schlummerparty

12.00 Uhr nachts

23

Geräusche kamen aus dem Computerladen, Metall fiel scheppernd zu Boden, und Millionen kleiner Teilchen zersprangen.

„Mann, Flyboy“, rief Dess durch das Fenster. „Ein Glück, dass du kein echter Einbrecher bist.“

„Hab nie behauptet, ich wäre einer“, rief er zurück. Es schepperte wieder.

Obwohl es in der blauen Zeit passierte, zuckte Jessica bei dem Krach zusammen. Sie fand, dass sie sich wenigstens bemühen könnten, leise zu sein, wenn sie schon irgendwo einbrachen.

Schon wieder.

„Gefunden!“, ertönte Jonathans Stimme.

Sie ging mit Dess um die Ecke zur Eingangstür des Geschäftes. Hinter der Glastür sah sie, wie Jonathan Schlüssel an einem Ring ausprobierte, einen nach dem anderen.

„Hätten einfach durchs Fenster klettern sollen“, murmelte Dess, als sich die Aktion in die Länge zog.

„Ein Teil von dem Zeug auf deiner Liste ist zu schwer“, sagte Jessica, unterdrückte ein Gähnen und war froh, dass sie durch die Tür gehen durfte. Sie konnte kaum die Augen offen halten, außerdem musste sie heute Nacht noch zu Constanza zurück.

Seit Rex’ Demonstration draußen in Jenks hatten die fünf jede Nacht gemeinsam damit verbracht, die Materialien zu sammeln, die nötig waren, um die Invasion der Darklinge aufzuhalten. In der Hauptsache hieß das, in alle Läden der Stadt einzubrechen, die Feuerwerkskörper verkauften, und das Lager zu räumen. Die nächtlichen Einbrüche wurden ermüdend. Und außerdem auffällig – im Bixby Register war ein Artikel über unbekannte Vandalen erschienen, die ein gefährliches Arsenal an Feuerwerkskörpern zusammenstellten. Dem Artikel zufolge hatte das Sheriffbüro tatsächlich herausgefunden, dass es sich um einen Trupp Jugendlicher handeln würde, die irgendwas Großes an Halloween vorhatten.

Natürlich ahnte niemand, wie groß.

Heute Nacht räumten Rex und Melissa den letzten Laden leer, während die anderen drei ein paar Teile aus Bixbys Computer- und Schlüsselshop entwendeten. Danach würde Rex ihnen hoffentlich ein paar Nächte Ruhe genehmigen. Halloween war schon in sechs Tagen.

Jessica sah sich mit finsterer Miene das Papierskelett an der Ladentür an, das während Jonathans Bemühungen mit den Schlüsseln sanft schaukelte. Die Schule war überall dekoriert worden, Girlanden in Schwarz und Orange hingen in allen Fluren, Kürbisgesichter glotzten von den Wänden der Cafeteria auf Jessica hinab. Immer wenn sie eine Hexe oder schwarze Katze an einer Klassentür sah, musste sie daran denken, was geschehen würde.

„Komm schon!“, sagte Dess in dem Moment, als das Schloss knackte.

„Meine Damen“, sagte Jonathan und hielt mit einer Verbeugung die Tür auf.

„Gut, beeilen wir uns“, sagte Jessica und lief durch die Reihen mit den Geräten und Werkzeugen und Farbtöpfen.

„Constanza denkt, ich bin auf dem Klo.“

Jonathan prustete. „Da würde sie durchdrehen, oder? Wenn du dadrin einfach verschwinden würdest?“

„Ja ja, sehr witzig“, sagte Jessica müde, während Jonathan eine riesige Abdeckplane einsammelte.

Montagmorgen, übermorgen, würde Constanza nach L.A.

fliegen. Angeblich nur für eine Woche. Jessica gegenüber ließ sie allerdings mindestens einmal pro Tag fallen, dass sie die Highschool von Bixby eventuell nie mehr betreten würde.

Heute Nacht sahen sie sich möglicherweise zum letzten Mal.

Jessica zog ihren Mantel enger an sich, als sie sich fragte, wie viele Menschen sie in der kommenden Woche noch verlieren würde.

„He, sieh dir das an“, sagte Dess.

Jessica drehte sich um. „Eine leere Farbdose?“

„Die vormals bescheidene Farbdose“, Dess schwenkte die Dose an ihrem Drahthenkel, „wird als bedeutendes explosives Gerät wiedergeboren werden.“

Jessica schluckte. Der eine oder andere von Rex’ Plänen grenzte an Wahnsinn. Aber jetzt führte kein Weg mehr zurück.

Sie zog Dess’ Liste aus ihrer Tasche und lief weiter an den blau schimmernden Regalen entlang, auf der Suche nach Nägeln, Drähten und Metallwerkzeugen – einigermaßen frischem, sauberem Stahl, aus dem man hundert Waffen herstellen konnte.

Jessica fragte sich, ob sie ausreichen würden.

Eine halbe Stunde später tippte ihr Jonathan auf die Schulter.

„Komm mit.“ Er reichte ihr seine Hand. „Wir sollten uns bald auf den Weg machen, damit ich rechtzeitig wieder hier bin.“

„Dachte, du hättest gesagt, dass du es komisch fändest, wenn ich einfach verschwinden würde.“

„Entschuldigung.“ Er berührte sie sacht an der Hand, für einen Moment flackerte Mitternachtsschwerelosigkeit durch ihren Körper. „Du hättest dableiben können. Dess und ich hätten das auch alleine machen können.“

„Ich helfe doch gern.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Schlummerpartys sind nicht besonders komisch, wenn deine Gastgeberin erstarrt ist.“ Jessica sah ihm in die Augen. „Außerdem hasse ich Nächte, in denen ich nicht zum Fliegen kommen.“

Er streckte ihr lächelnd die Hand hin. „Dann lass uns fliegen.“

„Einverstanden.“ Sie nahm die Hand, spürte, wie sich die Verbindung festigte und ihr Körper leicht wie Luft wurde. „Bis morgen, Dess.“

Dess, die an der offenen Eingangstür gestohlene Waren stapelte, sah auf. „Bis dann, Jess. Und Flyboy: Wenn du bis Mitternacht nicht wieder hier bist, lasse ich den ganzen Kram hier in deinem Auto und lege eine fette Nachricht für den Sheriff dazu.“

„Keine Sorge, bin gleich wieder da.“

Sie flogen zu Constanza, schossen über ein freies Stück Highway bis zu einer Gruppe großer Häuser, die an einer Ringstraße lagen. Jonathan landete mit Jessica auf dem Dach, direkt bei dem offenen Badezimmerfenster im ersten Stock.

Jessica sah auf ihre Uhr. Jonathan hatte immer noch reichlich Zeit, um zum Laden zurückzufliegen, bevor die Midnight zu Ende ging. „Danke fürs Mitnehmen.“

„Hör mal, ich weiß doch, dass du Constanza heute Nacht sehen musstest. Wo sie doch deine einzige normale Freundin ist.“

Jessica sah zu ihm auf und fragte sich, ob er das ironisch gemeint hatte.

„Das meine ich im Ernst, Jess. Es ist in Ordnung, wenn man jemanden braucht, der kein Midnighter ist.“ Er schluckte und sah verlegen aus. „Außerdem tut es mir leid, dass ich mich nie mit ihr angefreundet habe.“

„Danke.“ Jessica seufzte. „Nach allem, was passieren wird, kommt sie nicht mehr zurück, oder?“

„Nein, glaube ich nicht. In Los Angeles wird sie aber wenigstens in Sicherheit sein.“

„Stimmt.“ Sie seufzte wieder. „Ich kann Abschiede bloß nicht ausstehen.“ Bevor sie nach Bixby gezogen waren, hatte sie in den letzten drei Monaten in Chicago nichts anderes getan, als sich zu verabschieden. Und jetzt würde sie anscheinend schon wieder alles verlieren.

Im Badezimmer zog Jessica ihren Schlafanzug wieder an, während sie auf das Ende der Midnight wartete. Als das blaue Licht verschwand, das Haus bebend wieder zum Leben erwachte, drückte sie auf die Toilettenspülung und trat auf den Flur im Obergeschoss.

„Also, wie ich gerade gesagt hatte“, hob Constanza an, als Jessica die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. „Dieses Teil hier kann in Rente gehen, richtig?“

Jessica sah den schwarzen Pullover mit den roten Schulterklappen an. „Stimmt. Viel zu sehr Achtzigerjahre.“

„Igitt.“ Constanza warf ihn auf den Altkleiderhaufen, dann wandte sie sich den drei riesigen Koffern zu, die aufgeklappt am Boden lagen. Sie waren randvoll gestopft mit Kleidern, Blusen, Röcken und mindestens einem Dutzend Schuhen.

„Werden deine Eltern keinen Verdacht schöpfen? Ich meine, du fährst doch angeblich nur für eine Woche weg.“

Constanza prustete. „So viel packe ich immer für eine Woche ein. Du kannst dir nicht vorstellen, was für großartige Sachen ich zurücklasse. Ich denke aber, das reicht jetzt.“

„Wir sind also fertig?“, fragte Jessica hoffnungsvoll. Sie hatten mehr oder weniger den ganzen Tag gepackt.

„Für heute Nacht sind wir fertig.“ Constanza erhob sich und betrachtete das Schlachtfeld in ihrem Zimmer. „Tausend Dank, dass du mir geholfen hast, Jess. Ich hasse packen.“ Sie sah sehnsüchtig in ihre riesigen Schränke. „All diese Klamotten weinen mir nach. So viele muss ich zurücklassen.“

Jessica spürte, dass sie lächelte. Die vergangene Woche war für die Vorbereitungen auf eine Schlacht draufgegangen, die man kaum gewinnen konnte. Es fühlte sich gut an, etwas Konkretes zustande gebracht zu haben, auch etwas so Unwichtiges wie Constanzas Gepäck. Und es war eine Erleichterung, Entscheidungen zu treffen, von denen kein Leben abhing.

„Ich hab dir gern geholfen. Hat Spaß gemacht, auch wenn’s anstrengend war.“

„Ernesto wollte mir helfen, aber er ist schon lange weg.“

Jessica runzelte die Stirn. „Von deinen Verwandten ist keiner mehr hier, oder?“

„Nein. Und selbst wenn, Opa hat sich total angestellt, dass nur ja keiner vor dem Umzug den Boden von Bixby betritt.“

Jessica nickte. So kurz vor Samhain waren nur noch Constanzas bedauernswerte Eltern hier. Ihr Haus lag von Jenks aus am anderen Ende von Bixby, aber trotzdem dort, wo der Riss entlanglaufen würde. Wenn die Darklinge durchbrechen würden, waren ihre Leute ernsthaft in Gefahr.

„Macht dir das nichts aus?“, fragte sie. „Wenn du deine Eltern nicht mehr … so oft siehst?“

Constanza zuckte mit den Schultern. „Ich bin fast siebzehn.

Ich wäre wahrscheinlich sowieso bald ausgezogen. So können sie mich wenigstens im Fernsehen bewundern.“

Jessica musste lächeln.

„Aber weißt du, eigentlich bin ich nicht traurig, weil sie hierbleiben“, fuhr Constanza fort. „Sie werden immer um mich sein, auf die eine oder andere Art. Meine Freunde sind es, die ich mehr vermissen werde. Besonders dich.“

„Mich? Besonders?

„Natürlich, Dummchen. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich kaum eine Chance gehabt, dich kennenzulernen.

Wie lange war das? Zwei Monate, seit die Schule angefangen hat?“

„Kann sein“, sagte Jessica leise. Ihr kam es manchmal so vor, als wären Jahre vergangen, dabei war sie erst Ende August in Bixby angekommen. Sie saß neben einem der Koffer und starrte den Haufen an Kleidern und Schuhen in seinem Inneren an. „Zwei Monate können einem manchmal ziemlich lang vorkommen, finde ich.“

„Wie recht du hast.“ Constanza rückte näher. „Nach meiner Theorie sind zwei Monate in Freundschaftszeit eigentlich länger als ein Jahr, verstehst du?“

„Äh … eher weniger.“

Constanza bückte sich, nahm einen Stapel Hemden, die durchgefallen waren, und trug ihn zu einem der riesigen, inzwischen halb leeren Schränke. „ Jess, hör mal, ich weiß, dass du ganz traurig bist, weil ich gehe. Du bläst Trübsal, seit ich dir von L.A. erzählt habe. Aber manchmal sind diese kurzen Freundschaften die besten.“

Jessica zog eine Augenbraue hoch. „Wirklich?“

Constanza hängte die Hemden nachdenklich wieder auf Bügel. Eins nach dem anderen. „Hattest du nie eine beste Freundin im Sommerlager oder so? Man freundet sich schnell an, und man weiß, dass man nur bis zum Ende des Sommers zusammen ist, also wird das superintensiv.“

Jessica nickte. „Ja, ich glaube, ich weiß, was du meinst.“

Constanza sah sie an und strich ihr eine Locke aus dem Gesicht. „Aber das sind immer die Leute, an die du dich für den Rest deines Lebens erinnerst. Ich jedenfalls. Auch wenn ich immer vergesse, ihnen zu schreiben und so.“

Jessica schluckte, ein Kloß steckte in ihrem Hals. Sie konnte nicht glauben, dass sich Tränen angeschlichen hatten, und sie wäre sich wie ein Vollidiot vorgekommen, wenn sie angefangen hätte zu weinen. Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren, was Jonathan gesagt hatte: Constanza zählte zu den Glücklichen. Sie würde Bixbys große Halloweenparty nicht miterleben.

Constanza seufzte. „Vielleicht liegt das daran, dass Freundschaften, die so enden, nicht einfach auseinandergehen, man wird auseinandergerissen. Deshalb kommt man nie an den Punkt, wo man einander nicht mehr mag.“

Jessica blinzelte, und eine Träne lief ihre Wange hinab.

Constanza streckte einen ihrer eleganten Finger aus und wischte sie behutsam weg.

„Komm schon, Jess. Jetzt bist du lange genug traurig gewesen.“ Sie lachte. „Ich komme so oft nach Bixby, wie es meine Drehtermine zulassen. Muss schließlich meine alten Herrschaften besuchen, wie du weißt.“

„Okay. Tut mir leid.“

„Muss dir nicht leid tun.“ Constanza drehte ihr Lächeln auf volle Wattleistung auf. „Nachdem wir jetzt alles gepackt haben, müssen wir was Lustiges machen, damit ich dich fröhlich in Erinnerung behalten kann.“

Jessica nickte und ließ sich von Constanzas Laune aus ihrer Traurigkeit reißen, die sie die ganze Woche begleitet hatte.

Dess behauptete ständig, ihr Plan würde funktionieren, weshalb sie vielleicht alle Leute in Bixby retten könnten, oder wenigstens fast alle. Und nach fünfundzwanzig Stunden Midnight würde sich die blaue Zeit wieder zurückziehen.

Wenn die Darklinge erst mal kapiert hatten, dass ihnen ein Kampf bevorstand, würden sie vielleicht nicht mehr jedes Jahr an Halloween zurückkehren.

Jessica beschloss, dass sie es sich wenigstens heute Nacht gut gehen lassen würde.

„Okay, ab jetzt bin ich fröhlich.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln.

„So ist es brav“, sagte Constanza. „Wir können ja immer noch telefonieren. Schließlich geht die Welt nicht unter.“