albtraum unterbrochen
12.00 Uhr Mitternacht
8
„Da hauen sie ab“, sagte Jessica.
Eine Wolke aus Gleitern flatterte in der Ferne aus den dichten Bäumen auf, wie ein Vogelschwarm, der durch einen Schuss aufgeschreckt wurde. Jonathan und sie waren gerade am höchsten Punkt ihrer Flugbahn, die Bahnlinie unter ihnen führte sie geradeaus bis weit in die Wüste hinein.
„So viele hab ich noch nie gesehen“, sagte Jonathan. „Nicht seit … “ Seine Stimme brach ab.
Jessica sah, dass sich der Schwarm geteilt hatte, eine Hälfte schwenkte ab, auf sie und Jonathan zu.
„Was haben die vor?“, fragte sie. Die Darklinge hatten sich von Jessica meistens ferngehalten, seit sie ihr Talent entdeckt hatte. Aber dieser Gleiterschwarm sah sehr danach aus, als ob er sich zum Angriff bereit machen würde. Die Kreaturen verteilten sich, flogen tief, sausten auf sie zu wie ein Ölteppich, der sich über den Baumwipfeln ausbreitet.
„Bin mir nicht sicher.“ Jonathan drückte ihre Hand. „Außerdem glaube ich, wir sind vom Weg abgekommen. Warte mal kurz.“
Sie sanken auf eine kleine Lichtung neben der Bahnlinie, das weiche Gras schluckte ihren Schwung.
„In welche Richtung?“, fragte sie. Vom Boden aus sahen die Bäume nach allen Seiten gleich aus.
Jonathan schüttelte den Kopf. „Weiß nicht. Außerdem brauchen wir viel zu lange.“
Die Strecke vom Auto aus hatte kostbare Minuten verschlungen, aber sie waren wenigstens schnell vorangekommen, eine unbefestigte Straße hinuntergesprungen, dann durch eine Gegend mit schäbigen Häusern auf großen, müllübersäten Grundstücken. Am Treffpunkt hatte Melissa in die Richtung gedeutet, in der Rex losgelaufen war, und gemeint, er wäre höchstens eine knappe Meile weit weg. Das dichte Gestrüpp hatte sie jedoch zu kurzen Sprüngen von einer Lichtung zur anderen gezwungen. Schlimmeres Gelände als dieses konnte man zum Überfliegen nicht finden. Süßhülsenbäume mit ihren rasiermesserscharfen Dornen waren gefährlich.
Nach all dem ziellosen Herumgehüpfe, dachte Jessica, mussten die anderen beiden, die unter Melissas Führung direkt durch das Unterholz gedrungen waren, ihr Ziel wahrscheinlich schon erreicht haben. Sie hoffte nur, dass sie genügend Waffen aus Dess’ Werkstatt dabeihatten, um Rex und das verschwundene Mädchen – und sich selbst – zu schützen, bis sie mit Jonathan endlich die richtige Flugbahn entdeckt hatten.
„Ich glaube, es geht hier lang“, meinte Jonathan. „Aber wo sind bloß … “
Plötzlich brach eine Woge lautloser Gestalten durch die Bäume. Die Gleiter hatten ihre Schwingen in ihre schlangenartigen Körper hineingerollt, wie bei schwarzen, von unsichtbaren Schützen gespannten Bogen. Jessicas Arme schossen gerade noch rechtzeitig nach oben, um einen abzuwehren, der auf ihr Gesicht zukam. Acariciandote explodierte in einem blauen Funkenregen, seine Anhänger glühten weiß vor Hitze, aber die eisigen Nadeln des Gleiterbisses schossen bis in ihre Schulter hinauf.
„Jess!“ Jonathan zog sie an sich, um sie mit seinem Körper zu schützen. Sie hörte, wie ein Gleiter mit einem dumpfen Schlag an seinem Rücken abprallte, und er stöhnte auf vor Schmerz.
Mit ihrer heilen Hand zog sie Desintegrator aus ihrer Tasche und schaltete ihn ein. Der weiße Lichtstrahl durchschnitt die blaue Zeit, wobei er einige der herumsausenden Wesen in rote Feuerstrahlen verwandelte.
Sie ließ ihre Taschenlampe in allen Richtungen durch die Bäume wandern, während der vertraute Energiestoß in ihren Körper fuhr. Der Strahl traf aber nirgendwo auf. Der Schwarm hatte die Lichtung in Sekundenschnelle überquert.
Jonathan ließ sie los, stöhnte und reckte sich, um die Stelle mitten auf seinem Rücken erreichen zu können. „Aua! Direkt an der Wirbelsäule! Kleine Mistviecher.“
„Was sollte das Ganze?“, jammerte Jessica, als sie die Taschenlampe ausschaltete.
Jonathan schlug die Augen auf, blinzelnd, bis das weiße Licht weg war. „Wer weiß? Vielleicht haben sie nicht gemerkt, dass du das warst … Runter! “ Er schlang die Arme um sie und zog sie zu Boden.
Jessica hörte, wie wieder Gleiter pfeifend direkt über sie hinwegflogen. Sie kamen erneut aus den Bäumen geschossen, aus einer anderen Richtung, ohne Furcht vor der Macht des Flammenbringers. Sie schaltete Desintegrator an und wedelte ziellos damit umher, ohne zu bemerken, wann die letzten Gleiter zwischen den Bäumen verschwanden.
„Wir müssen springen!“, rief Jonathan, der die Augen vor dem weißen Licht fest zusammenkniff. „Sie benutzen die Bäume als Deckung!“ Er zog sie an ihrer tauben Hand vom Boden hoch und sprang direkt gen Himmel. Sie drehten sich langsam umeinander, wegen der mangelnden Koordination war ihr Sprung nicht ausbalanciert.
Nur sie allein befanden sich in der Luft, aber Jessica sah, wie sich wieder ein Schwarm Gleiter von den Bäumen trennte und auf die Stelle zuschoss, an der sie gerade noch gestanden hatten. Sie lenkte den Strahl von Desintegrator abwärts, und kurz darauf bedeckten kreischende, brennende Körper den Boden der Lichtung.
„Was machen die da? Wissen die nicht, dass ich sie einfach umbringe?“
„Ich glaube, sie versuchen, uns aufzuhalten.“
Als sie an der Spitze ihres Sprungs angekommen waren, schwenkte Jessica die Taschenlampe umher, aber es flog nichts in ihrer Nähe. Der Rest der Gleiterwolke versammelte sich in der Ferne um einen schwarzen Kern, der sich vom Boden löste: einen einzelnen Darkling mit Flügeln.
„Das sieht nicht gut aus“, sagte sie. Der Rettungsplan hatte vorgesehen, dass etwas Großes eine Weile brauchen würde, um aus den Tiefen der Wüste Jenks zu erreichen. Offensichtlich war der Darkling jedoch rechtzeitig eingetroffen, während sie, der Flammenbringer, sich verspätet hatte.
„Kann ich die Augen aufmachen?“, fragte Jonathan, während sie zur Landung ansetzten.
Sie ließ die Taschenlampe noch einmal über die Bäume unter ihnen streifen. Nichts entzündete sich, also schaltete sie sie aus. „Na klar.“
Im Sinken ließ Jonathan seinen Blick langsam über den Horizont schweifen, dann deutete er mit seiner freien Hand in eine Richtung. „Da drüben ist es.“
Zwischen den niedrigen, knorrigen Süßhülsenbäumen stach ein Felsbrocken aufrecht wie ein böser Finger in die Luft. Er befand sich ungefähr in der Richtung, die Melissa ihnen gewiesen hatte, und sie hatte gesagt, dass Rex das verschwundene Mädchen in einer Art Höhle gefunden hätte.
„Komm, wir versuchen, das in einem Satz zu schaffen“, sagte Jonathan. „Wenn sie weißes Licht in Kauf nehmen, um uns aufzuhalten, dann sollten wir uns lieber beeilen.“
Ihr Instinkt übernahm, als sie sanken. Jessica drehte sich mitten in der Luft, um sich für den letzten Sprung zur Felsenspitze zu orientieren. Sie landeten im hohen Gras und sprangen ohne Pause weiter.
Wieder erhoben sie sich über die Bäume, und Jessica entdeckte zwei winzige Gestalten, die vor einer Spalte in dem Felsen beieinanderstanden. „Das sind sie!“
„Sie sehen so aus, als ob sie zusammengehören würden“, sagte Jonathan leise. „Sind da unten irgendwelche Gleiter?“
„Augen zu.“
Sie schaltete die Lampe wieder ein, ließ sie über die kleine Lichtung schweifen, über die Steine und die Baumwipfel.
Nichts ging in Flammen auf, nirgendwo wimmelten kreischende Gleiter aus dem Unterholz. Jessica entging jedoch nicht, dass Rex’ Augen purpurn aufleuchteten, als er aufsah.
Dann wandte er sich ab, und selbst aus der Luft war sein schmerzverzerrtes Gesicht zu erkennen.
„Huch.“ Jessica schaltete die Lampe aus. „Okay, du kannst jetzt gucken, Jonathan. Wir landen in fünf, vier … “
Sie kamen sanft in dem dicken Gras auf, etwa drei Meter neben Rex und dem kleinen, schmächtigen Mädchen, das sich an seinen Arm klammerte. Sie war etwa so alt wie Beth, trug ein abgetragenes Sweatshirt und eine Pyjamahose. Mit großen Augen starrte sie Jonathan und Jessica an. Vermutlich hatte sie sich heute Nacht schon häufiger gewundert, und jetzt flogen auch noch zwei Leute Hand in Hand durch die Gegend.
„Geht es dir gut?“, fragte Jonathan.
„Entschuldige, dass ich dich geblendet habe, Rex“, sagte Jessica.
Mit immer noch zitternden Händen vor den Augen antwortete Rex: „Macht nichts. Hat mir den Kopf frei geräumt. Ihr seid gerade rechtzeitig angekommen.“
Jessica zog eine Augenbraue hoch und fragte sich, was das heißen sollte. Es waren keine Gleiter mehr da. Warum hatten die sich grillen lassen, nur um sie noch eine Minute aufzuhalten?
Jonathan ließ Jessicas Hand los und ging zu dem Mädchen.
„Cassie, nicht wahr?“
Sie nickte stumm.
„Ich bin Jonathan. Aua, dein Ellenbogen hat wohl was abgekriegt, oder?“
Cassie besah sich die rote Stelle, dann deutete sie in die Höhle. „Hab mich dadrin gestoßen. Aber sieh dir nur mal meinen Knöchel an.“ Sie zog ein Hosenbein hoch, unter dem die dunkle Wunde von einem Gleiterbiss zum Vorschein kam.
Jessica verzog das Gesicht, wobei sie ihre Hand schüttelte, die von den eisigen Nadeln immer noch kribbelte.
„Aua!“, meinte Jonathan. „Ich hasse Schlangen.“
„Nein, das war die blöde Katze.“
Jonathan warf Jessica einen Blick zu.
Sie erinnerte sich an jene Nacht, bei ihrem zweiten Besuch in der geheimen Stunde, als die schwarze Gleiterkatze sich vor ihren entsetzten Augen in eine Schlange verwandelt hatte.
Dann war ein weiteres Dutzend Gleiter aufgetaucht, zusammen mit einem Darkling in der Gestalt eines Riesenpanthers.
Und dann kam die größte Überraschung von allem: Es stellte sich heraus, dass das ganze kein Traum war, sondern eine komplett neue Realität, die sich vor ihr auftat.
Jessica runzelte die Stirn. Am Telefon hatte niemand ihr gegenüber erwähnt, was passieren sollte, nachdem sie Cassie aus der blauen Zeit erlöst hatten. Wie sollte sie sie davon abhalten, alles in der ganzen Stadt herauszuplappern?
Na klar, die Antwort lag auf der Hand. Melissa würde sich in den Verstand des jungen Mädchens einschleichen und dort auslöschen, was hier passiert war. Das hatte sie bereits mehr als einmal getan – mit Jessicas Eltern vermutlich auch. Und als Melissas Talent noch jung und ungebildet gewesen war, hatte sie sich den Weg in das Gehirn von Rex’ Vater erzwungen.
Seitdem war der alte Kerl ziemlich durchgedreht. Bei dem Gedanken an seine milchigen, leeren Augen lief es Jessica erneut kalt den Rücken hinunter.
Vielleicht musste es aber gar nicht so sein.
„Das ist ein ziemlich bescheuerter Traum, was?“, sagte sie zu dem Mädchen und rieb sich die Hand mit dem Gleiterbiss.
Jonathan zog eine Augenbraue hoch, und sogar Rex, der immer noch ziemlich durcheinander aussah, gab einen kurzen Lacher von sich.
„Was denn?“ Jessica zuckte mit den Schultern. „Ich sag doch bloß, wie das mit Albträumen so ist. Dieser gehört zu der verrückten Sorte, stimmt’s, Cassie?“
Der benommen verwirrte Ausdruck verschwand allmählich aus dem Gesicht des Mädchens, als sie nachdenklich wurde.
„Also, irgendwie habe ich mich gefragt: Was geht hier ab?“ Sie sah zu dem dunklen Mond hoch. „Was ist hier passiert? Und wer seid ihr alle?“
„Du hattest Fieber, nicht wahr, Cassie?“, fragte Jessica.
„Kein Fieber. Meine Oma hat gesagt, es wäre nur eine Erkältung.“
„Ach so. Na gut“, sagte Jessica langsam und nachdrücklich.
„Aber manchmal träumt man komisch, wenn man krank ist.“
Cassie verschränkte die Arme. „Stimmt, kann schon sein.
Aber normalerweise erzählen mir die Leute in den komischen Träumen nicht, dass ich träume.“
Jonathan lachte. „Netter Versuch, Jess.“
„Allerdings, die Kleine ist nicht so dumm“, ergänzte Rex.
„Und außerdem schlauer, als sie aussieht.“
„Schlauer?“, jammerte Jessica. „Was soll das heißen? Ich hatte die blaue Zeit für einen Traum gehalten, wisst ihr noch?“
„Na klar.“ Rex kicherte. „Lass dich nicht davon abhalten, ihr zu erzählen, was du willst, bis Melissa hier ist.“
Jessica schnaubte und sah Jonathan an, der mit den Schultern zuckte und ein hilfloses Gesicht machte. Ihm gefiel die Vorstellung auch nicht besonders, ihm fiel aber eindeutig nichts Besseres ein, wie sie die geheime Stunde geheim halten sollten.
Im Unterholz knackte es.
„Wo wir gerade davon sprechen“, sagte Rex.
Dess tauchte als Erste auf, auf ihrer Schulter ein langes Rohr balancierend wie einen Speer, der zum Abwurf bereit ist. Sie kam auf die Lichtung gestolpert, blieb stehen und sah von einem zum anderen. Dann ließ sie den Speer mit einem angewiderten Schnauben sinken. „Keine Monster mehr übrig, was?“
„Alles unter Kontrolle“, antwortete Rex.
„Ratten“, sagte Dess. „Jessica, ich hab nichts mehr erlegt, seit du Flammenbringer geworden bist.“
Jessica seufzte. „Stimmt. Böse von mir.“
Melissa kam ins Blickfeld, ihr langes, schwarzes Kleid hinter sich herschleppend, in dessen Saum sich Äste und Zweige verfangen hatten.
„Mann, Rex. Das war irre“, verkündete sie.
„Du hast es geschmeckt?“, fragte er leise.
„Konnte einem schlecht entgehen“, sagte Melissa und fuhr an einer ihrer Narben mit dem Finger entlang. „Ich wusste ja schon, dass du eine Identitätskrise hast. Ich hätte aber nicht gedacht, dass ein Darkling mit dir einer Meinung sein könnte!“
Jessica sah von einem zum anderen. Rex’ Gesicht trug einen seltsamen Ausdruck, außerdem fiel ihr auf, dass seine Hände immer noch zitterten, mit Fingern, die wie Klauen gekrümmt waren. Melissa starrte ihn an, als ob ihm Hörner gewachsen wären.
„Haben wir hier irgendwas verpasst?“, fragte Dess laut.
„Genau, was ist passiert?“, ergänzte Jessica. „Ich hab gesehen, wie ein Darkling abgehauen ist.“
Melissa trat einen Schritt näher an Rex und das Mädchen heran. „Der Darkling war hier, aber er schien zu glauben, dass Rex ein … “
„Nicht!“, unterbrach Rex.
Es folgte ein langes Schweigen, während die beiden einander anstarrten.
„Nicht jetzt“, fauchte er.
„Puh“, sagte Cassie Flinders. „Vielleicht träume ich doch, weil ihr alle echt seltsam seid.“
Alle sahen das Mädchen an. Sie stand da, hielt ihren Blicken trotzig stand. Jessica fand, dass sie wirklich recht hatte.
„Okay, Kleine“, sagte Melissa nach einer weiteren unangenehmen Schweigeminute. „Ich denke, du gehörst längst ins Bett.“
„Wir haben doch erst Morgen“, antwortete Cassie, dann sah sie zum Himmel auf und runzelte die Stirn. „Jedenfalls war es das … “
„Egal wie, ich kann kaum glauben, dass deine Oma dich hat aufstehen lassen“, sagte Rex. „Wo du doch krank bist.“
„Ich darf immer hinten im Garten spielen“, erklärte Cassie beleidigt. „Sie meint, frische Luft wäre gut bei einer Erkältung.“
„Ich bring dich jedenfalls zurück unter deine Bettdecke“, erklärte Melissa und streckte eine Hand aus. „Komm mit mir mit.“
„Sagte die Spinne zur Fliege“, murmelte Dess.
Jessica sah über die Lichtung hinweg Jonathan an. Es musste einen anderen Weg geben, das Geheimnis zu wahren, ohne in den Gehirnen anderer Leute herumzupfuschen. Sie war schließlich noch ein Kind. Wer würde ihr glauben?
Als sich Melissas Hand um Cassies legte, schien sich das Mädchen zu entspannen. Dann gähnte sie, ihre Augen wurden schläfrig.
Melissa wandte sich an die anderen. „Schluss jetzt, Leute.
Ich bin um einiges besser als früher.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nebenbei bemerkt: Ich werde sie nicht beruhigen und ins Bett bringen und eventuell vorschlagen, dies alles könnte ein Albtraum gewesen sein. Wenn es um radikale Überarbeitung der Erinnerung geht, dann arbeite ich nur mit Starren. Was Cassie, wie ihr vielleicht bemerkt habt, nicht ist.
Alles andere wird warten müssen.“
„Wovon redet ihr bloß?“, fragte Cassie schläfrig.
Melissa lächelte und führte Cassie zurück zu den Bahnschienen. „Wir diskutieren, wie du diesen verrückten Traum morgen in Erinnerung haben wirst.“ Sie zwinkerte Rex zu.
„Aber übermorgen vielleicht nicht.“
„Sie wird den Leuten also davon erzählen?“, fragte Jonathan. „Und dann einen Tag später alles vergessen? Werden das nicht alle anderen seltsam finden? Ich meine, wahrscheinlich ist sie morgen in den Nachrichten.“
Rex zuckte mit den Schultern. „Sie ist ein Kind, sie ist krank, sie ist weggelaufen. Was soll’s also, wenn sie einen Tag lang wirres Zeug redet? Und wenn wir ihr morgen um Mitternacht einen Besuch abgestattet haben … “ Er hob eine Hand und schnippte mit den Fingern.
Bei dem Geräusch lief es Jessica kalt den Rücken hinunter.
Vielleicht hatten sie recht, und Gedankenlesen war der einzige Weg, das Geheimnis zu wahren. In den alten Zeiten, als Bixby von den Midnightern praktisch regiert wurde, hatten sie das wahrscheinlich andauernd getan. Trotzdem, besonders glücklich machte sie die Vorstellung nicht.
„Und Rex, soll ich sie draußen in der Sonne lassen?“, fragte Melissa vom Rand der Lichtung.
„Nicht nötig“, antwortete er. „Jessica hat uns beiden bereits eine blendende Dosis weißes Licht verpasst. Das hat bei mir funktioniert, als ich halb Darkling war, es müsste bei ihr also auch funktionieren. Treffen wir uns am Auto?“
„Sicher doch, Spiderman“, rief Melissa und winkte zum Abschied.
Jessica sah zu, wie die beiden zwischen den Bäumen verschwanden, und wunderte sich, wie fügsam und schläfrig Cassie geworden war, nachdem Melissa sie bei der Hand genommen hatte. Vielleicht lag es einfach an dem Schock, der das arme Mädchen nach all den Erlebnissen völlig überwältigt hatte. Madeleine hatte Dess’ Erinnerungen aber auch mit einer einzigen Berührung unterdrückt.
Melissa wurde von Tag zu Tag mächtiger. Jessica fragte sich, was sie wohl anstellen konnte, wenn sie auf jemanden richtig sauer wurde.
„Und, Jessica, bist du bereit, nach Hause zu fliegen?“, fragte Jonathan.
Sie sah Rex an. Er kam ihr immer noch erschüttert vor, als ob die Sache heute Nacht knapp gewesen wäre.
„Kommt ihr alleine klar, Rex?“
Er nickte. „Logo. Ich bleib noch ein bisschen und sehe mich um, ob es hier irgendwo Lehre gibt. Oder andere Hinweise, was mit der Stelle los ist. Ich glaube, ihr habt den Darklingen die Party versaut, wenigstens für den Rest der Stunde. Und Dess hat ihre …“
„Schwärmerisch Mathematische Zahlenkolonne“, ergänzte sie und stemmte den Speer stolz in die Höhe.
„Und was ist mit deinem Auto?“, fragte Jessica.
Er hob die Schultern. „Hole ich morgen.“
„Ich kann es in die Stadt fahren“, bot Dess an.
„Glaub ich nicht“, antwortete Jonathan.
Dess schnaubte verächtlich und stach ihm mit der Spitze von Zahlenkolonne in die Rippen.
Jessica stand da, rieb sich ihre verletzte Hand und hing trüben Gedanken nach. Sie hatten heute Nacht ein junges Mädchen gerettet, aber der Preis für die Rettung war, dass die Erinnerung an das wundersamste Erlebnis des Mädchens für immer ausgelöscht werden würde. Und Cassie Flinders war nur der Anfang, wenn die blaue Zeit riss, konnten mehr unglückliche Menschen in die geheime Stunde eintreten, wo hungrige Monster auf sie warteten. Und möglicherweise würde die normale Zeit zu Ende gehen.
Zu allem Überfluss wartete Beth vermutlich gerade jetzt in Jessicas Zimmer darauf, ihren heiligen Zorn über ihr auszuschütten, wenn sie nach Hause kam.
„Weißt du was?“, sagte Jessica. „Du kannst mich nach Hause fahren, wenn die geheime Stunde vorbei ist.“
Jonathan sah sie stirnrunzelnd an, während er sich den Rücken rieb. „Und die Sperrstunde?“
„Die riskiere ich. Ihr macht das ständig.“
„Was ist mit Beth? Ich habe ihr achtzehn Minuten versprochen.“
„Das riskiere ich auch.“
„Aber was …?“
„Jonathan, du musst mich noch nicht nach Hause bringen, okay?“ Sie nahm seine Hände und spürte, wie Schwerelosigkeit in ihren Körper strömte. „Diese Nacht war bis jetzt total scheiße. Vielleicht könnten wir einfach ein bisschen fliegen?
Einfach nur so. Wir können uns Zeit lassen, bis ich nach Hause muss.“
Seine Stirn glättete sich, und auf seinem Gesicht breitete sich allmählich ein Lächeln aus.
„Mit dem Heimweg Zeit lassen?“, fragte Dess grinsend.
„Nennt man das heutzutage so?“
Rex kicherte leise.
Jessica ignorierte sie. Der aufregende Angriff der Gleiter hatte das gegenseitige Unverständnis in Bezug auf kleine Schwestern beseitigt. Und über seine Bemerkung, dass er Beth mögen würde, hatte sie sich zwar die ganze Zeit geärgert, aber jetzt fand sie das irgendwie süß.
„Komm schon. Lass uns zusammen irgendwo hinfliegen“, sagte sie. Sie massierte sich die Schulter. „Wo wir gerade nicht mit Gleitern beworfen werden.“
„Sag mal“, hob er an, nachdem er kurz nachgedacht hatte,
„hast du den Fluss eigentlich schon mal gesehen?“
„Den Arkansas?“ Jessica zuckte mit den Schultern. „Nur von der Brücke, bei unserer Herfahrt.“
„Den Arkansas River hast du erst wirklich gesehen, wenn du ihn in der geheimen Stunde gesehen hast“, sagte Jonathan.
„Regloses Wasser eignet sich perfekt, um Steine hüpfen zu lassen.“
„Oh, cool.“ Sie versuchte einen Moment lang, die Gesetze der Bewegung auf dieses Phänomen anzuwenden, aber ihr neuer Physiklappen versagte. „Und wie funktioniert das?“
Jonathan lächelte wieder, seine braunen Augen blitzten im Licht des dunklen Mondes. „Die Erklärung ist ein bisschen knifflig. Sie hüpfen aber viel mehr als auf dem normalen Wasser. Schwimmen macht auch Spaß.“
„Okay“, sagte Jessica. „Ich könnte ein bisschen Spaß gebrauchen.“
„Dann komm jetzt. Ich zeige es dir.“
Jonathan reichte ihr seine Hand, und sie nahm sie.
„Dann viel Spaß, ihr beiden“, rief Dess.
„Danke“, antwortete Jessica. „Bis bald, Rex.“
Der Seher nickte bloß, seine Hände zitterten immer noch.
Dass sein Gesicht aschfahl war, sah man sogar im blauen Licht. Was war mit ihm passiert, bevor sie hier ankamen? Und warum war der Darkling weggerannt, als sie noch nach dem richtigen Weg gesucht hatten, während seine Lakaien versuchten, sie aufzuhalten?
Sie schüttelte ihren Kopf. Rex und Melissa hatten offensichtlich immer noch Geheimnisse vor ihnen.
Sie sprangen hoch und über die Bäume, fanden den Rückweg an der Bahnlinie entlang und dann über Jenks hinweg, bis Jessica in der Ferne den Fluss schimmern sah. Aus der Luft sah er wie ein riesiger Schlangengleiter aus, der sich von den Bergen hinabwand, im kalten Licht des dunklen Mondes leuchtend.
„Weißt du“, sagte Jonathan, während sie flogen, „vielleicht ist es besser für Cassie. Das Ganze zu vergessen.“
„Kann sein. Kommt mir aber nicht fair vor.“
„Schon, aber denk dran, wie sehr sich ein Kind wie sie fürchten muss. Wenn sie weiß, dass all diese seltsamen Kreaturen jede Nacht über sie hinwegkriechen, wenn sie eine Stunde erstarrt ist.“
„Da hast du wahrscheinlich recht“, gab Jessica zu. „Mir macht es schließlich auch Angst, und dabei bin ich der mächtige Taschenlampenbringer.“
„Und zur Angst käme dazu, dass jeder sie für total durchgeknallt erklären würde. Irgendwann wird sie ihnen dann auch noch recht geben, da sie die blaue Zeit nie wieder sehen wird.“
Sie landeten auf einem strandähnlichen Stück, einem schmalen Streifen vertrockneter Erde mit vereinzelten Grasbüscheln. Der Fluss breitete sich vor ihnen aus, reglose kleine Wellen glitzerten wie Schuppen aus Diamant, in denen sich das zersplitterte Bild des dunklen Mondes spiegelte.
Es sah wunderschön aus, aber Jessica fröstelte.
„Ist dir etwa kalt?“
„Nein. Hier ist es immer warm.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ich habe mich nur gefragt, ob Cassie die blaue Zeit wieder sehen wird. Ich meine, was ist, wenn Dess recht hat? Was ist, wenn die geheime Stunde ganz Bixby verschluckt – oder so gar die ganze Welt –, und zwar für immer? Und wir alle werden hineingesogen, so wie Cassie? Autos und Elektrizität funktionieren plötzlich nicht mehr, und die Leute können auch kein Feuer mehr machen. Nur wir fünf wissen, wie man sich mit Wörtern aus dreizehn Buchstaben und Edelstahl schützt. Wie geht es dann weiter?“
Er drückte ihre Hand. „Dann werde ich kommen, um dich zu holen, wo du auch bist. Wir werden klarkommen.“
„Aber all die anderen?“
Er blickte nachdenklich über den Fluss und nickte langsam.
„Ich würde sagen, alle anderen haben ein fettes Problem.“