bremsschwelle
11.36 Uhr nachts
6
Jonathan saß im Wagen seines Vaters und trommelte auf das Lenkrad. Jessica kam zu spät. Einige Meter von ihrem Haus entfernt erkannte er, dass in ihrem Zimmer noch Licht brannte. Sie hatte noch nicht einmal das Licht ausgeschaltet.
Worauf wartete sie? Heute Nacht zählte jede Sekunde.
Heute Nachmittag hatten die fünf am Telefon mit Jessica alles auf die Minute geplant: Jonathan war hergefahren, statt in der geheimen Stunde zu fliegen. Jessica sollte sich um halb zwölf hinausschleichen, damit genug Zeit blieb, um sich der Stelle, an der Cassie Flinders verschwunden war, bis auf eine knappe Meile zu nähern. Wenn dann die Midnight eintrat, wären sie nur noch ein paar Sprünge weit weg.
Dess, Rex und Melissa waren bereits dort, weshalb es umso wichtiger war, sich genau an den Plan zu halten. Jenks lag zwar nicht in den Badlands, und alle drei waren mit sauberem Stahl gerüstet, aber die Stelle war zu weit vom Stadtzentrum entfernt, um ohne den Flammenbringer auf Dauer zu überleben.
Er sah auf seine Uhr – 11.38 Uhr. „Wo bleibst du, Jessica?“
Die Worte hallten in seinem Kopf, und Jonathan fiel ein, was sie in den Abendnachrichten ständig wiederholt hatten: Wo ist Cassie Flinders?
Wenn Dess recht hatte, war das verschwundene Mädchen in die blaue Zeit gerutscht.
Jonathan pfiff durch die Zähne – ein Daylighter, der in ihrer Welt herumlief. Immer dann, wenn er glaubte, die geheime Stunde verstanden zu haben, schickte sie ihm einen neuen Schmetterball ins Spiel.
Der Schmetterball, den Cassie Flinders jetzt von der Realität abgekriegt hatte, hatte es allerdings in sich.
Rex und Madeleine versicherten immer wieder, ihr sei vielleicht gar nichts passiert. Cassie konnte während der Finsternis irgendwo hingelaufen sein, wo die Sonne sie nicht erreichte, und in der Dunkelheit wie die Darklinge in den Daylightstunden erstarrt sein. Und wenn die Midnight zurückkehrte, würde sie wieder aufwachen, und Melissa würde sie finden, kein Problem. Sie mussten sie nur so lange beschützen, bis die geheime Stunde vorüber war, bis ein Schuss aus Jessicas Taschenlampe –
oder, falls das nicht funktionieren sollte, die aufgehende Sonne sie wieder in die normale Zeit zurückschieben würde.
Natürlich konnte es auch sein, dass Cassie losgelaufen und geschnappt worden war. Wenn die Darklinge tatsächlich vorher gewusst hatten, dass die blaue Zeit schrumpfen würde, dann hätten sie direkt auf die Stelle zufliegen und sie mitnehmen können, tief in die Wüste hinein, wo niemand sie je finden würde.
Es gab auch noch eine dritte Möglichkeit: Sie hatten sie einfach auf der Stelle gefressen, direkt vor den erstarrten Augen ihrer Großmutter, die sie nicht sehen konnte.
„Mach schon, Jessica … “ Er schlug mit der Faust gegen das harte, kalte Metall am Armaturenbrett.
Nach einer stillen Zählerei bei sechzig angekommen, fluchte Jonathan, hielt im Rückspiegel Ausschau nach Anzeichen von Streifenwagen, die in der Sperrstunde herumschnüffeln könnten, und stieg in die kalte Herbstluft hinaus.
Neue Blumenrabatten säumten Jessicas Haus, das neuste Projekt ihres Vaters. Jessica hatte ihm erzählt, dass er sich in großem Stil auf die Gärtnerei verlegt hatte, um das Gemüse für die Familie selbst anzubauen. Offensichtlich war ihm nicht aufgefallen, dass der Herbst angebrochen war und die Erde nachts kalt und hart wurde.
Jonathan bemühte sich, auf dem Boden so leicht wie möglich aufzutreten, wobei er sich fragte, ob Don Day seine Gärtnerversuche dazu benutzte, um unter Jessicas Fenster nach Fußabdrücken Ausschau zu halten. Jonathan verfluchte sein Flächenlandgewicht. In der blauen Zeit hätte er einfach zur Fensterbank hinüberschweben können.
Stimmen. Er duckte sich.
Er hörte Jessica reden, dann jemanden antworten. Die durch das Fenster gedämpfte hohe Stimme erinnerte Jonathan an einen Moskito, der unter Glas gefangen saß.
Sein Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Wahrscheinlich nur Beth. Er reckte seinen Kopf, um hineinzuspähen.
Die beiden saßen auf dem Bett, Eltern waren keine zu sehen. Jessica war angezogen, ihre kleine Schwester trug einen Schlafanzug. Beth redete immer noch und wedelte hektisch mit den Händen durch die Luft, als ob sie einen Angriff von Stubenfliegen abwehren wollte. Jonathan sah, wie Jessica zu ihrer Nachttischlampe hinüberschielte, auf der nicht zu übersehen war, dass Mitternacht unweigerlich näher rückte.
Warum wurde Jessica sie nicht einfach los? Da Beth morgen zur Schule musste, war es für sie doch längst Zeit, ins Bett zu gehen.
Jonathan hob eine Faust zum Fenster hoch und wappnete sich, zu klopfen. Jessica war gewiss nicht erfreut, dass er sich vor ihrer kleinen Schwester ankündigte, vor allem nicht in der letzten Nacht ihres Hausarrestes. Beth würde ihren Eltern aber nichts verraten – so uncool war Jessicas kleine Schwester nicht.
Außerdem standen jetzt wichtigere Dinge auf dem Spiel.
Aus den Nachrichten wussten sie, dass Cassie Flinders dreizehn Jahre alt war, ungefähr so alt wie Anathea gewesen war, als die Darklinge sie geholt hatten. Jonathan erinnerte sich, wie klein sie gewesen und fast in dem Körper des Darklings verschwunden war, den sie ihr aufgepfropft hatten.
Cassie war natürlich kein Seher. Sie konnte die Lehre nicht lesen, die Darklinge würden sich nicht die Mühe machen, sie in einen Halbling zu verwandeln. Sie würde in der blauen Zeit nicht lange überleben, höchstens ihre Zahnfüllungen.
Er klopfte.
Beide Schwestern sprangen bei dem Geräusch auf, Beths Stimme brach mitten im Satz ab. Einen Moment lang starrte sie Jonathans Gesicht hinter dem Fenster an, dann fixierte sie Jessica mit kaltem Blick.
Als Jonathan das Fenster hochschob, hörte er sie flüstern:
„Ich hab’s doch gewusst!“
Jessica sah ihn bloß an.
„Abend, Mädels“, sagte er.
„Ebenfalls, Jonathan“, flötete Beth. „Wolltest du nur mal eben vorbeischauen?“
„Jonathan!“, grollte Jessica. „Hättest du nicht … “ Ihre Stimme brach ab.
Er kletterte hinein und sah von einer Schwester zur anderen. Beths Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und Jess blickte kopfschüttelnd zu Boden. Er seufzte. „Tut mir wirklich leid, Beth, dass ich dich unterbreche. Aber es ist etwas passiert.
Etwas Wichtiges.“ Er sah Jessica an, um das letzte Wort zu betonen.
„Du willst heute Nacht abhauen?“, fragte Beth mit leiser Stimme, die dadurch umso schroffer klang. „Du hast nur noch einen Tag, Jess. Willst du wieder Hausarrest haben?“
„Glaub mir“, sagte Jessica, „das will ich ganz sicher nicht.“
„Hör zu, Beth, ich muss mir deine Schwester nur für … “, er warf einen Blick auf die Uhr, „… achtzehn Minuten ausleihen. Ich verspreche, dann ist sie wieder zurück.“
Jessica schloss die Augen, als Beths Blick zur Uhr wanderte.
„Achtzehn Minuten?“, fragte Beth.
Jonathan schluckte. Jessicas kleine Schwester hatte natürlich keine Ahnung von der blauen Zeit. Aber sie hatte eine unheimliche Art, so zu tun, als wüsste sie Bescheid. „Genau.
Mehr oder weniger.“
Jessica stand auf und nahm ihre Jacke vom Bett. „Komm, wir gehen einfach.“
„Jessica“, winselte Beth.
„Pass auf“, sagte sie müde, „wenn du es Mom und Dad erzählen willst, nur zu. Ich hab für so was keine Zeit.“
„Jess, ich will nicht, dass du Schwierigkeiten kriegst“, flüsterte Beth mit Tränen in den Augen. „Ich will einfach nur wissen, was mit dir los ist.“
„Tut mir leid, okay?“ Jessica machte eine Pause, als ob sie um Worte ringen würde. „Aber ich muss jetzt sofort hier raus, und ich kann dir nicht sagen, warum.“
„Und du willst direkt vor meiner Nase abhauen?“ Beth verschränkte die Arme. „Dann krieg ich auch Schwierigkeiten, wenn du erwischt wirst?“
„Das ist dein Problem, Beth. Ich habe dir vor einer halben Stunde gesagt, dass du gehen sollst.“
„Kannst du’s mir wenigstens erklären, wenn du zurückkommst … in achtzehn Minuten?“
Jessica seufzte. „Verzeih. Ich würde es gern, aber ich kann nicht.“
„Hast du die Taschenlampe?“, fragte Jonathan, der schon mit einem Fuß aus dem Fenster war.
Sie klopfte an die Beule unter ihrer Jacke. „Klar, die ist hier.“
Sie schlichen hinaus und ließen sich auf die weiche Gartenerde fallen. Jonathan hörte, wie eine letzte Beschwerde abgeschnitten wurde, als Jessica das Fenster schloss, und dachte wieder daran, wie sehr er seine Mitternachtsschwerelosigkeit herbeisehnte. Dann konnte er endlich wieder fliegen, und alle kleinen Schwestern wären starr und stumm.
Und alle Darklinge erwachen zum Leben, fiel ihm ein, als er beim Sprint zum Auto auf seine Uhr sah.
Die Midnight würde kommen, na klar. Viel zu bald.
„Warum musstest du das sagen?“
„Was?“
„Die Sache mit den genau achtzehn Minuten“, sagte Jessica.
„Das war ein bisschen zu offensichtlich, findest du nicht?“
Jonathan zuckte mit den Schultern. Es war 11.42 Uhr, und er konnte Jess gegen Ende der geheimen Stunde zurückfliegen, bis Punkt Mitternacht. Obwohl er verstand, was sie meinte.
Vielleicht war er ein bisschen zu genau mit dem Zeitpunkt gewesen, wann Jessica zurückkommen würde.
Er seufzte, als sie an einem geplätteten Gürteltier auf der Straße vorbeisausten. Den ganzen Nachmittag hatte er sich Dess’ Berechnungen angehört, und sein Gehirn war mit Zahlen vollgestopft. „Was macht das schon für einen Unterschied?“
„Beth fällt allmählich auf, dass Mitternacht wichtig ist.“ Jessica starrte zum Seitenfenster hinaus. „Sie hat gemerkt, dass ich mich immer gegen zwölf zum Gehen fertig mache, und sie fängt an, immer kurz vor der geheimen Stunde aufzutauchen.
Wenn ich sie rausschmeiße, holt sie vielleicht einfach Mom und Dad. Als ob sie Bescheid wüsste. Seit der Nacht, in der ich sie in den Kleiderschrank geschoben habe – genau um Mitternacht.“
Jonathan kicherte. „Vielleicht solltest du sie nicht in Kleiderschränke schieben.“
„Du hast es gut – mit niemandem, außer deinem Vater.
Und der macht keinen Ärger.“
Er zuckte kurz bei den Worten und nahm eine Hand vom Lenkrad, mit der er nach ihrer griff. Sie spielte nervös mit Acariciandote, dem Armband, das er ihr geschenkt hatte. Er brachte ihre Hand zur Ruhe. „Das war von meiner Mom, erinnerst du dich?“
„Ach, entschuldige, Jonathan.“
„Ist schon gut. Sie ist ständig abgehauen, also war’s keine große Überraschung, als sie nicht mehr wiederkam. Aber du kannst von Glück sagen, dass du eine Familie hast.“
Eine Weile sagte sie nichts. „Stimmt.“
Jonathan wünschte sich, er hätte das Thema nicht angeschnitten. Es nützte nie etwas, wenn man über so ein Zeug redete. „Egal, Beth wird wahrscheinlich nicht darauf kommen, dass die Zeit Schlag zwölf stehenbleibt und eine Welt voller Monster auftaucht.“ Jonathan lachte. „Sie ist zwar schlau, aber so schlau ist sie nicht.“
Jessica wandte sich ihm zu. „Eigentlich macht sie dir gar nicht so viel aus, oder? Du magst sie.“
„Na klar. Du nicht?“
„Doch. Aber sie ist meine Schwester. Irgendwie muss ich sie mögen.“
Jonathan kicherte wieder. „Pass auf. Ihr beiden seid zurechtgekommen, bevor ihr hierhergezogen seid, nicht wahr?
Das werdet ihr wieder, wenn Beth sich an die seltsamen Dinge in Bixby gewöhnt hat. Und du hast recht, ich mag sie. Seit du uns einander vorgestellt hast, fühle ich mich nicht mehr ganz so wie ein Stalker, wenn ich herumschleiche.“
Jessica rückte näher und lehnte sich an ihn. „Stimmt, es läuft besser, seit sie dich kennengelernt hat. Ich glaube, sie vertraut dir. Wenigstens hält sie dich nicht mehr für einen Serienkiller.“
Jonathan lächelte, aber sein Lächeln entglitt, als er auf seine Uhr sah: In nur zehn Minuten würde die blaue Zeit eintreffen, und sie waren noch so viele Meilen von Jenks entfernt. Er trat aufs Gas, das alte Auto bebte, während es Geschwindigkeit aufnahm. Heute Nacht hatten sie wichtigere Sorgen als kleine Schwestern.
Sie rasten an einem alten Chevy vorbei, der den Creek Turnpike entlangtrödelte. So weit draußen vor der Stadt waren die Straßen beinahe leer gefegt, weshalb der Wagen seines Vaters für seine alten Freunde von der Polizeistation leicht zu entdecken war. Inzwischen wusste er mit Sicherheit, dass der halbe Bezirk ihn erkennen würde.
Jonathan wusste nicht, was er dann tun sollte. Sich anhalten lassen, weil er die Sperrstunde überschritten hatte, vielleicht wieder eingebuchtet werden und riskieren, dass Cassie Flinders für immer verschwand? Oder ein heißes Autorennen inszenieren, sich von den Cops verfolgen lassen und Jessica und sich selbst in größere Schwierigkeiten bringen, als Beth es sich je hätte erträumen können?
Spitzenauswahl.
Jessica räusperte sich. „Äh, du hast hoffentlich nicht vor, so schnell zu fahren, wenn die Zeit anhält? Ich persönlich hatte nicht vor, durch die Windschutzscheibe zu fliegen.“
„Midnight ist erst in zehn Minuten. Wenn wir nicht noch eine Finsternis kriegen.“
Sie entzog sich ihm, setzte sich auf und überprüfte ihren Sicherheitsgurt. „Ach ja. Danke, dass du mich daran erinnerst.
Midnight kann inzwischen jederzeit passieren.“
„Genau. Cool, was?“
„Äh, nein, Jonathan. Nicht cool. Was, wenn das dauernd passiert?“
Er zuckte mit den Schultern. „Dann können wir mehr herumfliegen.“
Sie seufzte. „Du fändest das toll, nicht wahr?“
„Was? Mehr Midnight? Wenn die ganze Welt nur uns fünfen gehört? Weniger Zeit im Flächenland? Klar fände ich das toll.“
„Wir wissen aber nicht, was passiert, Jonathan. Am Telefon hat Dess davon geredet, dass sich die blaue Zeit total verändert. Und heute wussten wir nicht, ob die Finsternis je wieder aufhört. Ich kam mir so vor, als wäre die Welt untergegangen.“
„Ja, stimmt. Ungefähr so wird das sein.“ Er prustete. „Und außerdem, sieh es mal so: Wenn die Welt untergeht, brauchst du dir wegen Beth keine Sorgen mehr zu machen.“
Jessica wandte sich ab, starrte aus dem Fenster und sagte kein einziges Wort mehr.
Jonathan runzelte die Stirn und fragte sich, was er jetzt wieder Falsches gesagt hatte.