beth

12.00 Uhr nachts – lange Midnight

29

„Beth!“, rief Jessica zum hundertsten Mal. „Wo bist du?“

Die Höhle war hier irgendwo gewesen, das wusste sie genau.

Aber vor drei Wochen war Jessica mit Jonathan hierher geflogen, nicht gegangen. Irgendwie war der Weg direkt unter ihren Füßen verschwunden, hatte sich in Büsche und Baumwurzeln verwandelt. Alles sah hier im Riss fremd und seltsam aus, an den Blatträndern leuchtete ein violettes und karmesinrotes Feuer.

Sie sah auf ihre Uhr. Fast zehn Minuten waren vergangen, seit sie Melissa zurückgelassen hatte. Bald würden jüngere Darklinge näherrücken.

Sie zog ihre Taschenlampe hervor und flüsterte deren neuen Namen Unbeugsamkeit.

Der Strahl brandete durch den Wald und entfernte jeden violetten Schimmer aus dem Riss. Jessica hörte Bewegung über sich, einen Gleiter – oder etwas Größeres – auf der Flucht vor dem weißen Licht.

„Beth!“, schrie sie. „Wo bist du?“

Endlich gab es eine Antwort. Nicht in ihren Ohren, die Worte tauchten von weit her in ihren Gedanken auf.

Nach rechts, schnell. Sie brauchen dich.

Melissa. Der Geschmack der Gedankenleserin lag Jessica auf der Zunge – ein seltsames Gefühl, schließlich hatte sie bisher nie daran gedacht, dass Melissa irgendwie schmecken könnte.

Aber da war er, bitter und ätzend, als wenn man auf einer Pille rumkauen würde, die man eigentlich schlucken sollte.

Jessica fing an zu rennen, bog rechts ab, bis ein schriller Ton durch die Bäume zu ihr drang. Sie stürzte auf den Ton zu, kümmerte sich nicht um Zweige, die an ihr Gesicht und ihre Kleider peitschten. Der Riss hatte die Luft von den schwebenden Regentropfen befreit, aber die Bäume hingen immer noch voller Wasser – Kübel, die sich über ihr leerten, während sie sich einen Weg bahnte.

Noch ein Schrei ertönte über ihrem Kopf. Dicht darüber.

Sie tauchte an einer bekannten Lichtung auf, sah den Steinfinger, der in die Luft ragte, dann kam sie taumelnd zum Stehen, mit großen Augen. Ein Wesen hatte sich über den Eingang der Höhle gelegt, wie eine fette Qualle über ihr Opfer, deren Tentakel im Stein verschwanden. Das Wesen hatte keinen Kopf, soweit Jessica erkennen konnte, nur einen wirren Knoten aus fadenartigen Fortsätzen, fest zusammengeknäult wie Haare im Abfluss der Badewanne.

Eine kleine, menschliche Gestalt stand direkt im Eingang, blass und zitternd, Arme und Beine mit den Tentakeln des Wesens umwickelt.

Jessica rannte darauf zu, das weiße Licht von Unbeugsamkeit auf das Wesen gerichtet.

Seine Tentakel gingen aber nicht in Flammen auf. Sie fauchten stattdessen verärgert ein blaues Feuer und zogen sich fester zusammen.

Rex hatte sie gewarnt, dass sie heute Nacht neue Wesen sehen könnten, Wesen, die lange vor der Erschaffung der Midnight geboren waren, so alt, dass sie mit weißem Licht allein nicht erlegt werden könnten.

Wenn das der Fall war, hatte er gesagt, blieb immer noch Feuer.

Jessica zog die Autobahnfackel aus ihrer Tasche, brach sie mit einer Bewegung, die sie die ganze Woche geübt hatte, in zwei Teile, die sie aneinanderrieb.

„Ventriloquist“, sagte sie, und die Flamme erwachte leuchtend weiß und blendend hell zum Leben.

In deren Schein sah sie, wie eins der Beine des Wesens über den Boden auf sie zu schlängelte. Sie kniete nieder und stieß mit der Fackel zu. Das Tentakel fing an zu verschmoren, und ein Übelkeit erregender Geruch nach verbranntem Haar und Staub stieg auf.

Es zog sich zurück, glitt von ihr weg, aber aus der Luft tauchte ein Zweites vor ihr auf.

„Hast noch nicht genug?“, sagte Jessica und wehrte es ab.

Der Arm fuhr um sie herum, gerade außerhalb der Reichweite der zischenden Flamme. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich aus dem Wesen noch ein Arm streckte.

Sie schluckte. Seit sie der Flammenbringer geworden war, hatten die Darklinge sich so sehr vor ihr gefürchtet. Aber diese Alten hier ließen sich offensichtlich nicht abschrecken.

Das hier war schließlich ihre Nacht.

Jessica stürzte vorwärts, die Fackel auf das nächste Tentakel zuschwenkend. Ein Feuerstrahl explodierte, der einen lang gezogenen, anklagenden Schrei nach sich zog und noch einen Schub Gestank nach verbranntem Haar.

Sie sah sich nach weiteren Armen um …

Plötzlich wickelte sich etwas um ihr Bein, etwas Weiches, Fedriges und Bitterkaltes. Die Kälte breitete sich in ihr aus, kroch ihren Rücken hoch, zusammen mit einer Flutwelle aus Gefühlen: Ängste und Albträume tauchten auf, vergessene Schrecken drängten an die Oberfläche ihres Bewusstseins.

Plötzlich fühlte sich Jessica verlassen, erfüllt von der Gewissheit, dass sie in der Schule versagen würde, ihre alten Freunde für immer verlassen und sich an einen Ort begeben würde, an dem die Realität verbogen und fremd war. Ein panisches Gefühl wie nach dem letzten Läuten, wenn sie ihre neue Klasse finden musste, lähmte sie, kalt wie die Blicke der zahllosen, unfreundlichen Fremden.

Jeder in Bixby hasste sie, plötzlich wusste sie das.

Mach deine Hand auf, Jess, beschwor sie eine entfernte Stimme.

Sie gehorchte instinktiv, wollte der Stimme in ihrem Kopf gefallen, und ihre Finger ließen die Fackel los. Ihre einzige Waffe fiel ihr aus der Hand.

Dann verschwand die Kälte wie eine gekappte Telefonverbindung, all ihre Schrecken lösten sich im Bruchteil eines Herzschlags auf. Und wieder erfüllte der schrille Schrei die Luft, langsam und stechend und voller Klage, wie die Mittagssirene auf dem Dach von Bixbys Feuerwehr.

Jessica sah nach unten: Das brennende Ende der Fackel hatte im Fall das Tentakel abgetrennt und sie aus dem Bann der Kreatur befreit.

„Danke, Melissa“, flüsterte sie und bückte sich nach der Fackel. Sie vor sich haltend stürzte sie auf das Wesen zu, das sich über den Eingang der Höhle gelegt hatte.

Tentakel wanden sich, als sie näher kam, glitten von den Armen und Beinen der kleinen, blassen Gestalt im Eingang und gaben die Felsspitze frei. Einige kleinere Extremitäten wirbelten um die flache Mitte des Wesens wie Hubschrauberblätter, fauchten wie ausgeblasener Dampf. Langsam erhob es sich in die Luft. Jessica schleuderte die Fackel hinter der Kreatur her und griff mit der gleichen Bewegung in ihrer Tasche nach einer neuen. Als sie die zweite Fackel zündete, ging das Darklingwesen über ihr in Flammen auf, der Gestank nach toten Ratten und verfaulten Eiern erfüllte die Luft. Es gab noch einen klagenden Heuler von sich, weiter aufsteigend, dann flog es in den Himmel. Die Flamme schien auf der Kreatur zu reiten, irgendwie unfähig, das Wesen zu verzehren. Und dann hatte die brennende Masse die Baumlinie überflogen.

Jessica hielt die neue Fackel in den Eingang der Höhle. Die kleine Gestalt war zu Boden gesunken und lag zusammengekauert und schluchzend da. Ein zweites blasses Gesicht tauchte in der Finsternis auf.

„Beth?“, fragte sie und spähte durch den Qualm der Fackel.

„Ich bin’s – Cassie.“ Das Mädchen trat einen Schritt näher an das Licht, dann kniete sie neben der zusammengesunkenen Gestalt nieder und drehte ihr Gesicht nach oben.

Es war Beth, so blass, dass man sie kaum wiedererkannte.

Jessica ließ die Fackel fallen und fiel auf die Knie. „Beth!“

Einen Moment lang gab es statt einer Antwort nur flackernde Augenlider. Dann schnappte Beth plötzlich und heftig nach Luft und schlug die Augen auf.

„Jess?“, antwortete sie.

„Ich bin hier. Bist du okay?“

„Doch. Sicher. Was für ein Albtraum. Hab ich geschrien oder nur …?“ Beths Augen wurden größer, als sie Cassie erkannte, die brennende Fackel, die rötliche blaue Zeit um sie herum. „Was ist bloß los, Jess?“

„Was hast du hier draußen zu suchen?“, schrie Jessica.

Cassie sah benommen aus, aber sie antwortete ruhig. „Wir haben uns heute Nacht rausgeschlichen. Wir dachten, hier draußen wäre was los um Mitternacht.“

„Da lagt ihr beiden ganz richtig.“

„Was war das für ein Ding?“, fragte Cassie.

„Welches Ding …“, brachte Beth tonlos heraus.

„Ich hab keine Ahnung. Ich meine, es war zwar ein Darkling, aber keiner von der üblichen Sorte.“

„Ein Darkling?“

Jessica schüttelte den Kopf. „Ich erkläre es dir später. Beth, kannst du aufstehen?“

Beth erhob sich langsam auf ihre Füße. Die Autobahnfackel warf ein wild flackerndes Licht in die Höhle hinter ihnen, und die Gesichter der beiden Mädchen sahen in den harten Schatten gespenstisch aus.

„Ich weiß noch, dass die Lampe ausgegangen ist“, sagte Beth, dann sah sie Jessica an. „Warum bist du hier? Was ist hier los?“ Allmählich hörte sich ihre Stimme etwas kräftiger an.

Später. Beth. Siehst du nicht ein, dass wir gehen müssen?“

„Gehen? Wohin? Ich meine, was soll das hier alles? Ist es das, was du jede Nacht tust, wenn du dich rausschleichst?“

„Beth!“ Jessica griff hinter sich und schnappte ihre Schwester bei der Hand. „Erzähle ich dir später! Komm jetzt mit!“

„Tust du ja doch nicht!“ Beth stemmte ihre Füße fest auf den Boden und ließ Jessica keinen Schritt weiter gehen. „Du erzählst mir nie etwas!“

Jessica stöhnte. Ihre kleine Schwester erinnerte sich offensichtlich nicht an die Kreatur, die sich über sie hergemacht hatte. Sie war sich nicht bewusst, dass sie beinahe gefressen worden wäre. Sogar Cassie hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

Ein Teil von ihr wollte schreien, aber ein anderer Teil wünschte sich nichts sehnlicher, als auf der Stelle stehen zubleiben und Beth alles zu erzählen. Endlich keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen.

Jessica legte ihrer Schwester die Hände auf die Schultern.

„Gut. So viel kann ich dir dazu sagen. Das ist es, was an Bixby seltsam ist. Es verwandelte sich immer um Mitternacht und wird etwas … Entsetzliches. Und wir müssen uns darum kümmern, meine Freunde und ich.“

Beth sah immer noch benommen aus. „Es ist wie eine Art Albtraum …“

„Genau. Nur ist er real.“ Jessica schüttelte den Kopf. „Besonders jetzt. Ihr habt euch die falsche Nacht ausgesucht, um mir hinterherzuspionieren.“

„Dir hinterherspionieren? Ich hab mir Sorgen um dich gemacht, Jess. Du hattest Geheimnisse und hast dauernd gelogen

…“, rief Beth.

„Es tut mir leid“, schluchzte Jessica. „Tut mir ehrlich leid.

Aber verstehst du denn jetzt, warum? Du hättest mir sowieso nicht geglaubt!“

Beth sah sich in der violett beleuchteten Welt um, in der Wind und Regen stillstanden, und nickte. „Stimmt. Da hast du recht.“

„Ich wollte dich nie belügen, Beth. Ich hatte bloß keine Möglichkeit, es dir zu erklären. Und wir müssen jetzt sofort gehen. Komm einfach mit mir, und dann erkläre ich dir alles.

Ich verspreche, ich werde dich nie wieder belügen. Vertrau mir einfach, bitte.“

Beth sah sie an, und Jessica fragte sich, ob sie wirklich zu-hörte oder ob ihr Misstrauen immer noch umherschwirrte, auf der Suche nach Zweifeln, Hohn oder Spott. Vielleicht war inzwischen zu viel zwischen ihnen zerbrochen.

Aber dann, langsam, nickte Beth. „Okay, ich vertraue dir.“

Jessica strahlte, Erleichterung wallte in ihr auf. „Später mehr? Aber jetzt tust du, was ich sage? Egal, wie verrückt es ist?“

„Klar. Später mehr. Können wir jetzt hier rausgehen? Hier drin riecht es seltsam.“

„Kein Problem.“

Jessica führte sie aus der Höhe, Unbeugsamkeit in der einen, die zischende Fackel in der anderen Hand. Als sie die Lichtung überquerten, suchten ihre Augen nach dem Pfad zum Eisenbahndamm.

„He, kann ich mal was fragen?“, sagte Cassie.

Jessica drehte sich um. „Muss das sein?“

„Irgendwie schon.“ Cassie deutete in die Luft. „Was ist das da?“

Jessica wirbelte herum, Unbeugsamkeit strich über den Himmel. Sein Strahl traf auf Jonathan und Rex, die auf sie zu nach unten trudelten, die Hände zum Schutz vor dem Licht vor den Augen. Sie schaltete die Taschenlampe ab.

Rex landete schludrig, kam rutschend zum Stehen, aber Jonathan federte vom Rand der Lichtung wieder ab und sauste zu der Stelle, wo sie standen. Mit einer Drehung landete er vor ihnen und nahm Jessica in seine Arme. Seine Mitternachts-Schwerelosigkeit durchflutete sie, zusammen mit dem plötzlichen Gefühl, dass sie vor Erleichterung zu weinen anfangen könnte.

Er hielt sie von sich weg, um sie anzusehen. „Geht’s dir gut?“

„Ja.“

Er drehte sich um. „Hallo, Beth. Wie läuft’s denn so?“

„Ähm, hi, Jonathan“, sagte Beth und hörte sich wieder kleinlaut an.

Jessica nahm seine beiden Hände. „Ich glaube, sie sind okay, aber heute Nacht sind ein paar scheißschräge Darklinge unterwegs.“

„Kann man so sagen. Aber Jess, du und ich, wir müssen sofort los. Wir müssen in die Stadt zurück.“

„Warum? Melissa hat die erste Runde noch gar nicht gezündet.“

Rex hoppelte zu ihnen herüber, bei jedem Schritt verzog er das Gesicht. „Wir können das alles aufhalten, Jessica“, keuchte er. „Jetzt gleich. Alle retten.“

„Was? Wie denn?“

„Da ist ein Blitz, den die Midnight eingefangen hat. Er schlägt in den Pegasus auf dem alten Mobil-Gebäude ein. Du musst vor dem Riss da ankommen.“

„Und was dann?“

„Dann hältst du deine Hand in den Blitz.“

„Was soll ich tun?“

Rex hob beschwichtigend die Hände. „Ich kann dir jetzt nicht erklären, woher ich das weiß. Ich hab es irgendwie von den Darklingen, zusammen mit einem alten Teil aus der Lehre. Aber du kannst dafür sorgen, dass sich der Riss wieder schließt, da bin ich mir sicher. Deshalb hatten die Darklinge solche Angst vor dir. Was heute passiert, haben sie befürchtet.“

Jessica blinzelte. „Und was ist mit meiner Schwester und Cassie?“

„Ich kümmere mich um sie. Gib mir nur das da.“ Er nahm ihr die brennende Fackel ab. „Melissa braucht die. Das Feuer, das du ihr dagelassen hast, ist ausgegangen.“

„Aber die Darklinge sind überall!“

„Weiß ich.“ Seine Stimme brach. „Sie kommen ihr jetzt immer näher.“

Jessica griff nach Jonathans Hand. „Wir können da hinfliegen …“

Mit einer Handbewegung brachte er sie zum Schweigen.

„Du musst jetzt sofort in die Innenstadt. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“

Sie starrte Rex an. Er sah nicht so aus, als ob er noch einen Schritt gehen könnte, geschweige denn, gegen Darklinge kämpfen. Aber sein flehendes Gesicht ließ jede Diskussion verstummen.

Sofort, Jess!“

Eine Millisekunde später fiel Jessica auf, dass sie wieder mal am gleichen Punkt angekommen war – nicht wusste, was sie tun sollte, und glauben musste, was die anderen ihr sagten.

Von dem Tag an, als sie Bixby zum ersten Mal betreten hatte, schienen sich die Regeln der Realität wöchentlich zu verschieben, als ob die blaue Zeit ein riesiger Treppenwitz wäre, den sich das Universum nur für Jessica Day ausgedacht hatte. Wie üblich war nie genug Zeit für eine vollständige Erklärung, nie Zeit, irgendetwas bis zum Schluss zu überdenken.

Sie konnte sich nur darauf verlassen, dass Rex, was immer die Darklinge mit ihm angestellt hatten, immer noch menschlich genug war, um das Richtige zu wollen. Obwohl Bixby über Jahrtausende betrogen und manipuliert worden war, konnte sie nur glauben, dass diese verwaiste Midnightergeneration anders war. Vor allem musste sie daran denken, dass Rex Greene Melissa niemals auch nur eine Sekunde zu lang in Gefahr allein lassen würde, wenn nicht Leben zu tausenden auf dem Spiel standen.

„Also gut.“ Sie wandte sich an Beth. „Bleibt bei Rex, okay?

Tut einfach, was er sagt. Er wird dafür sorgen, das euch nichts passiert.“ Jessica lächelte. „Vertrau mir.“

Beth stotterte einen Moment hilflos vor sich hin, dann platzte es aus ihr heraus: „Dein Freund kann fliegen?“

Jessica grinste. „Ja, richtig, das kann er.“

Sie wandte sich Jonathan zu und streckte die Hand aus.

„Okay, los geht’s.“