – in der Erwartung der Midnight, einer Gelegenheit, ihr neues Können einzusetzen, um Cassies erstarrtes Gehirn zu manipulieren –
wurde stärker. Sie überschwemmte Rex’ Anspannung, vermischte sich mit seiner Erregung, wie zwei scharfe Aromen, die in ihrem Mund kollidierten.
Er griff nach ihren Schultern, mit behandschuhten Händen zum Schutz vor versehentlichen Berührungen mit Stahl, und zog sie an sich. Sie schob eine Hand in seine Jacke, worauf ihr allmählich schwindelig wurde. Sie schmeckte, wie Rex’ fortschreitende Transformation gärte, und wunderte sich über das süßliche, geladene Aroma, wie Rock-Pops unter der Zunge, prickelnd, während sie ihre Kehle hinuntertrudelten.
Normalerweise sorgten Melissas Techniken zahlloser Gedankenlesergenerationen dafür, dass sie nicht die Kontrolle verlor, wenn sie sich berührten. Aber heute Nacht drohte Rex’
neu erlangtes Selbstvertrauen, seine Stärke, die täglich größer wurde, sie zu überwältigen. Sie gewann kurze Einblicke in das, was in der vergangenen Nacht geschehen war, sah den Tanz des Darklings mit seinen Augen, als er in Rex den anderen Räuber erkannte. Beinahe mit ihm gesprochen hatte.
Und dann brach der wahre Grund für seine Schuld- und Angstgefühle durch: Wie nah er daran gewesen war, seine Darklingseite überlaufen zu lassen. Sie fragte sich, was von Cassie Flinders übrig geblieben wäre, wenn das passiert wäre …
Ihre altertümlichen Erinnerungen warnten Melissa, Rex könnte zu einem Wesen werden, das kein Gedankenleser jemals geküsst hatte. Da waren Schatten in ihm, alt und entsetzlich.
Aber sie ignorierte die Warnungen – das hier war schließlich Rex. Er war der einzige Grund, aus dem sie so lange überlebt hatte. All die Jahre war ihr Verstand ungeleitet gewesen.
Endlich konnte sie das tun, was sie immer gewollt hatte: ihn berühren. Melissa spürte, wie sie alles fahrenließ, was Madeleine ihr gegeben hatte, alle Meisterschaft und Kontrolle, und in die Finsternis in seinen tiefsten Tiefen hineinsank.
Wie die alten Geister draußen in der Wüste hatten die Wesen dort drinnen keine Worte, nur Bilder, die sie kaum erfassen konnte – Zeichen der Lehre, einen Knochenhaufen, den Geruch von Feuer … den großartigen Rausch beim Erlegen der Beute.
Es gab einen kurzen, stechenden Schmerz, und dann entzog er sich, sein Körper zitterte.
Melissa saß einen Moment reglos da, sah, wie seine Augen im Mondlicht violett aufleuchteten, wie das Echo des eben in ihm Gespürten allmählich verhallte. Sie schmeckte Salz und fragte sich kurz, was für eine Sorte Gedankenlärm das war, dann fiel ihr auf, dass der Geschmack echt war – Blut in ihrem Mund.
„Mist“, sagte sie und hob eine Hand an ihre Lippen. „Ich hab mir auf die Lippe gebissen. Wie peinlich.“
„Das warst du nicht.“ Er wandte sich ab. „Tut mir leid …
wenn das verrückt war.“
„Ist schon gut, Rex.“ Melissa tastete ihre verletzte Lippe vorsichtig ab. „Ich hatte auch ziemlich unheimliches Zeug in mir, als wir angefangen haben, uns zu berühren. Weißt du noch?“
Er wandte sich ihr wieder zu und zog einen Handschuh aus.
Vorsichtig berührte er ihren Mund.
Ein Schauder fuhr in dem Moment durch den Wagen, gleichzeitig brachen sämtliche zufälligen Geräusche ab. Blaues Licht legte sich über die Welt, und vor der plötzlich verstummten geistigen Landschaft klärten sich die Visionen, die sie Rex’ Erinnerungen entnommen hatte.
Sie sah ein Blatt Papier, das mit krakeligen Symbolen bedeckt war, und wusste, dass es diese unlesbaren Zeichen gewesen waren, die ihn heute Nacht so nervös gemacht hatte.
Melissa blinzelte im Licht des dunklen Mondes. „Was hat das zu bedeuten?“
„Ich habe das heute Morgen gefunden.“ Rex’ Stimme hörte sich rau an.
Er griff in seine Tasche und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Er faltete es auseinander, worauf dieselben Symbole zum Vorschein kamen, die sie in ihm gelesen hatte.
„Das hat dich also so erschreckt?“ Sie ließ sich in ihren Sitz zurücksinken und seufzte. „Altertümliche Seherweisheit über das Ende der Welt?“
Er schüttelte den Kopf. „Nicht besonders alt. Sieh her.“
Sie sah genauer hin. Die Symbole waren auf liniertes Papier geschrieben, mit Dreierlochung und einem ausgefransten Rand, weil es aus einem Spiralblock gerissen worden war.
„Versteh ich nicht. Sind das deine Notizen?“
„Ich hab das nicht geschrieben. Ich habe es heute Morgen auf meinem Küchentisch gefunden.“
„Moment mal.“ Melissas Gedanken wirbelten. „Das sind aber doch Zeichen aus der Lehre, Rex.“
Er nickte. „Das stimmt, Cowgirl. Ein etwas seltsamer Dialekt, aber lesbar.“
„Und das ist einfach so auf deinem Küchentisch aufgetaucht? Außer dir weiß aber doch niemand, wie man mit den Zeichen der Lehre schreibt. Und … ach Scheiße.“ Melissa schob den Nagel ihres Ringfingers zwischen die Vorderzähne und biss wütend darauf herum. Ihre Zähne rutschten mit einem Knacken vom Fingernagel ab. „Diese Dominos, die die Grayfoots benutzt haben, um mit den Darklingen zu kommunizieren – da waren Lehresymbole drauf.“
„Das stimmt. Mit den gleichen minimalen Abweichungen wie hier. Es ist sogar unterschrieben.“ Er deutete auf die rechte untere Ecke, wo eine Mobilfunknummer neben drei krakeligen Symbolen in kreisförmiger Anordnung stand. „Äh-nügi.“
„Was zum Teufel ist Äh-nü-gi?“
„Jedes Lehrezeichen steht normalerweise für ein Wort, wenn man sie aber im Kreis anordnet, dann werden Laute daraus, wie bei einem Alphabet. So buchstabiert man Namen und schreibt über Dinge, die es vor ein paar tausend Jahren noch nicht gab.“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Und damals hatten die Leute kein Äh-nü-gi? Ich frag jetzt noch mal: Was soll das?“
Er lachte leise. „Was sie damals noch nicht hatten, waren bestimmte Laute. Schließlich war das die Sprache der Steinzeit. ,Äh-nü-gi‘ ist so dicht wie möglich an Angie dran.“
„Angie.“ Melissa gefror bei dem Namen das Blut in den Adern. Angie, Nachname unbekannt, war eine der Agentinnen der Grayfoots. Sie hatte die Nachrichten der Darklinge übersetzt, war in der Nacht, in der Anathea starb, in der Wüste gewesen, und sie war es gewesen – das wusste Melissa ganz sicher –, die den Trupp angeführt hatte, der Rex verschleppt hatte. „Sie hat dir geschrieben?“
Er nickte. „Sie will sich mit mir treffen.“
„Mit dir treffen? Was zum …?“ Melissa presste sich tief in den Autositz und grollte, die Hände fest zu Fäusten geballt.
„Ist die verrückt?“
Rex beantwortete die Frage mit einem Schulterzucken.
„Eher verängstigt als verrückt. Jedenfalls hört es sich so an.
Die Grayfoots haben etwas vor, und sie weiß nicht, was. Sie sagt, dass sie sie nach Anatheas Tod aus dem Zirkel ausgeschlossen haben, weil sie nicht zur Familie gehört.“
„Die arme Angie“, fauchte Melissa. Ihre Fingernägel schnitten ins Fleisch ihrer Handflächen. „Das ist Müll. Sie wollen dich bloß wieder kidnappen!“
Er schüttelte den Kopf. „Wozu? Die Darklinge können mich in nichts mehr verwandeln, weil Jessica ihren speziellen Platz zur Schaffung von Halblingen niedergebrannt hat.“
„Dann wollen sie dich eben einfach umbringen. Boshafte kleine Biester. Um zu beenden, was sie vor fünfzig Jahren begonnen haben.“
„Melissa“, sagte er in unerträglich gelassenem Ton. „Sie haben es auf meinem Küchentisch liegen gelassen, während ich geschlafen habe. Wenn sie mich töten wollten, wäre ich jetzt tot, oder? Sie will Informationen austauschen. Wie schon gesagt, sie hat Angst.“
Melissa konzentrierte sich auf ihren Herzschlag, bis er langsamer wurde und sie sich wieder in der Gewalt hatte. „Also gut, Rex, ein Informationsaustausch hört sich spaßig an. Warum bietest du ihr kein Treffen bei dir zu Hause an, so gegen fünf vor zwölf in der Nacht?“
Sie spürte, wie ihre Lippen die Zähne entblößten. „Dann zeige ich ihr, wie richtige Angst aussieht.“
„Ich dachte, du würdest seit Neustem federleicht agieren.“
Sie schnaubte. „Komm schon, Rex. Dabei kann nichts schiefgehen. Wir wissen anschließend alles über die Grayfoots, was sie weiß, und sie vegetiert fortan nur noch sabbernd vor sich hin.“
Er sah sie nur an, die alten Schuldgefühle über das, was sie mit seinem Vater getan hatten, verteilten sich wie Gas zwischen ihnen.
Melissa hielt seinem Blick einen Moment lang stand, aber dann seufzte sie. „Entschuldige.“ Sie wandte sich ab. „Warum hast du das eigentlich vor mir geheim gehalten?“
„Weil es mich auf eine Idee gebracht hat. Die dir nicht gefallen wird.“
„Du wirst dich nicht mit ihr treffen, Rex“, fauchte sie. „Außer mitten in Bixby kurz vor Mitternacht, wenn ich dabei bin, um ihre Erinnerungen von innen nach außen zu zerren. Ist mir egal, dass die Darklinge keinen Halbling mehr aus dir machen können – Angie ist ein Psycho. Niemand kann sie davon abhalten, dich zum Päckchen zu verschnüren und an die Grayfoots zu schicken, um sich mit ihnen wieder gut zu stellen!“
„Keine Sorge. Ein Treffen mit ihr war nicht die Idee, von der ich geredet habe.“ Er kratzte sich am Kinn. „Ich habe auch nicht vor, sie anzurufen. Es ist aber etwas Großes im Gange.
Und die Information, die wir brauchen, ist nicht in der Lehre.
Kann sein, dass ich mich direkt an die Quelle wenden muss.“
„Du willst mit Opa Grayfoot persönlich reden? Der ist ein noch schlimmerer Psycho als Angie. Dieser Typ hat hundert Leute in einer einzigen Nacht umgebracht!“
„Der nicht. Als Anathea starb, wurde er von den Darklingen ausgeschlossen. Der hat wahrscheinlich ebenfalls Panik.“
„Wer bleibt dann noch übrig, Rex?“
Er streckte den Arm aus und strich ihr noch einmal mit den Fingern über die Lippen. Sie spürte, wie sie über die verklebte Blutspur strichen und an der verwundeten Haut darunter ziep-ten. Dann strömte ein entsetzlicher Gedanke von ihm in sie hinein. Sie sah die Wüste, in kühlem Licht, flach und blau …
„Nein“, sagte sie.
„Sie wissen, was los ist. Das hast du selbst gesagt.“
„Sie werden dich fressen, Rex.“
Er schüttelte bedächtig den Kopf. „Wölfe fressen keine Wölfe.“
„Äh, Rex?“ Sie räusperte sich. „Vielleicht hast du recht. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass Wölfe andere Wölfe umbringen. “
„Da ist was dran.“ Er holte tief Luft. „Du hast aber gespürt, was gestern Nacht passiert ist. Er hat mit mir geredet. “
Sie fröstelte, als die Bilder zurückkehrten, die während ihres Kusses aus Rex’ Erinnerung in sie hineingeflossen waren – von der riesigen Spinne, die praktisch mit ihm getanzt hatte, als ob sie alte Freunde wären. Der Geschmack ihrer gespenstisch grüßenden Vorderbeine lag noch immer auf ihrer Zunge.
„Das war nur ein Darkling, Rex. Du redest von der Wüste.
Dort draußen gibt es dutzende, vielleicht sogar hunderte. Wir wissen gar nicht, wie viele.“
„Ich hab mich noch nicht entschieden, okay?“
Sie blickte zu dem Streifen des dunklen Mondes am Horizont hinaus, den sie nach beflügelten Gestalten absuchte. Als Rex vorgeschlagen hatte, sie sollten heute Nacht ohne Jessica hierherfahren, hatte sie sich erst gefragt, ob das eine gute Idee war. Sie hatten schon öfter gemeinsam Darklingen standgehalten, aber dieser Ort hatte riesige Gleiterschwärme angezogen, und der Geschmack nach alten Geistern lebte hier weiter.
Als sie sich aber küssten, wurde Melissa bewusst, dass sie mit Rex hier sicher war. Jedenfalls vor Darklingen. Er war einer von ihnen geworden, und gleichzeitig war er Mensch.
Plötzlich fiel ihr etwas Eigenartiges auf – neben den Schienen fielen ein paar Blätter. Mit ihrem sanften, roten Leuchten sahen sie hier in der blauen Zeit absolut seltsam aus. Es war der Riss, ein Splitter nicht erstarrte Zeit. Hier musste Cassie Flinders gestern Morgen gestanden haben.
Melissa seufzte. Sie mussten sich heute Nacht um das Mädchen kümmern, statt herumzusitzen und zu reden. „Okay, Rex, vielleicht kannst du wirklich mit Darklingen reden. Sag mir aber Bescheid, bevor du etwas unternimmst.“
Er lachte. „Glaubst du, du könntest mich umstimmen?“
„Das würde ich dir niemals antun, Rex.“
„Schwörst du mir das, Cowgirl? Nie wieder, nicht mit mir und auch sonst mit niemandem, wenn ich nicht dabei bin?“
„Unbedingt.“
Er nahm ihre Hand, und Melissa ließ die Gewissheit ihres Versprechens in ihn hineinfließen. Was aus Rex auch werden mochte, welches Risiko er auch einzugehen beschloss, niemals würde sie einen einzigen Gedanken in seinem Kopf verbiegen oder austauschen …
Auch nicht, um dein Leben zu retten.
Sie überquerten die Schienen, mit einer Pause, um sich den Riss in der blauen Zeit anzusehen. Ein roter Schimmer fuhr an seinen Rändern entlang. Inzwischen war er so groß wie ein Truck, viel größer als zu dem Zeitpunkt, in dem Cassie hindurchgetreten war, während ihre Großmutter ganz in ihrer Nähe erstarrt stand. Die Blätter der beiden Bäume, die darin gefangen waren, schwebten zu Boden.
Rex trat in den Riss und fing ein Blatt auf. Er ließ es los, es fiel weiter.
„Irgendwie fühlt man sich hier drin anders.“
„Wird er ständig größer? Jetzt zum Beispiel auch?“
Er schüttelte den Kopf. „Nur während der Finsternis, sagt Dess. Wie bei einem Riss während eines Erdbebens, der sich verändert.“
Sie zog ihn weg. Von dieser ganzen Sache mit dem Riss bekam sie Gänsehaut. Das Letzte, was Melissa gebrauchen konnte, war eine Invasion nerviger Menschen in der Midnight.
„Komm jetzt.“
Cassie Flinders wohnte in einem Doppelwohnwagen, dessen Betonzähne sich tief in den harten Boden eingegraben hatten, um sich hartnäckig gegen den Oklahomawind zur Wehr zu setzen. Über der Tür hing schon die Halloweendekoration –
ein grinsendes Papierskelett mit schwingenden Gliedmaßen, orangefarbene und schwarze Flaggen, die blau leuchteten.
Rex starrte das Skelett eine Weile an.
„Ein Freund von dir?“, fragte Melissa.
„Ich glaub nicht.“ Er stieß die Fliegentür auf, deren rostige Zargen durch die blaue Zeit läuteten. Die Holztür dahinter war nicht abgeschlossen. Rex grinste. „Tapferes Landvolk.“
Sie drangen in das blau erleuchtete Heim ein, unter ihren Schritten knarrten die Bodendielen. Melissa fragte sich, ob das alte Holz bis zum Ende der geheimen Stunde unten blieb, um dann mit einem letzten Seufzer hochzuschnellen – woraus ein knarrender Chor wurde, der Schlag Mitternacht erschallte.
Flyboy dachte ständig über solche Sachen nach. Ihn müsste sie fragen …
Eine alte Frau saß an einem Küchentisch, vor sich eine Schale mit einem unappetitlich blau leuchtenden Inhalt. Ihre Augen starrten gebannt auf einen leeren TV-Bildschirm. Melissa hielt sich von ihr und der reglosen Rauchwolke fern, die von der Zigarette zwischen ihren Fingern aufstieg.
Cassies Zimmer lag in der einen Ecke. Die Tür war mit Zeichnungen und noch mehr Halloweendeko bepflastert. Rex deutete auf eine schwarze Katze. „Komisch, dass sie das nach gestern Nacht nicht abgenommen hat.“
„Katzen“, sagte Melissa abfällig. „Selbstgefällige, introvertierte kleine Viecher.“ Dann ergänzte sie schnell: „Außer deiner natürlich.“
„Daguerreotypes Selbstgefälligkeit ist Teil seines Charmes.“
Er stieß die Tür auf.
Das Zimmer roch nach einer Dreizehnjährigen. Keine Boygroup-Poster an den Wänden, keine Puppen. Die Wände waren übersät mit mehr Zeichnungen: Bleistiftlandschaften von Jenks und Umgebung, die Skyline von Bixby und Bohrtürme, alles ohne Farben.
„Nicht schlecht“, meinte Rex. Er deutete auf einen Notenständer, an dem eine Klarinette lehnte. „Kreativ, die Kleine.“
„Sehr gut. Niemand glaubt den Künstlerseelen.“
Cassie lag auf ihrem Bett, mit geschlossenen Augen, in ihre Laken verheddert – da kündigte sich kein guter Schlaf an. Melissa fragte sich, ob das Mädchen nach fünfzehn Stunden Starre so was wie einen Jetlag hatte, und knackte mit den Fingern.
Das konnte sie reparieren.
Rex’ verrückter Plan, die Darklinge aufzusuchen, hatte ihre Erregung auch nicht mindern können. Vor ihr lag ihr erstes professionelles Gedankenlesen, seit Madeleine sie angeleitet hatte.
„Federleicht“, murmelte sie leise.
Sie ließ ihre Finger leicht auf Cassies wächserner Haut ruhen, wie ein blaues Spinnenpaar über dem Gesicht des Mädchens gespreizt. Melissa schloss ihre Augen und trat in den kühlen Raum eines Gehirns, das die Zeit angehalten hatte.
Überall in Cassie lauerten schwache Spannungen, der Schock nach ihrem Ausflug in die geheime Stunde. Der Geschmack der Angst brannte auf Melissas Lippen, Furcht, dass die schwarze Katze wiederkehren könnte, Entsetzen, weil das Spinnenwesen vielleicht immer noch da draußen in den Wäldern war.
Das Mädchen hatte einen Künstlerblick, das musste Melissa zugeben. Die Gleiter, der alte Darkling, die Gesichter der Midnighter waren alle dadrin, so deutlich, als hätte sie Fotos geschossen. Während sie ihre Ängste glättete, verwischte Melissa die Erinnerungen zu schemenhaften Illusionen.
Wie einfach das jetzt ging, dachte sie. Anders als die ungelenken Versuche, die sie einst Gedankenlesen genannt hatte.
Gedanken und Erinnerungen standen wie Schachfiguren vor ihr, die auf ihre Befehle warteten.
Sie formte die Bilder in Cassies Gedanken um, löschte die Worte, die sie in ihrer Gegenwart gesagt hatten, und verwandelte alles in eine Art unsinnigen Brei aus Erinnerungen an einen Traum. Melissa schwächte den Sinn für Gefahr, machte alles vage und formlos, trennte es von der Realität außerhalb der Doppeltüren.
Ein einziges, perfekt geformtes Stück Entsetzen ließ sie ganz, eine Phobie ein paar Meter weiter weg und tausend Meilen tief …
Halte dich um Mitternacht von der Bahnlinie fern. Dadrunter lebt etwas sehr Hässliches.
„Fertig.“ Melissa lächelte, als sie ihre Hände von Cassies Gesicht nahm. „Das war doch beeindruckend federleichtes Gedankenlesen.“
„Das war’s?“, fragte Rex. „Du warst so schnell. Höchstens dreißig Sekunden.“
Melissa strahlte. Sie waren ihr wie lange Minuten vorgekommen. „Ratazing, ratazong.“
„Hat sie mit irgendjemandem geredet? Irgendwem erzählt, was sie gesehen hat?“
Melissa holte tief Luft und streckte sich. „Seit ich sie hier abgeliefert habe, hat sie sich nicht vom Fleck bewegt, hat geschlafen und gedöst. Oma hat sie noch nicht einmal ans Telefon gelassen. Sie hat den ganzen Tag mit Wundliegen und Langeweile verbracht.“
„Aber wenn sie erzählt hat … “
„Entspann dich, Rex. Selbst wenn Cassie einen vollständigen Bericht bei der Nationalgarde abgeliefert hätte, wird sie sich morgen früh, wenn sie aufwacht, nicht erinnern, was sie ausgeplappert hat. Die Sache ist erledigt.“
„Vielleicht solltest du bei ihrer Großmutter nachsehen.“
„Rex, es gibt kein Problem. Glaub mir. Wir machen das seit Jahrtausenden so.“
Ihm stockte der Atem, und Melissa spürte einen Stich von seiner Eifersucht. Sie hatte ihn an all das Wissen erinnert, das sie von Madeleine erhalten hatte. Er war endlich darüber hinweggekommen, dass sie Jonathan berührt hatte, und er verstand die Sache mit Dess, aber wenn sie mit der alten Gedankenleserin zum Dachboden hinaufging, war es aus mit seiner Vernunft.
Komisch, er war es doch, der sich mit der Geschichte auskannte. Er wusste, wie Gedankenleser früher mit einem Händedruck Informationen ausgetauscht, Midnighternachrichten und Tratsch in Bixby schweigend verbreitet hatten. Im Vergleich mit diesen Zeiten war Melissa wirklich keine Geisterschlampe.
Sie trat einen Schritt näher an ihn heran. „Komm jetzt, gehen wir zum Auto zurück. Ich zeige dir alles.“
„Sie hat gesehen, was gestern Nacht beinahe aus mir geworden wäre. Bist du sicher, dass sie … “
„Alles.“ Sie zog ihn an sich und brachte seine Lippen mit ihren zum Schweigen.