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3.27 Uhr nachmittags
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„Milch, keinen Zucker, stimmt’s?“
„Ja, bitte.“ Dess lächelte höflich, aber der bittere Geschmack von Madeleines Tee kribbelte bereits in ihrer Einbildung, die saure Würze des Betrugs lag ihr auf der Zunge.
Im Grunde müsste dieser geheime Ort ihre Spielwiese sein.
Schließlich war es Dess gewesen, die Madeleine ausfindig gemacht hatte. Sie hatte sich durch schlaflose Nächte gekämpft, um die wirren Träume zu entschlüsseln, die die alte Gedankenleserin ihr geschickt hatte. Sie hatte die Berechnungen angestellt.
Aber das war alles nur für Melissa und Rex geschehen. Sie waren es, die sich hier in Madeleines temporaler Kontorsion, ihrem kleinen Versteck, richtig wohl fühlten. Endlich hatte Rex so viel Lehre, wie er sich nur wünschen konnte. Lesestoff für viele Jahre wartete hier in diesem Haus auf ihn, lauter Dokumente, die die Überlebende der letzten Midnightergeneration mit in ihr Versteck hatte retten können.
Und Melissa … die hatte den ersten Preis gewonnen.
Dess fiel auf, dass sich die Finger der beiden Gedankenleserinnen kurz berührten, als Melissa ihre Tasse von Madeleine entgegennahm. Beide grinsten über einen still geteilten Witz.
Bei dem Anblick bekam sie eine Gänsehaut. Die beiden kommunizierten hauptsächlich mittels Gedankenübertragung, selten tauschten sie Worte aus. Dess fragte sich, was sie sich jetzt gerade erzählten.
Von der gegenüberliegenden Seite des großen Esstischs beobachtete Rex sie ebenfalls. Außer Rex war Madeleine die einzige Person, von der sich Melissa berühren ließ – was außerdem sowieso niemand wollte –, er schien auf kleine Momente wie diesen jedoch nicht eifersüchtig zu sein. Es waren die langen Sitzungen, wenn sich die beiden Gedankenleserinnen stundenlang mit verschlungenen Händen in die Augen sahen, die dazu führten, dass Rex total besitzergreifend wurde.
Dabei hatte Melissa viel aufzuholen. Als einzige Gedankenleserin allein aufgewachsen hatte sie die alten Tricks nie gelernt, die ihr die vorherige Generation hätte beibringen müssen.
Ein Schatz wartete in Madeleines Gehirn auf sie – Erinnerungen, Techniken und Geschwätz, im Laufe von Jahrtausenden aufgehäuft, seit der erste Gedankenleser gelernt hatte, wie man Wissen mit den Händen weiterreicht.
Dess fragte sich, wie diese Rechnung aufging. Wenn Generationen von Gedankenlesern all ihre Erinnerungen an die nächste Truppe weiterreichten, die sie dann zusammen mit den eigenen an die Nachfolger übergaben, die dann wieder die eigenen Erinnerungen dazutaten, und so weiter … würde der Haufen nicht irgendwann zu groß werden? Würde das ganze Wissen nicht irgendwann an Stabilität verlieren, wie Bausteine, die man höher und höher aufeinanderstapelte, bis das Ganze irgendwann zusammenbrach?
Vielleicht wurden die Erinnerungen verworrener, je weiter man in der Zeit zurückging, wurden zu einem verschwommenen Sammelsurium aus Gedanken und Gefühlen, wie bei den Piktogrammen, mit denen Meteorologen das Wetter darstellten. Dess stellt sich ein großes H vor, das über Madeleines Haus schwebte, um vor Hurenhochdruck zu warnen.
„Hör auf, mit der Tasse zu klappern, wenn du umrührst, Jonathan!“
Wo wir gerade dabei sind, dachte Dess, als sie mit Jonathan genervte Blicke austauschte. Er rührte weiter in seinem Tee und fügte noch einen ironischen kleinen Wirbel ein, den Madeleine nicht zu bemerken schien.
Wenigstens brauchten sie ihre Gedanken hier nicht zu bearbeiten. Madeleines Haus war in einer mordsmäßig großen temporalen Kontorsion gebaut, einer Falte in der blauen Zeit, in der es nahezu unmöglich war, jemandes Gedanken zu plündern, ohne ihn anzufassen. Als ob man neben einer Starkstromleitung leben würde, die einem den Fernsehempfang versaute.
Diese Kontorsion war es, die Madeleine in den letzten fünf Jahrzehnten beschützt hatte. Hier war sie für die Darklinge unsichtbar, verborgen mit ihren Antiquitäten und Büchern und all den Überbleibseln aus den Zeiten, in denen die Midnighter in Bixby regierten, statt sich in dunklen Ecken herumzudrücken.
Dess betrachtete den Schrott, der sich in den Ecken des Zimmers stapelte. Ihr Verstand analysierte automatisch die Winkel der Tridekagramme aus rostigem Metall, all die Muster aus Dreizehnern und Neununddreißigern, die einst die wichtigsten Bürger der Stadt beschützt hatten. Unter dem Plunder waren ein paar ziemlich interessante Teile, auf denen altmodische Tridecalogisms eingraviert waren wie Accele-rograph und Paterfamilias. Sie musste es zugeben: Rex und Melissa waren nicht die Einzigen, die hier Zeug zum Spielen fanden.
Dennoch wurmte es Dess, dass diese beiden überhaupt an ihrer Entdeckung teilhatten. Vor allem, weil Dess, Jessica und Jonathan die schweißtreibende Aufgabe zukam, Madeleine zu beschützen. Die drei hatten Stunden damit zugebracht, die am wenigsten verrotteten Darklingverteidigungen auf einem Haufen zu sammeln. Dann hatte Dess dafür gesorgt, dass jedes einzelne Teil einen brandneuen Namen mit dreizehn Buchstaben bekam, und sie alle ums Haus herum verteilt, um eine letzte Verteidigungslinie zu bauen, falls die Darklinge Madeleines Versteck jemals entdecken sollten.
Und was hatten sie zum Dank dafür bekommen? Meistens wurden sie angeschnauzt, weil sie so viel Krach machten.
„So, jetzt haben wir alle einen Tee“, verkündete Madeleine.
„Vielleicht sollten wir diesen kleinen Vorfall von heute Morgen erörtern.“
„Wird auch Zeit“, murmelte Dess. Ihre Finger fuhren an den tiefen Kratzern auf der Tischplatte entlang. Er war vollständig mit großen, schweren Tridekagrammen aus Eisen überladen gewesen, bis sie das Zimmer aufgeräumt hatten, um es bewohnbar zu machen.
Madeleine hob eine Augenbraue. „Nun denn, Desdemona.
Du fühlst dich etwas gereizt an, vielleicht möchtest du anfangen?“
„Ich? Was weiß ich denn schon davon? Irgendwie hatten wir gehofft, Sie könnten uns was darüber sagen.“
„Du kannst aber doch sicher ein paar Zahlen beitragen?“
Dess seufzte. „Also, wir haben Rex’ schicke Uhr überprüft, nachdem die Finsternis vorbei war. Er stellt sie jeden Morgen nach der Zeit auf dem GPS-Empfänger, die immer hundertprozentig stimmt.“ Sie tastete nach dem vertrauten Gegenstand in ihrer Tasche. „Wie sich herausstellt, ist sie einundzwanzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden weitergelaufen – genau so lange war der dunkle Mond am Himmel. Das sind neun mal einhundertvierundvierzig Sekunden, was eine ziemlich darklingfreundliche Zahl ist. Muss etwas zu bedeuten haben.“
„Du weißt aber nicht, was?“, fragte Madeleine.
„Noch nicht.“ Dess nippte an ihrem Tee. Vielleicht würde ihr der bittere Geschmack helfen, ihren Verstand auf das Problem einzustellen.
„In der Lehre wird nichts Vergleichbares erwähnt“, warf Rex ein. „Soweit ich sie gelesen habe. Haben Sie vielleicht alte Erinnerungen, die von Nutzen sein könnten?“
Madeleine nahm sich viel Zeit für ihre Antwort, als ob sie Jahrhunderte von Gedankenechos in ihrem Kopf filtern müsste. Stimmen im Kopf … Das hörte sich nicht unbedingt gesund an. Vielleicht war Madeleine unter dem Gewicht all dieser aufgehäuften Erinnerungen immer verrückter geworden, während sie sich allein in diesem Haus versteckt gehalten hatte.
Vielleicht gaben Gedankenleser vorrangig weiter, mit welchem Trick man so tat, als ob man normal wäre, während sie alle miteinander, Madeleine und Melissa eingeschlossen, eigentlich so durchgeknallt waren wie Fledermauskacke.
Dess lächelte vor sich hin. Vielleicht könnte Madeleine einen neuen geistigen Spitznamen gebrauchen.
„Nein, Rex“, sagte Maddy schließlich. „Wie in der Lehre offenbaren unsere Erinnerungen auch keinen Hinweis auf diese Ereignisse. Ich bin sicher, dass all dies ziemlich beispiellos ist.“
Dess musste insgeheim grinsen. Natürlich würde die Geschichte nichts bringen. Das hier war eine Aufgabe für Zahlen, Karten und GPS-Präzision.
„Genau das hatte ich befürchtet“, erklärte Rex niedergeschlagen.
„Befürchtet, Rex?“, spottete Madeleine. „Was bist du nur für ein Hasenfuß! Zu meiner Zeit redete man nicht von Furcht! Man redete von Taten!“
Diesmal war es an Rex, die Augen zu verdrehen. Er verbarg seine Reaktion, indem er zur Tasse griff und wegen des bitteren Geschmacks das Gesicht verzog.
Tolle Gedankenleserin, dachte Dess. Maddy merkte noch nicht einmal, dass alle ihren Tee verabscheuten.
„Also“, sagte Jonathan, „Sie haben doch sicher irgendwas gespürt, als die Finsternis gekommen ist. Melissa hat gesagt, dass die Darklinge gefeiert haben. Glauben Sie, dass die damit gerechnet haben, dass das passiert?“
„Aha, jetzt kommen wir der Sache näher“, antwortete Maddy.
Rex warf Jonathan einen verärgerten Blick zu, weil er jene Frage gestellt hatte, die als Nächstes auf der Hand lag, und Maddy damit Gelegenheit gab, sich damit zu brüsten.
Sehr schlau, dachte Dess. Die alte Gedankenleserin hatte es drauf, die beiden Jungs gegeneinander auszuspielen. Dess hatte ein paar alte Fotos der jugendlichen Madeleine im Haus gefunden, und die war in den Vierzigerjahren eine ziemlich flotte Biene gewesen.
Man sollte allerdings nicht vergessen, dass es Maddy gewesen war, die damals geplaudert hatte und einem Daylighter, Opa Grayfoot (vermutlich einem ihrer Verehrer), die Geheimnisse der blauen Zeit gesteckt hatte. Theoretisch ging also das ganze darauf folgende Chaos auf ihre Kappe: die Erschaffung des Halblings, die Beseitigung der vorherigen Midnightergeneration und die Tatsache, dass sie alle fünf verwaist und unwissend waren.
„Und was haben Sie geschmeckt?“, fragte Rex.
Maddy legte eine dramatische Pause ein, dann sah sie ihrem Schüler am anderen Ende des Tisches in die Augen.
Melissa hörte auf, auf ihrer Unterlippe zu kauen, und sagte:
„Wir sind uns noch nicht ganz sicher. Wir hatten noch keine Gelegenheit … “, sie sah Rex an, „… unsere Notizen zu vergleichen.“
„Es gab aber ein paar Risse“, sagte Maddy. „Orte, an denen sich die falsche Midnight sehr dünn anfühlte.“
„Orte?“, fragte Dess und wurde hellhörig. Orte ließen sich in Längen- und Breitengraden darstellen – in lieblichen Zahlen. „Sie meinen, so wie diese temporale Kontorsion?“
Maddy nickte. „Ja, aber keine Verstecke. Flecken, wo die Barriere zwischen der blauen Welt und unserer fast zu verschwinden schien.“
„Oh.“ Mit der einen Hand in ihrer Tasche packte Dess den GPS-Empfänger fester. „Sie meinen, wie bei Sheriff Michaels?“
„Sheriff Michaels?“, fragte Jonathan. „Der Typ, der verschwunden ist?“
Für einen Moment schwiegen alle.
Vor einiger Zeit – noch bevor Jessica und Jonathan nach Bixby gezogen waren – war der Sheriff der Stadt draußen in der Wüste verschwunden. Man hatte nur seine Waffe und seinen Stern gefunden, dazu seine Zähne mit den ganzen Plomben – darklingfeindliche Hightechzeugnisse der zahnärztlichen Kunst.
Das Gerücht ging um, er wäre von Drogendealern umgebracht worden, aber mittels Rex’ Lehre und ihrer sorgsamen Kartendokumentation der blauen Zeit ahnte Dess, was wirklich passiert war.
Sie räusperte sich. „Nun, wir wissen doch, dass Darklinge essen müssen, oder? Selbst wenn sie nur eine von fünfundzwanzig Stunden leben, brauchen Räuber Beute, um zu überleben. Gewöhnliche Tiere können in die blaue Zeit hinübertreten, wenn sie genau um Mitternacht am falschen Ort sind.
Darklinge ernähren sich also hauptsächlich von Kaninchen und Kühen, die Pech gehabt haben. Aber dann und wann rutscht auch mal ein menschliches Wesen durch.“
„Pf“, meinte Madeleine. „Zu meiner Zeit wussten die Leute, wo sie sich um Mitternacht nicht aufhalten durften.“
„Stimmt, aber Ihre Zeit gibt’s nicht mehr“, sagte Dess.
„Warte mal“, sagte Jonathan. „Ich dachte, Darklinge könnten normalen Leuten nichts tun.“
Dess schüttelte den Kopf. „Wenn du einmal die Grenze zur Midnight überschreitest, bist du für diese Stunde Teil dieser Welt. Und geeignet, in die Nahrungskette der Darklinge aufgenommen zu werden.“
Madeleine nickte. „Gelegentlich haben wir verbündete Daylighter durchgebracht, damit sie die blaue Zeit selbst sehen konnten. Eine besondere Auszeichnung. Wenn die Midnight zu Ende war, erstarrten sie seltsamerweise, genau wie die Darklinge in der normalen Zeit. So blieben sie, bis die Sonnenstrahlen sie berührten.“
„Wie Anathea“, sagte Jonathan leise. „In der Midnight gefangen.“
„Großartig, dann könnte es also sein, dass Zivilisten in der blauen Zeit herumrennen“, murmelte Rex. „Und Sie meinen, dass sich die Finsternis auf diese Kontorsionen konzentriert hat?“
Bedächtig zeichnete Madeleines faltige Hand Figuren auf den zerkratzten Tisch. „Nicht so ganz, Rex. Die Finsternis schien zusätzlich welche herzustellen.“
„Herstellen?“, fragte Dess. Die Falten in der Midnight waren in die Karten eingebrannt. „Man kann Längen- und Breitengrade nicht einfach wie Grundstücksgrenzen verschieben!“
„Und die Darklinge bewegten sich auf die Risse zu“, ergänzte Melissa leise. „Sie konnten sie ebenfalls spüren.“
Maddy stand auf, ging den Tisch herum und legte Melissa eine Hand auf die Schulter. „Wir haben die Erfahrungen aber noch nicht verglichen. Wir sagen Bescheid, wenn wir mehr wissen. Ich bin sicher, dass ihr euch selbst beschäftigen könnt.“
Die beiden machten sich auf den Weg zum Dachboden.
Rex sah für einen schlecht kaschierten Moment zum Schreien eifersüchtig aus, dann schlug er einen bemüht sachlichen Ton an. „Gut, ich sehe in einigen von den älteren Büchern der Lehre nach“, rief er Maddys sich entfernenden Schritten hinterher. „Für alle Fälle.“
Dess stöhnte. „Und während die beiden ihre Gedankenleserzeit nehmen, werde ich mir ein paar Karten ansehen.“
Rex zog eine Augenbraue hoch und sah Jonathan an. Ohne Jessica war der Flyboy irgendwie hilflos – konnte nicht in der Lehre lesen, keine Berechnungen anstellen, und jetzt am Nachmittag noch nicht einmal fliegen. Dess tat er leid. Was sollte er tun? Vorhänge waschen?
„Äh, ich habe mich gerade gefragt“, stotterte Jonathan, „ob sie eigentlich einen Fernseher hat?“
Das Haus roch allmählich weniger alt und muffig, als ob ihm die ersten Gäste nach einem halben Jahrhundert etwas Leben eingehaucht hätten. Aber sobald Dess irgendetwas bewegte, ein Buch oder eine Karte vom Regal nahm, wirbelte Staub auf, der sie zum Niesen reizte. Wenn sie bis spätabends hier gearbeitet hatte, fühlten sich ihre Finger stets trocken und spröde an, als ob der alte, durstige Staub die Feuchtigkeit aus ihnen herausgesogen hätte.
Während sie das Esszimmer geputzt hatte, war Dess auf einen Kartenvorrat von Maddy gestoßen, gelbe Rollen aus schwerem Papier, die einem praktisch in den Händen zerkrümelten. Die ältesten trugen spanische Randbemerkungen, weshalb Jonathan mit den Übersetzungen zu tun hatte, obwohl er die spillerige, altmodische Handschrift anstrengend fand. Dess interessierte sich natürlich in Wirklichkeit weniger für die Worte. Die geheime Stunde lag genau bei 36 Grad Nord und 96 West, und aus diesen Koordinaten flossen alle Merkwürdigkeiten in Bixby. Hier ging es ausschließlich um Zahlen.
Dess’ interessanteste Entdeckung war, wie die frühen Karten der Midnighter mit späteren Bemühungen übereinstimmten. Zum einen waren damals weder GPS noch anständige Uhren erfunden, weshalb die Zahlen auf Sternbildern und Mutmaßungen beruhten. Je weiter man also zurückging, desto gekrümmter und verzerrter sah alles aus, als ob sie sich die Welt damals durch eine Colaflasche angesehen hätten. Und natürlich hatten die Midnighter im Lauf der Zeit mehr über die geheime Stunde herausgefunden. Mit jedem Jahrzehnt erfassten die Karten der Midnighterdomäne größere Teile von Oklahomas Südwesten oder des Indian Territory oder Mexikos – je nachdem, wer zuletzt wo geklaut hatte.
Dess hatte eine Stunde friedlich am Esstisch verbracht, in die langsame Entwicklung der Midnighterkartografie vertieft, als sie aufschrak, weil sich eine kühle Hand auf ihre Schulter legte.
„Desdemona?“
„Mensch! Wie können Sie mich so erschrecken?“ Dess sah vorwurfsvoll auf Maddys Hand. Wenigstens hatte die Gedankenleserin nicht ihre nackte Haut berührt.
„Oh, entschuldige bitte.“ Die schrumpelige Hand zog sich zurück. „Ich dachte nur, du würdest dir das hier gern ansehen.“
Madeleine legte eine Papierrolle auf den Tisch. Die Karte stammte aus den Dreißigerjahren, es war die erste Karte, die Maddy Dess je gezeigt hatte, damals, als es nur sie beide gab.
Aber jetzt war sie mit einer Schicht aus farbigen Schlangenlinien bedeckt, als ob ein Kind einen roten und einen blauen Stift mit dem Ouija-Board-Zeiger einfach hätte laufen lassen.
„Sie haben mit Melissa darauf herumgemalt“, stellte Dess verärgert fest. Nachdem sie jedoch eine Weile auf die Karte gestarrt hatte, begann sich ihr Gehirn mit den neuen Wirbeln und Schleifen zu beschäftigen. Die Markierungen der Gedankenleser schienen den normalen Kontorsionen der Midnight Substanz zu verleihen und der Karte eine neue Dimension hinzuzufügen. Als ob man sich die neuste Version eines bekannten Videospiels ansehen würde, mit den altbekannten Figuren, aber in einer höheren Auflösung.
„Du hattest recht“, sagte Maddy leise.
Dess konnte ihre Augen nicht von der Karte wenden.
„Womit?“
„Ich glaube nicht, dass uns die Lehre oder alte Erinnerungen viel weiter bringen. Wie du vermutet hast, lässt sich dieses Rätsel am besten von einem Universalgenie lösen.“
Dess schluckte. Hatte die alte Frau einen kurzen Blick in Dess’ Gehirn geworfen, als sie ihre Lederjacke berührt hatte?
„Mensch, Maddy, das hab ich doch gar nicht gesagt.“
Maddy grinste nur über den Spitznamen. „Manchmal, Dessy, weiß man, was jemand denkt, ohne Gedanken zu lesen.“
Dessy? Mann. Maddy hatte mit ihrer Rache nicht lange gewartet.
„Schönen Dank. Ich werde mir das näher ansehen, wenn ich Zeit dazu habe.“ Beispielsweise wenn Madeleine nicht in Sichtweite war.
Die alte Gedankenleserin lächelte. „Lass mich wissen, was du herausfindest, Desdemona.“
„He, mit Ihrem Fernseher stimmt was nicht!“, rief Jonathan. Er hatte sich über das riesige Gerät im Wohnzimmer gebeugt, ein holzverkleidetes Monster, das er in der vergangenen Stunde von einem Stapel Kamingitter mit neununddreißigstelligen Mustern befreit hatte.
Dess sah zu dem Apparat hinüber und grinste. Es freute sie, dass Maddy keinen Groll gegen Fernseher hegte. Kürzlich hatte Dess erfahren, dass Madeleine Fernseher – und Klimaanlagen natürlich – für die Zerstörung vor fünfzig Jahren verantwortlich machte. Irgendwas mit Eltern, die fernsahen, statt ihre Kinder im Auge zu behalten.
Madeleine warf einen amüsierten Blick auf den eigenartig gewölbten Bildschirm. Das Gerät erinnerte eher an ein Goldfischglas mit trübem Wasser als an einen Fernseher.
„Jonathan, du Dummkopf. Er funktioniert ausgezeichnet.“
Sie wandte sich ab und verließ das Zimmer, wobei sie über ihre Schulter hinzufügte: „Braucht bloß eine Weile, um warm zu laufen. Zu meiner Zeit hatten die jungen Leute mehr Geduld.“
Jonathan sah nicht überzeugt aus, obwohl tatsächlich etwas in den Tiefen des Fernsehers vor sich ging: Ein flackerndes Licht war in der Mitte des Bildschirms aufgetaucht und wurde allmählich größer, bis es die Scheibe mit einem verschwommenen Bild ausfüllte.
„Mann“, flüsterte er. „Schwarz-weiß.“
„Sieht eher nach grau in grau aus“, meinte Dess. Der Bildschirm war hauptsächlich verschneit. Man konnte den Typen vom Wetter vor seiner Karte kaum erkennen, hinter ihm kreiste die Doppler-Radarantenne und wirkte auf dem altertümlichen Gerät reichlich deplaziert.
Jonathan drehte an einem großen Knopf, es knackte, und auf dem Bildschirm erschienen Störungen. Während er vergeblich nach einem Kanal mit einem besseren oder überhaupt einem Bild suchte, sah Dess zu, wie die kleinen grauen Pünktchen tanzten. Sie erinnerte sich an eine verrückte Erklärung dieser kleinen Störpunkte: Angeblich handelte es sich um Überbleibsel des zufälligsten Ereignisses in der Natur …
Jonathan stieß einen Seufzer aus und knackte sich bis zu den Lokalnachrichten zurück.
Dess blendete die Stimme des Nachrichtensprechers aus und nahm den letzten Schluck von ihrem lauwarmen Tee, ein winziges Blättchen blieb zwischen ihren Zähnen hängen.
Plötzlich fielen ihr die Einzelheiten jener Erklärung wieder ein: Auf dem Discovery Channel (dem einzigen Kanal, den sie jemals einschaltete) hatten sie erzählt, der Schnee auf alten Fernsehern käme von der Restladung des Urknalls, der Explosion, aus der das Universum hervorgegangen war. Deshalb wären die Pünktchen absolut zufällig – das Ergebnis einer vollkommenen Explosion.
Nun ja, beinahe perfekt. Der Urknall hatte schließlich ein paar Billionen Materialbrocken hinterlassen, aus denen Galaxien und Gruppen von Galaxien wurden. Das Universum war irgendwie bröckelig, ähnlich wie … Teeblätter.
Oder die blaue Zeit.
Dess’ Augen fingen an zu leuchten. Sie sah auf die Karte hinunter, die Madeleine ihr gegeben hatte. Die neuen Linien darauf waren Spiralen und Feuerräder – wie Galaxien, die Überreste des Urknalls.
Vielleicht war die geheime Stunde aus einer Art Explosion hervorgegangen, oder zumindest etwas heftig und gewaltig Knallartigem, das zu einem ähnlichen Mix aus Chaos und Ordnung, Zufall und Gesetzmäßigkeit geführt hatte.
Dess’ sah in ihre Tasse. Kosmologie war wie Lesen in Teeblättern, die Zukunft vorhersagen, indem man den Bodensatz der Vergangenheit betrachtete. Teleskope jedoch, im Unterschied zu Teeblättern, funktionierten tatsächlich. Ausgehend vom Bodensatz des Urknalls ließ sich vorhersagen, was aus dem Universum wurde.
Vielleicht könnte sie sich diese alten Karten ansehen und daraus berechnen, wie die Zukunft der blauen Zeit aussah.
„Also gut“, sagte sie plötzlich. Mathematisches Glück flackerte in ihrem Gehirn auf, als ihr noch etwas aus derselben Sendung im Discovery Channel einfiel.
Das Universum war von Anfang an unbeständig. Seit dem Knall expandierte es weiter, sämtliche Teilchen bewegten sich kontinuierlich weiter vom Zentrum weg. Sie sah sich ihre alten Karten an – und wieder fiel ihr auf, wie die geheime Stunde ständig eine größere Fläche zu bedecken schien. Vielleicht lag das nicht nur daran, dass die alten Midnighter mehr erforscht hatten … vielleicht war die blaue Zeit tatsächlich größer geworden.
Dess schluckte, plötzlich fiel ihr noch etwas über das Universum ein. Eines Tages würde es enden, sagten die Forscher, indem es entweder wie Brei auseinanderfloss, in einem Big Whimper, oder wenn die Schwerkraft alles wieder zusammenzog, in einem Big Crunch.
Niemand wusste, in welche Richtung es ging, aber ganz sicher käme eines Tages ein großes Game Over.
„He, Dess, sieh dir das mal an.“
Jonathan riss Dess aus ihren Träumen und beförderte sie mit einem Schlag vom Ende des Universums in die muffigen Gerüche in Maddys Haus. Jonathan stand neben ihr und deutete auf den Fernseher. Eine verschwommene ältere Frau erzählte vom Verschwinden ihrer Enkelin.
Die Einstellung fuhr zurück zur Nachrichtensprecherin, die im Jammerton von einer Hotline bei der Polizei, der fortgesetzten Suche und Staatspolizisten mit Hunden berichtete.
Dess hörte kaum zu, nur ein Wort tauchte wiederholt in verschiedenen Variationen auf … verschwundenes Mädchen, seltsames Verschwinden, sie ist einfach verschwunden.
„Direkt vor den Augen ihrer Großmutter“, sagte Jonathan.
„Erst war sie da und dann plötzlich weg.“
„Mist“, sagte Dess. „Wann?“
„Heute Morgen“, flüsterte Jonathan. „Gegen 9 Uhr.“
„Wo?“
Er beugte sich über die Karte, die Maddy gerade heruntergebracht hatte, glitt mit der Hand über eine Gruppe von Wirbeln in der nordwestlichen Ecke. „Sie sagten, es wäre in der Nähe von Jenks passiert, auf den Eisenbahnschienen.“
Seine Finger fanden die schraffierte Linie der Eisenbahn, alt genug, um auf einer Karte aufzutauchen, die schon achtzig Jahre alt war. Zusammen mit dem winzigen Örtchen Jenks.
Dess schob seine Hand beiseite, setzte ihren Bleistift auf die Stelle und kritzelte Zahlen. Die neuen Linien von Maddy und Melissa waren zwar grob, ließen aber dennoch ihre eigene Logik erkennen, folgten ihren eigenen Mustern und Regeln.
Irgendwie ähnelte das schon einer Sternenkarte, scheinbar zufällige Lichtpunkte, aus denen sich in ihrer Gesamtheit ein großes Bild ergab – solange man richtig rechnete.
Die Wirbel und Feuerräder schienen von dem Papier zu Dess aufzusteigen und wie Hamster sämtliche Rädchen in ihrem Gehirn mit Vollgas in Bewegung zu setzen. Ihr wurde schwindelig, ihre Finger zitterten, während sie ihre intuitiven Sprünge zu dokumentieren versuchten.
Dann endlich stellten sie sich scharf …
Nach endlosen fünf Minuten lehnte sie sich erschöpft zurück und deutete auf eine Stelle. „Da ist sie gerissen.“
„Da ist was gerissen?“
„Die blaue Zeit. Sie fängt an zu brechen, Jonathan, möglicherweise sogar komplett zusammenzubrechen. Aber einige Koordinaten gehen schneller als andere. Und wenn jemand an der falschen Stelle steht, wenn es passiert … “
Jonathan setzte sich neben sie und starrte auf die Karte mit ihrem Gewirr aus Zahlengekritzel und Gedankenleserlinien.
„Und was ist jetzt mit dem Mädchen passiert?“
„ Midnight ist ihr passiert, Jonathan. Die hat sich geöffnet und sie verschluckt.“
„Und wo ist sie jetzt?“
„Eigentlich hätte sie rauskommen müssen, als die Zeit wieder anfing, als die Sonne sie berührte. Wenn sie nicht irgendwohin verschleppt wurde.“
„Melissa sagte, die Darklinge waren dahin unterwegs.“
Dess blinzelte. „Sie hatten nicht mehr als einundzwanzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden.“
„Es kann also sein, dass ihr nichts passiert ist?“
„Ja, kann sein. Es sei denn … “
Teile in Dess’ Gehirn wollten Jonathan die ganze Sache erklären: den Schnee im Fernseher, den Urknall und die Formen von Galaxien und Teeblättern. Und woher man wissen konnte, was in der Zukunft passieren wird, wenn man sich den Bodensatz der Vergangenheit ansah. Vielleicht hatten die Darklinge tatsächlich genau vorhergesehen, was passieren würde, wo genau ihre junge Beute durch die Risse in der Zeit fallen würde. Sie könnten sie an einen dunklen Ort gelockt haben …
Ihr blieb keine Zeit, ein Wort zu sagen, weil sich eine andere Bildfolge in ihr Gehirn drängte – ebenfalls direkt vom Discovery Channel. Dess sank zitternd in ihrem Stuhl zurück.
Sie dachte nicht mehr an den Urknall.
Sie dachte an die Nahrungskette.