miss vertrauen
7.15 Uhr morgens
9
Am nächsten Morgen an der Küchentür atmete Jessica erleichtert auf. Ein paar Minuten war sie noch sicher – solange Beth schlief.
„Morgen, Jess. Toast?“
Jessica suchte im Gesicht ihrer Mutter nach Spuren potenziellen Hausarrests, konnte aber nur Müdigkeit und die üblichen Linien von Überarbeitung entdecken. Offensichtlich hatte Beth gestern Nacht keinen Alarm geschlagen.
„Gerne, Mom. Danke.“ Jessica setzte sich an den Tisch.
Vielleicht hatte Jonathan recht, und man kam mit Beth am besten klar, wenn man bluffte.
Irgendwie fürchtete Jessica aber dennoch, dass es nicht so einfach sein würde.
Ihre Mutter schob zwei Scheiben Brot in den Toaster und drehte sich dann zur Kaffeemaschine um, die auf der Arbeitsplatte fröhlich blubberte. „Hast du heute Abend was vor?“
„Äh, nö.“ Jessica runzelte die Stirn. „Warte mal, war die Frage ein raffinierter Hinweis darauf, dass ich keinen Hausarrest mehr habe?“
„Eigentlich nicht besonders raffiniert“, sagte ihre Mutter.
„Vor dem Kaffee bin ich nie raffiniert.“ Sie goss Milch in einen leeren Becher, den Blick starr auf die braune Flüssigkeit fixiert, die jetzt in die Kanne tropfte.
„Du bist allerdings hundert Mal raffinierter als Dad. Gestern Nachmittag sagte er zu mir, dass er ein Auge auf mich haben würde.“
„Das tut er auch.“ Mom sah Jessica an. „Aber ich wollte dir gerade sagen, dass ich dir vertraue. Wie findest du das für eine gute Mutter?“
„Großartig. Aber warst du bis jetzt nicht immer der böse Bulle?“
„Doch, kann schon sein.“ Ihre Mutter fixierte die Kaffeekanne mit äußerster Konzentration. „Ist aber zu anstrengend.
Wenigstens zieht dein Vater irgendwo die Zügel an.“
„Ich danke dir jedenfalls. Ich werde dich nicht hängenlassen.“ Die Worte tauchten ganz automatisch auf, aber Jessica spürte dabei ein leichtes Schuldgefühl auf ihrer Zunge, als sie ihr über die Lippen kamen. Sie hatte erst letzte Nacht eine weitere Grenze überschritten. Es war eine Sache, sich in der geheimen Stunde hinauszuschleichen, was kaum als Übertretung der Sperrstunde gelten konnte; wenn alle Uhren stillstanden, wurde Zeit zur unbedeutenden Größe. Außerdem galt es, Darklinge zu meucheln und verschwundene Kinder zu retten.
Gestern Nacht war sie aber erst um zwei Uhr nach Hause gekommen und hatte sich ein gutes Stück der nächtlichen Schulalltags-Echtzeit einverleibt. Schlafkrusten verklebten ihr noch die Augen, und unter der Dusche war eine volle Minute lang roter Oklahomastaub in den Abfluss geflossen.
Nicht dass es ihr leidtäte. Ihr Ausflug zum reglosen Fluss war jede Sekunde fehlenden Schlaf wert gewesen. Genau wie die Luft während der blauen Zeit war auch das Wasser warm wie ein Sommertag gewesen. Jonathan meinte, man könnte mitten im Winter schwimmen gehen. Wenn die Strömung anhielt, war der Fluss wie ein riesiger, beheizter Swimmingpool. Das Wasser schien den Schmerz vom Gleiterbiss an ihrer Hand fortzuspülen und die Spannung zwischen Jonathan und ihr ebenfalls.
„So ist sie, unsere Jessica: Man kann sich auf sie verlassen“, sagte Beth an der Küchentür.
Jess fragte sich, wie lange sie schon da gestanden hatte. Vielleicht hatte sie gewartet, bis sie Jessica aufstehen hörte, und war ihr dann über den Flur gefolgt.
Nicht besonders lustig, der Spion im eigenen Haus.
Jessica räusperte sich. „So bin ich.“
Beth trat ein und ließ sich mit einem süßlichen Lächeln auf einen Stuhl fallen. „Ertappt?“, fragte sie. „Miss Vertrauen?“
Genau in dem Moment sprang Jessicas Toast aus dem Toaster, und das Gurgeln der Kaffeemaschine endete mit einem letzten Seufzer.
„Ich hab ihn schon, Mom.“ Jessica sprang auf und zog Messer und Gabel aus der Schublade, die sie wie Essstäbchen schwang, um den Toast herauszunehmen.
„Steckst du welchen für mich rein?“, fragte Beth.
Jessica beobachtete ihre Mutter, wie sie Beth mit verschlafenen Augen verwirrt anschaute, mit der Kaffeekanne in der einen Hand und dem Becher in der anderen. Die Kaffeemaschine ließ ein paar letzte Tropfen auf die Warmhalteplatte fallen, die wie verärgerte Gleiter fauchten, als sie verdampften.
„Benimm dich, Beth“, sagte Mom schließlich. „Sag ,bitte‘.“
„Ich benehme mich ausgezeichnet. Stimmt’s nicht, Jessica?“
„Erstaunlich gut.“ Jessica drückte den Hebel am Toaster herunter und starrte in sein Doppelmaul, wo die Brennstäbe anfingen, rot zu leuchten. „Beispielsweise hängst du nie da herum, wo dich keiner haben will.“
„Genau, und immer zur rechten Zeit. So bin ich.“
„Wovon redet ihr beiden eigentlich?“, fragte ihre Mutter.
Jessica warf ihrer Schwester einen bösen Blick zu. Sollte sie ruhig weiterplappern und vor ihrer Mutter alles ausposaunen: Dass sie sich gestern Nacht hinausgeschlichen hatte, mit Jonathan, alles, was sie wollte. Jessica dachte mit Freuden daran, dass Beth noch so viel spionieren konnte, sie würde nicht einmal die Hälfte von dem erfahren, was wirklich los war.
Und außerdem, was machte es für einen Unterschied, wenn sie Ärger bekam? Gestern hatte Jessica erfahren, dass alles, was sie kannte, jederzeit verschwinden konnte – in einer Woche vielleicht, oder gleich heute Morgen – ihre ganze Realität von den Darklingen verschluckt. Ganz sicher würde sie sich bis dahin nicht von einem kleinen Keks wie Beth herumschubsen lassen.
Außerdem konnte ihr Freund fliegen. Hausarrest war insofern nur ein relativer Zustand.
Sie starrte Beth an und dachte: Na los doch.
„Nichts“, sagte Beth schließlich. „Wir machen bloß Spaß.
Keine große Sache.“
Ihre Mutter zog eine Augenbraue hoch, aber dann seufzte sie nur und sah auf ihre Uhr. „Okay, wie ihr wollt. Ich bin spät dran. Macht euch einen schönen Tag, ihr beiden.“ Sie sah Jessica an und hielt ihr Handy hoch. „Ruf mich und Dad an, wenn du nach der Schule irgendwas vorhast, okay?“
„Klar, alle beide. Kein Problem.“
Beths Toast sprang hoch, und Jessica trug ihn zum Teller ihrer kleinen Schwester. „Bitte sehr.“
„Ich danke dir, Jess. Siehst du, Mom? Perfektes Benehmen.“
„Das ist schön, Beth. Tschüss, ihr beiden.“
Die Schwestern verabschiedeten sich, dann warteten sie schweigend, als ihre Mutter ihre schwere Tasche über ihre Schulter hievte und mit verhallenden Schritten den Flur hinunterging. Die Eingangstür wurde geöffnet und geschlossen.
Jessica wandte sich an ihre Schwester, die nachdenklich auf ihrem Toast herumkaute. „Ich muss mich wohl bei dir bedanken.“
„Wofür?“
Jessica schluckte. „Dass du Mom nicht … alles verraten hast.“
Beth zuckte mit den Schultern.
„Wie ich dir gesagt habe, Jess, will ich nicht, dass du Ärger bekommst. Ich will nur wissen, was hier in Bixby abgeht.“ Sie schenkte ihrer älteren Schwester ein süßes Lächeln. „Und das werde ich auch … so oder so.“