massenfütterung

12.07 Uhr mittags

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„Fassen wir zusammen“, sagte Dess. „Es gibt ein paar gute und ein paar schlechte Nachrichten.“

Die anderen sahen sie müde an. Die unheimlichen Ereignisse der letzten dreiundfünfzig Stunden hatten sie bereits traumatisiert. Dess war froh, dass sie gewartet hatte, bis sie alle fünf beieinandersaßen. Das hier zweimal zu erklären wäre zwecklos gewesen.

Dess fand es seltsamerweise tröstlich, hier an dem alten Tisch in der Ecke zu sitzen, von den Fenstern so weit weg wie möglich, wo sie mit Rex und dem Scheusal immer zusammengegessen hatte, bis Melissa offenbart hatte, wie bösartig sie tatsächlich werden konnte. In der Mensa rumorte das übliche Chaos vor sich hin, Daylighter drängelten um die besten Sitzplätze, ohne zu ahnen, dass echte Probleme im Anzug waren.

Wie immer ergriff Rex als Erster das Wort. „Okay. Die schlechten Nachrichten zuerst.“

Dess schüttelte den Kopf. „Entschuldige, Rex. Hier haben wir eine von den Gelegenheiten, wo die guten Nachrichten Vorrang haben. Sonst gibt es keine Pointe.“

„Komm schon, Dess“, sagte Jessica. „Das hier ist ernst.

Meinst du nicht, dass es ernst ist?“

„Gute Frage.“ Dess senkte den Blick auf ihren Stapel mit äußerst groben Kalkulationen. Genau genommen hatten sie all ihre Informationen von Constanza Grayfoot, was die Sache an sich schon suspekt machte. Ihr bevorstehender Status als TV-Star hatte sich eher nach einem feuchten Cheerleadertraum als nach einer Endzeitprophezeiung angehört. Dess fragte sich häufiger, wie es jener Familie, die ein Jahrtausende währendes Midnighterregime beendet hatte, gelingen konnte, ausgerechnet jemanden wie Constanza hervorzubringen.

Als die Enthüllungen des Mädchens in der Bibliothek immer seltsamer geworden waren, hatte Dess jedoch aufgehört, sich zu wundern, und mit ihren Berechnungen angefangen.

Die Zahlen waren ernst.

Alle vier sahen sie erwartungsvoll an, aber sie wartete einfach.

Es hatte seine Vorteile, wenn man die Einzige war, die rechnen konnte. Andere Leute mussten sich an ihre Regeln halten.

Schließlich seufzte Jessica. „In Ordnung, Dess. Was sind also die guten Nachrichten?“

Dess erlaubte sich ein Siegeslächeln. „Also, es sieht nicht so aus, als ob die ganze Welt aufhören würde.“

Darauf gab es eine Reaktion. Rex hob beide Augenbrauen, und Jonathan hörte tatsächlich für ganze fünf Sekunden auf zu kauen. Jessica war sowieso schon am Ausflippen und legte einen Zacken zu. Und Melissa … nun ja, die Hurengöttin sah so aus, wie sie in der Kantine immer aussah: leicht gestresst von dem Gedankenlärm, auch wenn sie sich seit Neustem angeblich unter Kontrolle hatte.

„Die Berechnungen sind natürlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht hundertprozentig zuverlässig“, gab Dess zu.

„Dann weiter“, sagte Rex. „Wie sehen die schlechten Nachrichten aus?“

„Die schlechte Nachricht ist, dass der Bezirk Bixby, der ganze Bereich der blauen Zeit, so wie wir ihn kennen, dazu definitiv ein dicker Brocken von Broken Arrow und wahrscheinlich Tulsa und möglicherweise die obere Hälfte von Oklahoma City – ach, was soll’s, werfen wir einfach alles zwischen Witchita und Dallas und Little Rock dazu – ziemlich wahrscheinlich von der blauen Zeit verschluckt wird. Etwa in drei Wochen.“

Dess holte tief Luft und fühlte sich erleichtert, weil sie diese Verkündigung hinter sich hatte. Sie kam sich wie ein Astrologe vor, der als Erster einen Asteroiden in Dinosauriervernichtungsgröße entdeckt, der auf die Erde zurast. Klar, diese Neuigkeiten waren für alle äußerst unangenehm, auch für Dess, aber sie hatte sie schließlich verkünden müssen. Ihre Berechnungen gaben Dess stets ein Gefühl von Kontrolle. Letzten Endes war es besser, wenn man zu den Astrologen auf dem Weg in die Berge gehörte als zu den Dinosauriern.

„Und das hast du gerade eben“, sagte Rex bedächtig, „in der Bibliothek herausgefunden?“

„In der Bibliothek kann man wunderbare neue Sachen erfahren, Rex.“

„Es war Constanza“, sagte Jessica.

„Das hast du von der Cheerleader-Tussi?“, meinte Rex verächtlich. „Na, dann fühle ich mich gleich viel besser.“

Jessica warf ihm einen bösen Blick zu. „Hier geht es nicht um Constanza. Ihr Großvater – und der ist definitiv kein Cheerleader – weiß etwas. Er evakuiert seine ganze Familie.“

„Evakuierung?“, fragte Rex. „Die wohnen doch gar nicht in Bixby.“

„Das ist der Punkt, Rex.“ Dess breitete die Arme aus.

„Weißt du noch, was ich über die blaue Zeit gesagt habe, die sich ausdehnen könnte? So wie es aussieht, ist Broken Arrow nicht mehr weit genug weg von den Darklingen. Deshalb machen sich die Grayfoots aus dem Staub, rennen weg, ab in die Berge. Kapiert?“

Rex hielt kurz inne, dann sagte er: „Das hört sich … interessant an.“

„Und wohin verdrückt sich der alte Kerl?“, fuhr Dess fort.

„Nach Tulsa? Falsch. Oklahoma City? Tut mir leid, zu nah.

Wie wäre es mit Houston, dem Paradies der Ölbarone? Fast fünfhundert Meilen weiter und offensichtlich immer noch nicht weit genug. Denn er bringt seine ganze weitreichende Familie inklusive seiner lästigen Enkelin bis runter nach Kali-fornien.

„Genau“, fügte Jessica hinzu. „Und in L.A. ist in Sachen Öl nicht viel los.“

Dess lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und wartete, bis bei ihren kleinen Hirnis der Groschen fiel. Sie bedauerte, dass sie keine Karte hatte, die sie ihnen zeigen konnte.

Wenn Astrologen im Film zeigen mussten, wie die Welt vernichtet wurde, dann hatten sie immer solche schicken Computeranimationen dabei, um die Katastrophe zum Leben zu erwecken. Oder wenigstens eine Tafel.

„Aber woher weiß der überhaupt was?“, fragte Flyboy, dessen Kiefer noch immer mit einem Erdnussbutterbrot beschäftigt war. „Anathea ist tot. Es gibt keinen anderen Halbling, der für sie übersetzen könnte. Insofern sind die Grayfoots von den Darklingen abgeschnitten, oder?“

„Stimmt genau“, sagte Rex. „Und wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb Opa ausflippt. Nachdem die Darklinge nicht mehr auf seine Nachrichten antworten, glaubt er vielleicht an die Worte, die wir ihm hinterlassen haben: IHR SEID DIE

NÄCHSTEN.“

Jessica sah Dess irritiert an. Offensichtlich hatte sie das nicht berücksichtigt.

Hatte Dess aber. „Ich gebe zu, dass er vor den Darklingen Angst hat, Rex. Dafür hast du gesorgt. Er ist aber nicht nur nervös; er arbeitet nach Plan.“

„Nach Plan?“ Rex beugte sich vor. „Wie meinst du das?“

„Na dann: Geschichtsstunde.“ Sie beugte sich vor und wandte sich direkt an Rex. „Opa Grayfoot hat Constanzas Eltern aus dem Clan ausgeschlossen, als sie nach Bixby gezogen sind, korrekt?“

„Weil er über Gedankenleser Bescheid wusste“, sagte Melissa. „Er wollte niemanden aus dem Familienunternehmen hier haben, wo wir ihre Gedanken rippen können.“

Ein Schauder lief Dess über den Rücken. „Nette Wortwahl, Melissa. Aber im Ansatz richtig. Insofern ist es ihm vielleicht egal, was mit ihren Eltern passiert, weil sie gegen die Nicht-Bixby-Regel verstoßen haben.“

„Aber Constanza ist immer noch seine Lieblingsenkelin“, sagte Jessica.

„Unerklärlicherweise“, murmelte Dess.

„Sie ist wirklich nett“, verteidigte sie Jessica. „Und es stimmt, er mag sie wirklich. Er kauft ihr tonnenweise Klamotten.“

Melissa nickte. „Wir haben die Schränke gesehen.“

„Wie schön für euch“, sagte Dess. „Die vollen Schränke sind aber nichts im Vergleich mit dem, womit er sie jetzt besticht.

Er lädt sie ein, bei ihm in Los Angeles zu wohnen, und verspricht ihr, einen TV-Star aus ihr zu machen. Die Sache hat nur zwei Haken. Eins: Sie darf ihren Eltern nichts davon erzählen.“

Jessica zog ein schuldbewusstes Gesicht. „Eigentlich sollte sie gar niemandem davon erzählen.“

„Genau.“ Dess kicherte. „Superidee, Constanza aufzutragen, dass sie etwas für sich behalten soll. Es wäre schlauer gewesen, einfach mit einem Van vorbeizufahren und sie einzupacken. Bei Rex hat es schließlich auch funktioniert.“

„Ich hab’s doch gesagt, er glaubt, dass die Darklinge hinter seiner Familie her sind“, sagte Rex. „Das beweist aber nicht, dass die Welt untergeht.“

Dess schüttelte ihren Kopf. „Nein, tut es nicht. Womit wir zu Haken Nummer zwei kommen: Constanza muss ihren Hintern vor Ende des Monats nach Hollywood bewegen oder, ich zitiere: ,Die ganze Sache ist geplatzt.‘ Und Opa zieht mit dem restlichen Clan in zwei Wochen dahin – von Broken Arrow, Rex, wo die Darklinge nicht hinkommen. Jedenfalls noch nicht.“

Sie ließ den Gedanken einen Moment lang wirken. Der Lärm in der Kantine um sie herum schien lauter zu werden, wie das Donnern eines aufziehenden Gewitters.

„Aber woher könnte er wissen, dass sich die blaue Zeit ausbreitet?“, fragte Rex. „Es gibt keinen Halbling, der mit ihm reden könnte.“

„Vielleicht wusste er es schon“, warf Melissa plötzlich ein.

Sie kniff die Augen zusammen und kaute auf ihrer Unterlippe.

„Die ältesten Darklinge wussten Bescheid.“

Rex schüttelte den Kopf. Das überzeugte ihn nicht. Dess wurde klar, wo das Problem lag: Er weigerte sich zu glauben, dass die Grayfoots mehr wussten als er.

Jessica meldete sich zu Wort. „Das ist so traurig. Constanza glaubt, dass sie zu einem Casting geht und einen Agenten kriegt und Schauspielstunden und all so was. Dabei lässt sie ihre Eltern für immer zurück.“

„Sie gehört zu den Glücklichen“, sagte Dess. „Wenigstens wird sie vor dem 31. Oktober die Stadt verlassen haben.“

„He“, sagte Flyboy. „Da ist Halloween!“

„Stimmt, ja.“ Dess zog eine Augenbraue hoch. „Da hatte ich gar nicht dran gedacht. Ist irgendwie … interessant, sagt aber nichts in Zahlen.“ Nachdenklich sah sie Rex an. „Gibt’s was über Halloween in der Lehre?“

„Natürlich nicht.“ Er hob die Schultern. „Halloween gibt’s in Oklahoma erst seit ungefähr hundert Jahren.“

Dess nickte. „Schön. Schluss mit Geschichte. Wenden wir uns der Mathematik zu: Wenn man die nackten Zahlen betrachtet, macht der 31. Oktober erst mal nicht viel her. Die Summe ist einundvierzig, multipliziert kommt dreihundertzehn raus. Da stecken keine relevanten Zahlen drin. In früheren Zeiten war Oktober aber nicht der zehnte, sondern der achte Monat. Oktober, wie ein Oktagon, mit acht Seiten, versteht ihr?“ Sie sahen sie alle mit leeren Gesichtern an, und Dess unterdrückte ein Stöhnen. Beim nächsten Mal würde sie ganz sicher visuelle Hilfen einsetzen. „Kommt schon, Leute.

Der achte Monat? Der einunddreißigste Tag? Und acht plus einunddreißig ist …?“

„Neununddreißig?“, sagte Jessica.

„Das Mädel kriegt den Preis.“

„Moment mal, Dess“, sagte Flyboy. „Ich dachte, neununddreißig wäre die totale Anti darklingzahl. Wie all die Namen mit den neununddreißig Buchstaben.“

„Schwärmerisch Mathematische Zahlenkolonne“, erklärte Dess. „Ein unbedingter Klassiker. Und stimmt, die Zahl neununddreißig ist absolut darklingfeindlich. Das wahre Problem ist der Tag danach.“

„Ist da nicht Allerheiligen?“, fragte Jonathan.

Dess schnaubte wütend. Hier ging es nicht um Geister oder Heilige, hier ging es um Zahlen. „Weiß nicht. Ist auch egal.“

Melissa legte ihre Finger an die Schläfen. „Wartet mal, Leute.“

Dess ignorierte sie. „Aber der erste November, das ist in der heutigen Zeit der erste Tag … “

„Leute!“, rief Melissa.

Sie schwiegen alle für einen Moment, und Dess kam es so vor, als ob das Stimmengewirr in der Cafeteria für kurze Zeit leiser wurde, als ob ein kühler Luftzug durch den Raum streichen würde. In ihren Fingerspitzen kribbelte es, und ein Nervenkitzel bahnte sich seinen Weg bis in ihre Magengrube.

„Da kommt was“, flüsterte Melissa.

Als die Worte der Gedankenleserin über die Lippen kamen, ging ein Beben durch den Raum, das Ruckeln der Erde, die auf ihrer Bahn anhielt. Ganz plötzlich wurde das Gebrüll in der Cafeteria aufgesogen und ließ die fünf inmitten von fast zweihundert Erstarrten zurück, mit blauen und kalten und wächsernen Gesichtern, ertappt, während sie mit Essen um sich warfen, in den Nasen pulten und mit offenen Mündern kauten.

„Wie spät ist es, Rex?“ Dess hörte ihre eigene Stimme, die sich in der plötzlichen, unheimlichen Stille klein anhörte.

Rex sah auf seine Uhr. „Zwölf Uhr einundzwanzig und fünfzehn Sekunden.“

Dess schrieb die Zahl auf und starrte sie an, während sie sich fragte, wie lange es diesmal dauern würde.

Jonathan hüpfte schwerelos von seinem Stuhl. „Cool, noch so eine.“

„Was sollen wir tun?“, fragte Jessica leise.

„Wir bleiben einfach hier sitzen“, sagte Rex. „Wir warten es ab. Und komm runter, Jonathan!“

„Warum?“, antwortete Jonathan. „Von hier kann ich fallen, ohne Probleme.“

„Überall sind Leute, Jonathan. Wenn du irgendwo hinfliegst und die blaue Zeit aufhört, dann sehen sie dich verschwinden.“

„Komm schon, Jonathan.“ Jessica streckte einen Arm aus und ergriff seine Hand. „Wenn die Welt aufhört, bleibt reichlich Zeit zum Fliegen.“

„Also gut, wie ihr wollt.“ Jonathan seufzte und sank auf seinen Stuhl zurück, wie ein Ballon, der Luft verliert.

Eine Weile sagte niemand etwas. Dess’ Augen starrten wie gebannt auf Rex’ Tablett, auf dem das Essen während der Diskussion ohnehin schon dem Erstarrungsprozess ausgesetzt worden war. Mit der wächsernen Oberfläche der blauen Zeit sah es noch unappetitlicher aus, vor allem der blau leuchtende Pudding, der nicht mehr wackelte.

Melissa hielt den Kopf zurückgelegt und schmeckte nach Herzenslust in der Luft, und diesmal war Dess froh über die Anwesenheit der Gedankenleserin. Wenigstens würden sie wissen, wenn eine Darklingtruppe unterwegs war.

Natürlich war das nicht der Weltuntergang, noch nicht. Das sah man auf den ersten Blick. Wenn die geheime Stunde ganz zugeschnappt wäre, dann würden sich all die Erstarrten noch bewegen, da sie mit allem anderen im Umkreis von hundert Meilen in die blaue Zeit hineingesogen worden wären.

Dess brauchte keine Berechnungen, um zu wissen, was dabei herauskommen würde. All die Räuber würden plötzlich aus ihren mitternächtlichen Kerkern entkommen, auf ihre Beute losgelassen – Millionen von Leuten, wenn sich die blaue Zeit tatsächlich über dem ganzen Land ausbreiten würde. Keine Telefone, keine Autos, nicht einmal Feuer, und nur die fünf Midnighter wüssten, wie sie sich verteidigen konnten.

Dess betrachtete eine Pommeskonstellation, die über einer reglosen Essensschlacht am anderen Ende des Raumes schwebte. Sie fragte sich, ob das wirklich stimmte, was sie Jessica gestern erklärt hatte: Konnte man es bis zur Grenze der blauen Zeit schaffen und am Rand erstarren, bis die lange Mitternacht vorbei war?

Nicht allzu viele Leute würden es so weit schaffen. Nicht bei all den hungrigen Darklingen, die aus der Wüste in die Städte strömen würden. Und wenn die blaue Zeit nie zu Ende ging?

Wenn draußen alle ständig erstarrt und drinnen alle Viehfutter wurden – der größte Teil der Menschheit mit einem Whimper und Rest mit einem Bang ausgerottet wurden?

„Und, Dess?“, fragte Jess, die endlich das Schweigen brach.

Sie riss sich vom Anblick der schwebenden Pommes los.

„Was?“

„In der Bibliothek, was hast du da auf deine Blätter gekritzelt? Du hast gesagt, Halloween wäre sicher. Was ist an dem nächsten Tag falsch?“

„Ach ja.“ Dess senkte den Blick auf die Papiere, die vor ihr lagen und von der Finsternis blau gefärbt worden waren. „Also, verrückt ist, was um Mitternacht an Halloween passiert, wenn man vom alten System zum Neuen wechselt. Der 31.

Oktober war in den alten Zeiten, als der Oktober noch der achte Monat war, ein Antidarklingfest. Jetzt ist November aber der elfte Monat, stimmt’s?“ Dess breitete die Arme aus.

„Mann, ihr seid wirklich hoffnungslos. Es ist also der erste November. Und elf plus eins gibt zwölf. Wie Mitternacht. Wie bei den Darklingen.“

Wieder schwiegen sie alle.

Endlich fragte Jonathan: „Wie lang ist das noch von jetzt an?“

„Dreiundzwanzig Tage, elf Stunden und neununddreißig Minuten“, sagte Dess. „Minus fünfzehn Sekunden.“

„Drei Wochen.“ Jessica sah Rex an. „Und was sollen wir tun?“

Dess sah erfreut, wie er sich über die Augenbraue strich und wenigstens so tat, als ob er einen Plan hätte. Rex’ Hirn mochte völlig durcheinander sein, vielleicht sorgte der bevorstehende Weltuntergang aber für etwas mehr Festigkeit.

„Ich bin noch nicht ganz überzeugt, Dess“, sagte er nach einer Weile. „Ich glaube aber, wir müssen mehr darüber erfahren, was die Grayfoots vorhaben.“

„Wie sollen wir das anstellen?“, fragte Jonathan. „Einfach nach Broken Arrow fahren und sie fragen?“

Er lächelte. „Vielleicht sollten wir sie lieber nach Bixby schaffen.“

Alle starrten ihn an, aber Rex zuckte mit keiner Wimper.

Dess lehnte sich zurück und fragte sich, was Rex ausbrütete.

Beim letzten Mal, als Opa Grayfoot ein Trupp Midnighter in die Quere gekommen war, hatte er dafür gesorgt, dass einhundert prominente Bürger der Stadt über Nacht verschwanden. Vor knapp zwei Wochen hatten die Grayfoots Rex aus seinem Haus gekidnappt und dann in der Wüste liegen gelassen, damit ihm seine Menschlichkeit genommen werden konnte.

Aus irgendeinem Grunde hatte er aber keine Angst vor ihnen. Obwohl Dess keine Gedankenleserin war, konnte sie das sehen. Was war bloß mit ihm los?

Irgendwie komisch, aber seit die Hurengöttin angefangen hatte, sich zusammenzureißen, war Rex im gleichen Zug durchgedreht. Es kam einem so vor, als ob sie alle ihre Portion geistige Gesundheit ausgeschöpft hätten.

„Rex, mal im Ernst“, sagte Jessica leise.

„Ich meine es ernst.“ Er griff in seine Jacke und schleuderte ein Blatt Papier auf den Tisch. Es war mit Zeichen der Lehre bekritzelt. „Diese Nachricht ist von Angie.“

„Von der Irren, die dich gekidnappt hat?“, fragte Jonathan.

„Genau die meine ich.“

„Nee, Rex.“ Dess schüttelte den Kopf. „Warum hast du uns das nicht gleich gesagt?“

„Tut mir leid. Es ist erst gestern Morgen aufgetaucht, und ich war mir nicht sicher, was ich damit anstellen sollte – bis jetzt.“

„Vielleicht verbrennen?“, schlug Dess vor.

Rex ignorierte sie. „Aus Angies Bericht geht hervor, dass die Grayfoots ihre Reihen schließen und Außenseiter wie sie im Regen stehen lassen. Sie ist genauso aufgescheucht wie wir.“

Seine Finger trommelten auf die Tischplatte. „Was bedeutet, dass Dess recht haben könnte.“

„Mit dem Verbrennen?“, fragte Dess.

„Nein, damit, was in drei Wochen passieren wird, und dass die Grayfoots mehr darüber wissen als wir. Deshalb sollte ich mich mit ihr treffen.“

Jonathan starrte entsetzt auf den Zettel, als ob eine Klapperschlange auf die Tischplatte geklatscht wäre. „Bist du bescheuert, Rex? Du willst ihr wirklich vertrauen?“

„Ich traue ihr überhaupt nicht. Ich habe aber über dieses Schreiben nachgedacht und einen Weg gefunden, wie wir Angie nach Bixby schaffen können, ob sie nun will oder nicht.

Wir müssen allerdings alle zusammenarbeiten.“ Er blickte von einem zum anderen und hatte sein allwissendes Sehergesicht aufgesetzt.

Dess seufzte und fragte sich, ob noch irgendjemandem aufgefallen war, dass die Dinge immer total aus dem Ruder liefen, wenn sie alle fünf irgendwas gemeinsam machten.

„Aufgepasst, Leute!“, sagte Melissa plötzlich. „Es hört auf.“

Rex schnappte sich den bekritzelten Zettel vom Tisch. „Haltet euch bereit.“

Jonathan zog sich energisch nach unten auf seinen Stuhl.

Melissa legte ihre Finger wieder an die Schläfen, so wie in dem Moment, als die Finsternis angefangen hatte. Dess versuchte sich zu erinnern, was sie getan hatte – vermutlich hatte sie Melissa angesehen und sich gefragt, warum die bloß so herumschrie.

Sie wandte sich der Gedankenleserin zu und bedachte sie mit einem entsprechend verächtlichen Blick.

Wenige Sekunden später ruckelte die Erde noch einmal.

Das kalte, blaue Licht wich aus der Cafeteria, die um sie herum zu einer Masse aus Bewegung, Geräusch und Sonnenlicht explodierte. Die siebzehn Pommes segelten auf ihren diversen Flugbahnen, zweihundert Münder kauten weiter, und Rex’

Pudding fing wieder an zu wackeln.

Dess zog Rex am Arm und sah auf seine Uhr, die sie mit der Zeit auf ihrem GPS-Empfänger verglich. Diese Finsternis war kürzer gewesen als die letzte, sie hatte nur sieben Minuten und zwölf Sekunden gedauert. Sie war aber dem gleichen Muster gefolgt: drei mal 144 Sekunden.

Nachdem sie vorbei war, erlaubte sich Dess einen tiefen Seufzer. Auch wenn sie sich noch so sicher war, dass das große Ereignis in drei Wochen stattfinden würde, war sie erleichtert, dass es nicht das Ende gewesen war.

Diesmal jedenfalls nicht.