kein sprit mehr
11.34 Uhr nachts
15
Als sie die Bezirksgrenze überfuhren, sah Rex gebannt auf die Straße vor sich. „Geben sie auf?“
Angie drehte sich zum Heckfenster um, dann fluchte sie ausgiebig. „Nein, hängen immer noch dran. Und wenn sie sich um diese Zeit nach Bixby trauen, weil sie uns schnappen wollen, dann haben sie echt schlechte Laune.“
Rex packte das Lenkrad fester und bemühte sich, nicht aus Frust loszuschreien. Bei all seiner ausgeklügelten Planerei war er nie auf die Idee gekommen, dass die echten Grayfoots auftauchen können. „Woher wussten sie, dass wir uns hier treffen würden?“
„Mir ist niemand gefolgt, Rex, da bin ich sicher.“
„Was ist mit deinem Telefon?“
„Das konnten sie nicht abhören. Die Nummer, die ich dir gegeben habe, gehört zu einer Prepaid-Karte, die ich letzte Woche im Einkaufszentrum in Tulsa gekauft habe. Hab ich vor deinem Anruf nicht benutzt, also konnten sie nicht … “
Ihre Stimme wurde kalt. „Du hast mich doch nicht von zu Hause aus angerufen, oder?“
Rex antwortete ein paar kritische Sekunden lang nicht, doch zum Lügen war es zu spät.
„Hätte ich das nicht tun sollen?“, stieß er schließlich hervor.
Sie gab ein Stöhnen von sich.
„Willst du damit sagen, dass mein Telefon abgehört wird?“, jammerte er.
„Nicht länger als zwei Jahre. Schwachkopf.“
Rex fuhr weiter und wartete auf das brennende Messer zwischen seinen Rippen, hörte aber nur, wie Angie vor sich hin murmelte. „Ich glaub es nicht. Vielleicht seid ihr wirklich nur eine Handvoll Kids.“
Die Verfolger kamen näher, das Licht ihrer Scheinwerfer durchflutete den alten Ford. Sie nahmen ihn jetzt von rechts und links in ihre Mitte, wie Wölfe, die ein verletztes Opfer von der Herde wegleiteten, an eine nette, intime Stelle, um es zu töten. Auf ein verlassenes Stück Straße wie dieses hatten sie vermutlich genau gewartet. Rex’ Plan hatte sie zu der besten Stelle geführt.
Angie zog ein Telefon heraus. „Das langt. Ich rufe die Polizei.“
„Das wird hier draußen nicht funktionieren“, sagte Rex leise. Er und Dess hatten diese Route ausgewählt, damit Angie der blauen Zeit nicht entkommen konnte, wenn das Benzin ausging. Seit der neue Highway fertig war, fuhr so gut wie niemand mehr durch Saddleback. Es gab keine Sendemasten, keine Häuser, keine Bullen – nur Klapperschlangen, Gleiterbauten und genügend Stellen, um ein paar Leichen zu vergraben.
Rex sah auf seine Uhr. Wenn Dess’ Berechnungen zutrafen, dann würden sie in etwa drei Minuten stotternd zum Stehen kommen. Er musste sich bald etwas einfallen lassen, sonst waren sie beide tot.
Aber was konnte er tun, auf einer Straße ohne Abzweigun-gen, auf der ihm nichts anderes übrigblieb, als geradeaus weiterzufahren?
Plötzlich spürte Rex, wie tief in seinem Inneren etwas über seine Paralyse zu lachen anfing. Warum dachte er wie ein Beutetier? Warum ließ er zu, dass seine Verfolger die Regeln aufstellten?
Warum sorgte er nicht dafür, dass sie etwas riskierten?
Er biss die Zähne zusammen und schlug das Lenkrad heftig nach links ein. Der Ford kam von der Straße ab und rutschte auf einen sandigen Seitenstreifen, wo er ein paar Sekunden wie eine Klapperschlange schlingerte. Dann fassten die Reifen auf dem festgefahrenen Wüstenboden Fuß, der Wagen streckte sich und ratterte wie eine alte Waschmaschine, als er über Wüstengestrüpphügel und durch Löcher von Präriehunden rumpelte.
Für kurze Zeit verloren sich die Scheinwerfer hinter ihm in der Ferne. Aber dann schwenkten die beiden Mercedes von der Straße auf die Wüste zu, um die Verfolgung aufzunehmen.
„Was machst du da?“, schrie Angie, deren Zähne von den Erschütterungen des Wagens klapperten.
„Hier draußen besteht die Chance, dass einer von beiden einen Plattfuß kriegt.“
„Es kann aber doch auch sein, dass wir einen Plattfuß kriegen?“
Rex nickte bloß, er hatte nicht vor, zu erklären, warum der Ford so oder so stehen bleiben würde. „Hast du eine bessere Idee?“
„Meine bessere Idee war, nicht von einem abgehörten Telefon aus zu telefonieren!“
„Das hättest du in deiner Nachricht erwähnen können!“
„Es lag doch auf der Hand, dass wir dich beobachtet haben!
Mann! Wie kann es sein, dass Leute wie ihr jemals eine ganze Stadt kontrolliert haben?“
„ Wir waren das nicht, die … “ Rex Worte verebbten. Vor ihm tauchten ein paar schimmernde Häufchen auf, wie eine Ansammlung aus gespickten Basketbällen, die im Mondlicht glitzerten. Er lächelte bei dem Anblick. Wenn alle drei Wagen aussetzten, dann gab es für ihn und Angie vielleicht eine Chance, zu Fuß zu entkommen.
Er fuhr auf die Hügel zu, ignorierte die ratternden Beschwerden des Fords und nahm so viel Geschwindigkeit auf, wie er konnte. Mit oder ohne Sprit, mit oder ohne Reifen –
wenn Melissas Auto mal in Schwung war, brauchte es eine Weile, bis es zum Stehen kam.
„Rex? Was ist das da vorne?“
„Eine Stelle mit vielen Kakteen.“
„Was soll das? Willst du uns umbringen?“
„Nein. Aber uns geht gleich das Benzin aus.“
„Was?“
„Lange Geschichte. So haben wir wenigstens eine Chance.“
„Was für eine Chance? Auf einen schnellen Tod?“
Seine Antwort ging in einem plötzlichen Schlag unter dem Auto unter, der sich nach einer Wassermelone anhörte, die mit hundertzwanzig Stundenkilometern auf Beton klatscht.
Weitere Kollisionen erschütterten den Ford, Angie schrie jedes Mal auf, wenn ein Kaktus auftraf. Die Erschütterung jedes Aufpralls schoss durch den Autositz hoch, was sich für Rex anfühlte, als würde ihm ständig jemand in den Hintern treten.
Hinter ihnen fiel ein Scheinwerferpaar zurück. Der eine der beiden Mercedes war steckengeblieben, entweder mit einem Plattfuß oder einer gebrochenen Achse. Als Rex den wackeln-den Rückspiegel im Auge behielt, verschwand das Auto in seiner eigenen Staubwolke.
Blieb nur noch einer.
Dann blieb das Kakteenfeld mit einem abschließenden Schlag hinter ihnen zurück. Melissas Ford schwankte, der rechte Vorderreifen gab ein Geräusch wie eine Gummiflagge bei heftigem Wind von sich. Der Motor rumpelte aber unter Rex weiter, und die Wüste raste immer noch im Schweinwerferlicht vor ihnen vorbei.
„Jetzt werden sie langsam nervös“, sagte Angie mit einem Blick nach hinten.
„Nervös?“
„Wenn sie das andere Auto verlieren, haben sie keine Chance mehr, rechtzeitig aus dem Bezirk rauszukommen. Sie sind Grayfoots, denen man beigebracht hat, dass sie lieber sterben, als sich um Mitternacht in Bixby aufhalten.“
Rex blinzelte. Nach all seiner sorgsamen Planung für heute Nacht sollte allein seine verrückte, wild improvisierte Idee, durch ein Kaktusfeld zu stechen, funktionieren? Die Darklinghälfte tief in seinem Inneren triumphierte still vor sich hin.
„Rex, hattest du gesagt, dass uns das Benzin ausgeht?“
„Na ja … “, hob er an, aber plötzlich erschütterte eine neue Explosion den Wagen. Das Lenkrad wurde ihm aus den Händen gerissen, und das Auto schlingerte unkontrolliert über den Wüstenboden, vollführte eine Kehrtwendung, bei der es sich so weit nach rechts neigte, dass Rex fürchtete, es würde sich überschlagen. Das entsetzliche Geräusch von Metall auf Stein und festgebackenem Wüstenboden schrillte in seinen Ohren, und eine Staubwolke flog auf und verschluckte die Welt um sie herum.
Irgendwie überschlug sich der Ford nicht, als er aber endlich zum Stehen kam, neigte er sich wie ein sinkendes Schiff zu einer Seite. Rex war sich ziemlich sicher, dass rechts von beiden Reifen nur noch Gummikonfetti übrig war.
Der Motor erstarb mit einem Husten, als ihm endgültig das Benzin ausging.
Rex wartete darauf, dass ein Scheinwerferpaar im umherwirbelnden Staub auftauchen würde. Der andere Mercedes konnte nicht weit zurückliegen.
Allmählich klärte sich die Sicht und gab den Blick auf einen Sternenhimmel und die dunklen Berge in der Ferne frei – und ein paar rote Hecklichter, die in Richtung Wüste verschwanden.
„Was soll das?“, sagte er. „Sie hätten uns fast gehabt.“
Angie brauchte eine Weile, um zu Atem zu kommen, langsam lösten sich ihre Hände aus der Umklammerung des Autositzes. „Es ist zu kurz vor Mitternacht.“
Rex sah auf seine Uhr. „Sie hatten aber immer noch fünfzehn Minuten. Reichlich Zeit, um uns umzubringen und den Bezirk zu verlassen.“
„Stimmt, aber erst mussten sie zurückfahren, um die in dem anderen Auto einzusammeln.“
„Was? Sie sind so nett und lassen sie nicht einfach da draußen?“
„Das waren alles Grayfoots.“ Sie schnaubte verächtlich.
„Und die würden niemals Familie zurücklassen.“
Er sah sie an. „Aber dich.“
Angie nickte langsam. „Aber mich.“ Ihr glasiger Blick nahm allmählich den sinkenden Staub in sich auf, die verlassene Wüste, und senkte sich schließlich, um auf ihre Uhr zu sehen.
„Jetzt bin ich wohl dran. Deine kleine Gedankenleserfreundin wird gleich hier sein, oder?“
Angies Entsetzen verströmte einen überwältigenden Geruch. Ihre Hände zitterten inzwischen, als ob sie mehr Angst vor der Gedankenleserin hätte, die in ihr Gehirn eindringen könnte, als davor, von den Grayfoots erwischt zu werden.
Rex atmete langsam aus, um sein pochendes Herz zu beruhigen. Solange sich Angies Angstgeruch im Wagen ausbreitete, drohte der Jagdtrieb seinen Verstand zu überwältigen. Er musste jedoch die Kontrolle behalten, weiter mit ihr reden.
„Ich sag dir, wie es ist, okay?“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich hatte von Anfang an vor, dich um Mitternacht in Bixby festzuhalten. Deshalb hatte ich nicht mehr Benzin.“
„Du wusstest also, dass die Grayfoots auftauchen würden?
Und bist trotzdem gekommen?“ Sie pfiff. „Du hast Nerven.“
„Na ja, eigentlich nicht. Die Dinge haben sich nicht ganz nach Plan entwickelt.“ Er seufzte. „Aber sag mal, Angie, ist das wirklich wahr, was du mir über die Vergangenheit erzählt hast? Wie die alten Midnighter … “ Rex Stimme brach ab, als seine Nase plötzlich den scharfen Geruch nach Edelmetall entdeckte. Angies Messer blitzte in ihrer Hand auf. „He, was soll das?“
„Hör mal, Rex, ich weiß, dass du in fünfzehn Minuten aus mir machen kannst, was du willst: ein sabberndes, vertrotteltes Etwas wie dein Vater oder deine private Sklavin. Das heißt aber nicht, dass ich mich nicht wehren könnte.“
„Lass das bleiben, Angie! Niemand wird einen Volltrottel aus dir machen!“
„Na klar doch.“ Sie schnaubte wütend. „Du hast mich also hierhergelockt, weil du hinter dem Passwort von meinem Bankkonto her bist?“
„Nein, weil ich sicher sein wollte, dass du die Wahrheit sagst!“ Das Messer rückte näher, und seine Darklinghälfte wand sich bei dem Geruch nach Stahl. „Wir mussten das tun!
Wenn die Welt untergeht, müssen wir das genau wissen!“
Angie hielt inne, ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
„Was hast du gerade gesagt? Wenn was untergeht?“
„Die Welt … oder wenigstens ein ziemlich dicker Brocken davon.“ Rex redete schnell, seine Augen ließen das Messer nicht los. „Wir glauben, dass sich die blaue Zeit weit genug ausbreitet, um Millionen von Leuten zu schlucken. Gegen deine Darklingbrieffreunde sind sie machtlos.“
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist Unsinn, Rex. Darklinge können normalen Menschen nichts tun.“
„Normalerweise nicht. Aber die Barriere zwischen der normalen Zeit und der geheimen Stunde wird schwächer. An bestimmten Stellen können Daylighter durchrutschen. Du erinnerst dich an das Mädchen aus den Nachrichten von dieser Woche, das in Jenks verschwunden war? Sie ist in die blaue Zeit hineingelaufen.“
„Komm schon, Rex“, sagte Angie. „Ist sie nicht am nächsten Tag wieder aufgetaucht?“
„Ja, weil wir sie gerettet haben … vor einem riesigen, hungrigen Darkling, sollte ich vielleicht ergänzen.“
Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ich kann mich nicht erinnern, dass davon etwas in den Nachrichten kam.“
„Ja … stimmt.“ Rex schluckte. „Vielleicht haben wir sie gebeten, nichts zu erwähnen von dem, äh, Vorfall.“
„Ihr habt ihre Erinnerungen gelöscht“, sagte sie kühl.
Er sah sie böse an. „Wir mussten es tun.“
Das Messer kam näher, die Spitze berührte fast seine Wange, wo sie wie ein abgebrannter Streichholzkopf brannte. Rex’
Augen fixierten Angies Kehle, der Stahl an seiner Haut machte seine Darklinghälfte nervös, die ans Töten dachte. Er wusste, sollte er die Kontrolle verlieren, würde der kurze, brutale Kampf zwischen ihnen gleichberechtigter ausfallen, als Angie erwartete, mit oder ohne Messer. Das würde aber niemanden weiterbringen. Sie mussten kommunizieren und durften sich nicht gegenseitig umbringen.
„Und was werdet ihr mit meinen Erinnerungen machen?“, fragte Angie leise.
Rex riss seine Augen von ihrer Kehle los. Würde sie ihm glauben, dass er so wenig wie möglich in ihrem Gedächtnis verändern wollte? Nur herausfinden, was sie über die geplante Abreise der Grayfoots aus der Stadt wusste, und vielleicht eine heftige Phobie gegen Kidnapping von anderen Leuten für die Zukunft installieren. Natürlich nur, solange Melissa mittendrin nicht die Geduld verlieren und ihr Versprechen vergessen würde …
Falls das geschah, wollte Rex nicht in Angies Haut stecken.
Vielleicht gab es noch einen anderen Weg, damit umzugehen – einen ohne Gedankenlesen.
Rex versuchte, das Messer in seinem Gesicht zu ignorieren.
„Glaubst du wirklich an all dieses Zeug? Dass die alten Midnighter total böse waren?“
„Ich glaube nicht daran, Rex, ich weiß es. Ich bin eine richtige Historikerin, kein Amateur. Bevor ich etwas über die geheime Stunde herausfand, hatte ich für ein Buch über Oklahomas Eigenstaatlichkeit recherchiert. Ich habe alles dokumentiert, was mir der alte Mann über seine Kindheit erzählt hat. Ich habe die Gerichtsunterlagen in Tulsa gefunden, über seine Eltern, die sie geholt haben.“
Rex zog die Augenbrauen hoch. Er hatte alte Zeitungen aus Bixbys Vergangenheit gesammelt, aber keine Gerichtsunterlagen und nichts, was von so weit her kam wie Tulsa.
„Wovon redest du da?“, fragte er.
„Der Fall war 1949 eine große Sache. Die Eltern vom alten Grayfoot stritten um ein Ölfeld, das einige alte Stadtväter –
Seher wie du, Säulen der Gesellschaft – im Indianergebiet abgesteckt hatten. Normalerweise wäre der Prozess hingebogen worden, damit die Midnighter gewinnen würden, ohne Probleme. Der Fall landete aber vor einem Gericht in Tulsa, bei einem Richter, den sie nicht kontrollieren konnten.“
Rex runzelte die Stirn. „Und was ist dann passiert?“
„Eines Tages gaben alle Parteien der Native Americans klein bei. Sie gaben den Fall auf, dann verkauften sie ihre Häuser, um die Gerichtskosten der Stadtväter zu bezahlen. Sie verloren alles, was sie besaßen.“
Er schluckte. „Das klingt nach … Schiebung.“
„Nicht wahr? Und weißt du, was das Schlimmste ist, Rex?“, sagte sie. „Nach diesem Tag zeigten Grayfoots Eltern nie wieder einen Funken Rückgrat, es sei denn, um den Stadtvätern in allem, was sie sagten, zuzustimmen. Genau wie viele andere Leute in Bixby. Also kam der alte Kerl auf die Idee, dass es in Bixby nicht mit rechten Dingen zuging.“
Rex blinzelte. Er hatte sein ganzes Leben damit zugebracht, diese Geschichte zu erforschen. Wo kam plötzlich diese vollkommen andere Seite her?
Eigenartig war, dass sich Rex, wenn er sich um gewöhnliche Daylightergeschichte kümmerte, niemals nur auf das Wort eines Historikers verließ. Man musste verschiedene Quellen überprüfen, das wusste jeder. Aber bis heute Abend, als Angie in seinen Wagen eingestiegen war, hatte er keine zweite Meinung gekannt, die er der Lehre gegenüberstellen konnte.
Aber nach allem, was sie getan hatte, wie konnte er da wissen, ob sie die Wahrheit sagte?
„Also gut“, sagte er. „Ich will, dass du dieses Messer ein paar Zentimeter weiter wegtust.“
„Warum sollte ich?“
„Weil du mir jetzt sagen wirst, was zwischen dir und den Grayfoots vorgefallen ist“, sagte er.
Das Messer zögerte. „In der Nacht in der Wüste, damals, als wir dich an die Darklinge übergeben haben, hat keiner von uns damit gerechnet, dass das Kind auftauchen könnte. Sie war doch der erste Halbling, oder?“
„Sie hieß Anathea“, sagte Rex.
„Ich meine, ich weiß, dass sie ein Midnighter war und dass sie wie alle anderen zu einem Monster geworden wäre. Aber Mann, sie sah nicht älter als zwölf aus.“
„War sie auch kaum“, sagte Rex. „Sie hat diese fünfzig Jahre größtenteils in der erstarrten Zeit verbracht. Verängstigt und allein, umgeben von echten Monstern.“
Angie saß eine Weile schweigend da. „Also habe ich angefangen, mich laut zu fragen, ob es das wert wäre, einen neuen Halbling zu machen. Ich dachte, der alte Mann würde mir zuhören. Aber die Darklinge redeten nicht mehr mit uns.
Deshalb hielten die Grayfoots in meiner Gegenwart den Mund und machten sich Sorgen um die Zukunft.“
„Woher wissen sie, was passieren wird?“
Sie schüttelte den Kopf und ließ das Messer noch tiefer sinken. „Das Letzte, was Ernesto mir erzählt hat, war, dass irgendwas im Anzug ist. Etwas, was schon lange geplant war.
Die Grayfoots waren darauf vorbereitet gewesen. Nachdem die Darklinge jetzt aber nicht mehr mit ihnen redeten, könnte es für sie gefährlich werden.“
„Nicht nur für sie“, sagte Rex. „Auch du solltest die Stadt verlassen.“
„Würde ich liebend gern. Wenn nicht in ungefähr … fünf Minuten mein Hirn zermatscht würde.“
Rex schüttelte den Kopf. „Nein, wird es nicht. Ich werde nicht zulassen, dass Melissa dich berührt.“
Angie schnaubte verächtlich. „Das sagst du bloß so, damit ich dir nicht die Kehle aufschlitze.“ Sie gab einen ernüchterten Seufzer von sich und steckte das Messer wieder in ihre Manteltasche. „Nun, du kannst dich entspannen. Ich glaube, ich habe meine Phase der Kinderopfer hinter mir.“
Als das Messer verschwand, spürte Rex, wie sein Gemüt abkühlte. Nicht nur aus Erleichterung, er hatte sich entschieden.
„Nein, ich meine es ernst. Wir sind nicht so. Melissa muss dich gar nicht berühren. Hier draußen ist es ruhig, kein Gedankenlärm, und sie merkt, wenn du lügst, auch in der normalen Zeit. Nach Mitternacht – wenn du die Starre hinter dir hast – erzählst du uns einfach alles, was Ernesto gesagt hat.“
„Und ihr werdet mir glauben?“
Rex zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, Melissa wird merken, wenn du lügst … ohne dich zu berühren. Aber wenn die Midnight erst mal vorbei ist, kannst du gehen, wohin du willst. Insofern stimmt es, ich glaube dir.“
Sie kniff die Augen zusammen und sah auf ihre Uhr. „Und ich werde nach Mitternacht nicht plötzlich feststellen, dass mein Hirn ein Mustopf ist oder ich dir unbedingt Zugang zu meinem Konto verschaffen will?“
„Bankkonto?“ Er schüttelte den Kopf. „Hast du mal einen Blick auf diese Rostlaube geworden? Ein Mercedes ist das nicht gerade, wie der von deinen Kumpels dahinten.“
„Sieht nicht so aus.“ Sie atmete langsam ein. „Also gut, vermutlich habe ich keine Wahl … Aha. Wo wir gerade bei Autos waren.“
Rex folgte ihrem Blick nach vorn durch die Windschutzscheibe. Scheinwerfer waren wieder am Horizont aufgetaucht, die sich langsam ihren Weg über das verwüstete Kakteenfeld bahnten.
„Scheiße!“, rief er und griff nach dem Armaturenbrett des Fords, um die Scheinwerfer auszuschalten. „Hoffentlich sind das keine Cops.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Nein, das ist kein Polizeiauto. Auch kein Mercedes. Sieht nach … weiß ich nicht. Sieht ungefähr genau so abgewrackt wie diese Schrottkiste aus.“
Rex atmete erleichtert aus. Das war Jonathan mit den anderen.
„In Ordnung. Sind Freunde.“
Angie schauderte. „Mit der Gedankenleserin?“
„Ja, aber ich verspreche, dass sie dich nicht berühren wird.“
Er beugte sich vor und schaltete die Scheinwerfer wieder ein, dann blinzelte er ungläubig, als der Wagen ein paar Meter vor ihnen zum Stehen kam.
Jonathan und Dess konnte er hinter der Windschutzscheibe erkennen, aber auf dem Rücksitz saß niemand. Sie waren ihm und Angie hierher gefolgt, ohne Melissa und Jessica aufzugabeln, wofür sie einen Orden erwarteten.
Er gab einen frustrierten Seufzer von sich. Hatten sie wirklich angenommen, dass sie ihn vor den Grayfoots retten könnten? Wussten sie nicht, dass es in diesem Teil der Wüste in zwei Minuten von Darklingen nur so wimmeln würde?
„Was ist los?“, fragte Angie. „Du hast doch gesagt, das sind Freunde, oder?“
„Keine Sorge. Ist kein Problem … für dich.“ Er schüttelte den Kopf. „Nur für uns. Wenn wir alle nach Mitternacht einfach verschwunden sind, kannst du dir die Mühe mit den Briefen sparen. Dann sind wir alle tot.“
„Tot? Warum?“
„Weil deine Darklingkumpels ziemlich hässlich sind, Angie, viel schlimmer, als in sämtlichen Gerichtsunterlagen steht.
Und weil meine brillanten Pläne heute Nacht anscheinend nicht besonders gut funktionieren.“
Rex lehnte sich in den Fahrersitz zurück und ließ die letzten Sekunden der normalen Zeit verstreichen. Er war seinem Darklinginstinkt gefolgt, als er den Wagen auf die Fiats hinausgelenkt hatte, und sie hatten ihn hier hinausgeführt – meilenweit in die Wüste hinein, weiter, als er sich je zuvor um Mitternacht gewagt hatte.
Vielleicht hatte das ein Teil von ihm so gewollt.
Es sah so aus, als ob seine Begegnung mit den Alten früher als geplant zustande kommen würde.