brillanter plan
11.07 Uhr nachts
13
In Broken Arrow hatte sich nicht viel verändert, soweit Rex sehen konnte.
Die Stadt war noch immer Bixbys kleine Schwester, Gebäude mit mehr als ein paar Stockwerken sah man in der Skyline nicht. Gleich hinter der Stadtgrenze standen klappernde Ölbohrtürme und Süßhülsenbäume, und statt der grünen Rasenflächen gab es in den Vorgärten oft nur nackte Erde. Heimische Wüstensträucher waren zur Bodenbefestigung angepflanzt, die wesentlich weniger Wasser brauchten als Rasen –
und eigentlich besser aussahen, fand Rex. Aber wer in Bixby keinen echten Rasen hatte, war entweder arm oder faul, was für die meisten Leute mehr oder weniger auf das Gleiche hinauslief.
Er fuhr vorsichtig, achtete auf Straßenschilder und verfolgte genau die Route, die Dess für ihre Berechnungen verwendet hatte. Sie hatte sich über diesen Teil des Plans beschwert, weil die Berechnungen von zu vielen Komponenten beeinflusst werden konnten – davon, wie schnell Rex fuhr, vom Luftdruck in den Reifen, sogar von der Außentemperatur. Sie hatte sich ausgiebig über sogenannte „Dämpfe“ beschwert.
Rex konnte an all das nicht denken. Er war vollauf damit beschäftigt, diese rumpelnde, stinkende, menschliche Maschine zu fahren. Seine Reflexe funktionierten inzwischen viel schneller, aber Kunststoff und Metalle im Wagen machten ihn nervös.
Obendrein gab es diverse Möglichkeiten, wie der Plan schiefgehen konnte. Die exakt bemessene Benzinmenge im Tank des Fords war nur eine davon.
Es fühlte sich seltsam an, ohne Melissa in ihrem Auto zu sitzen. Angie hatte jedoch drei Bedingungen gestellt: dass sie sich nicht später als elf Uhr trafen, dass sie nicht einmal in die Nä-
he von Bixby fahren würden und dass Rex allein kam.
Er erinnerte sich, wie nervös Angies Stimme am Telefon geklungen hatte. Rex wollte jedoch nicht, dass sie zu nervös war.
Er würde keine Informationen aus der Frau herauskriegen, wenn Gewalt mit ins Spiel kam.
Er fand die Ecke, die Angie angegeben hatte, zwei enge Hintergassen, die zwischen dunklen Lagerhallen aufeinandertrafen, den Beutezeichen menschlicher Armseligkeit – der beste Ort, um Rex verschwinden zu lassen, falls Angie das vorhatte.
Natürlich hätte sich die Familie nicht so viel Mühe gemacht, wenn Rex in ihren Plänen noch eine Rolle spielen würde.
Dennoch war er erleichtert, dass er allein im Auto saß und nicht alle fünf zusammen. Die Grayfoots waren alte Hasen, wenn es darum ging, Leute verschwinden zu lassen.
Angie war bereits da. Sie trug einen knielangen Ledermantel und rauchte eine Zigarette. Sie warf ihm einen verärgerten Blick zu, sah auf ihre Uhr, dann blickte sie sich vorsichtig um.
Als sie auf den Ford zuging, fiel Rex auf, dass er sie noch nie in der normalen Zeit gesehen hatte. In Bewegung und ohne die wächserne Blässe der geheimen Stunde auf der Haut sah sie nicht viel älter als eine Studentin aus.
Er erinnerte sich, dass er den Motor ausstellen musste. Verzögerungen kamen in Dess’ Berechnungen nicht vor.
„Du kommst zu spät“, sagte sie.
„Tut mir leid. Meine Mom ist vorbeigekommen. Musste mich rausschleichen – morgen ist Schule.“
Ihre Augen verengten sich misstrauisch, aber dann gab sie einen rauchgeschwängerten Seufzer von sich. Ein dezenter Hinweis konnte nicht schaden, dass man zuletzt einen Schüler gekidnappt hatte. Rex hoffte, dass Angie nach dem Anblick der toten Anathea draußen in der Wüste noch einmal darüber nachgedacht hatte, wer ihre Arbeitgeber waren. Hoffentlich hatte sie vom Kinderklau die Nase voll.
„Gut, reden wir“, sagte sie. „Aber in genau zwanzig Minuten bin ich hier weg. Mit mir wirst du nichts von diesem Hexenkram anstellen.“
Rex lachte. „Mit welcher Sorte ,Hexenkram‘ rechnest du denn? Wir sind meilenweit von Bixby entfernt.“
„Stimmt, ich weiß wo die Grenzen sind“, sagte sie. „Aber bevor die Grayfoots die Kommunikation mit mir eingestellt haben, hat Ernesto gesagt, dass sich die Dinge ändern würden.“
Rex nickte. Ernesto war Constanzas Vetter – die Familie wusste eindeutig etwas.
„Das ist richtig“, sagte er. „Steig ein, dann sage ich dir, was wir wissen.“
„Was? Zu dir in ein Auto einsteigen?“
Er sah sie gelangweilt an. „Sei nicht so paranoid, Angie.
Midnight findet immer noch um Mitternacht statt, nicht … “
Er sah auf seine Uhr, als ob er die Sache nicht bis auf die Minute geplant hätte. „Um elf Uhr fünfzehn. Und ich werde nicht in der Kälte herumstehen.“ Er zog am Saum seines TShirts. Es war Jessicas Idee gewesen, keine Jacke anzuziehen.
„Also steig ein.“
Ihr nervöser Blick schweifte wieder über die umliegenden Gebäude. „Gut, aber in mein Auto.“
„Vergiss es“, sagte er. „Meine Reifen oder es gibt keinen Deal.“
Rex erwiderte ihren misstrauischen Blick und fragte sich, ob der letzte Satz zu viel gewesen war. Er hatte ihn auf dem Weg hierher geübt, in unterschiedlichen Betonungen, und sich für eine dramatische Pause zwischen „keinen“ und „Deal“ entschieden. Vielleicht hatte er die Sache aber vermasselt. Der Rest des Plans würde nur funktionieren, wenn Angie in Melissas Auto einstieg.
Als er sie jedoch beobachtete, wie sie darüber nachdachte, spürte Rex, dass seine Befürchtungen einem anderen Gefühl Platz machten – jener Gelassenheit, die ihn überkommen hatte, kurz bevor er aus Timmy Hudson Pudding gemacht hatte.
Jetzt konnte er Angies Angst spüren, konnte sie in ihrem Mienenspiel sehen, und er erkannte, dass sie die Wahrheit über die Grayfoots gesagt hatte, die sie ausgeschlossen hatten. Sie verströmte den verängstigten Geruch eines Menschen, den sein Stamm ausgestoßen hatte und der in der rauen Wüste sich selbst überlassen worden war.
Ein erwartungsvolles Kribbeln durchströmte Rex, die gleiche Erregung, mit der er Cassie Flinders’ Spur in der blauen Zeit gefolgt war. Hier war er der Räuber, nicht dieses Menschenkind.
„Entscheide dich, Angie. Lass mich hier nicht rumsitzen.“
Er entblößte seine Zähne. „Wie schon gesagt: Morgen ist Schule.“
Nach einer langen Pause sagte sie: „Okay. Aber wenn du diesen Motor anlässt, schieb ich dir das hier zwischen die Rippen.“ Stahl blitzte in der Dunkelheit auf.
Beim Anblick des Messers spürte Rex, wie ihm ein Teil seines Räubervertrauens entglitt. Er konnte riechen, dass es aus Wolframedelstahl bestand. Bei der bloßen Berührung würde er verbrennen. Rex wollte nicht daran denken, wie sich die Klinge zwischen seinen Rippen anfühlen musste.
Angie wählte den langen Weg um das Auto herum, überprüfte den Rücksitz auf mögliche Überraschungen. Schließlich öffnete sie die Beifahrertür und stieg ein, mit sich trug sie den Duft nach Angst und Zigarettenrauch.
„Weißt du“, sagte er, „wenn man bedenkt, dass du mich gekidnappt hast, finde ich es ziemlich stark, dass du so tust, als ob ich der Böse wäre.“
Sie schnaubte verächtlich und fuhr sich nervös mit den Fingern durch das blonde Haar. „Erspar mir das. Ich weiß, was ihr Midnighter seid.“
„Was sind wir denn? Oberschüler?“
Sie wandte sich ab und sah gebannt durch die Windschutzscheibe auf die verlassene Gasse. „Das Alter macht keinen Unterschied. Ein Monster bleibt immer ein Monster.“
„ Ich soll ein Monster sein?“ Kurzfristig erschauderte er bei dem Wort. Wusste sie irgendetwas über seine Verwandlung?
Angie wandte sich ihm zu und spuckte ihm ihre Worte mit wütender Schnelligkeit entgegen. „Hör zu, Rex, die Familie hat mich nach dem, was vor zwei Wochen passiert ist, zwar ausgeschlossen, aber ich weiß eine Menge über Bixbys Geschichte. Wahrscheinlich mehr als du.“
Rex fiel die Kinnlade hinunter. „Das glaube ich kaum.“
„Gut, sicherlich glaubst du, du wüsstest alles.“ Sie lächelte.
„Vielleicht kennst du ein paar Tricks, weißt, wie man fünfzig Jahre alte Propaganda interpretiert, aber wie die Dinge damals wirklich in Bixby lagen, das weißt du nicht. Du warst nicht dabei. Der alte Kerl, für den ich arbeite, war es aber.“
„Was? Er ist ein … “, hob Rex an, aber er war zu entrüstet, um den Satz zu beenden. Dieser Verräter am Menschen, dieser Grayfootschleimer, dieser Daylighter wollte ihm etwas über die Lehre beibringen? Rex’ Verblüffung stotterte aus ihm heraus wie bei einem alten Auto, das den Geist aufgab.
Er hatte Melissa schwören lassen, dass sie mit Angies Gehirn vorsichtig umging, Rex bezweifelte aber, dass es schwierig sein würde, sie von ihrem Versprechen abzubringen.
„Nachdem sie Bixby befreit hatten“, fuhr Angie fort, „entdeckten die Grayfoots etliches von dem, was ihr Midnighter
,die Lehre‘ nennt. So habe ich gelernt, die Symbole zu lesen.
Ich habe geübt, und zwar an dem ganzen alten Müll über die großartigen Midnighter, die für Wohlstand und Sicherheit in Bixby gesorgt haben.“
„Die Grayfoots haben Bixby befreit?“ Mehr brachte Rex nicht hervor. „Wovon?“
„Komm schon, Rex. Was glaubst du, wie es damals wirklich war? Eine kleine Gruppe von Leuten, die niemand gewählt hat, regiert eine winzige Stadt mitten im Nirgendwo.
Leute, die Gott mit der Zeit spielen konnten, die jedem, der sich ihnen widersetzte, das Hirn zerstören konnten. Hört sich doch großartig an, nicht wahr, Rex, wenn man in so einer Stadt aufwächst?“ Sie hielt inne und sah ihn angewidert an.
„Aber du wärst ja einer von denen gewesen, die das Sagen haben.“
„Den Midnightern geht es aber gar nicht darum, die Gedanken der anderen zu kontrollieren.“
„Soll das ein Witz sein?“
„Sie haben es doch nur getan, um die geheime Stunde geheim zu halten, um die Sicherheit der Stadt zu wahren.“
Angie bellte einen einsilbigen Lacher. „Ab und zu, lieber Rex, solltest du dich mal mit echter Geschichte beschäftigen.
Alle, die Macht leugnen, sagen das Gleiche: ,Wir machen die hässlichen, heimlichen Sachen nur für die Sicherheit der anderen. Wenn wir uns nicht darum kümmern würden, wärt ihr alle verloren.‘“
„Was heißt denn …?“ Er grollte, unfähig, seine Gedanken zu ordnen. „Du hast mich gekidnappt!“
Sie sah weg, atmete langsam aus, und Rex dachte einen Moment lang, er hätte ihre Wut endlich bezwungen. Aber dann wandte sie sich ihm wieder zu und sagte: „Es gab keine andere Möglichkeit, mit den Darklingen in Kontakt zu bleiben. Ohne sie konnten wir euch nicht daran hindern, das alte Bixby wiederherzustellen.“ Sie zuckte mit den Schultern, der dicke Ledermantel knirschte. „Nebenbei bemerkt: Hast du eine Ahnung, wie viel hundert Kinder die alten Midnighter im Laufe der Jahre gekidnappt haben?“
„Was?“, schrie Rex. Aber dann erinnerte er sich an die alten Legenden: Wenn Gedankenleser neugeborene Midnighter in der Umgebung entdeckten, wurden Kriegstruppen ausgesandt, um sie zu entführen. In jüngerer Zeit wurden den Eltern Jobs und Geldsummen angeboten. Rex ertappte sich dabei, dass er zu zweifeln begann – wenn diese Anreize nicht funktioniert hatten, waren die alten Midnighter dann zu härteren Maßnahmen übergegangen? Darüber fand sich nichts in der Lehre, aber vielleicht hatten sie einfach so getan, als wäre das nie passiert?
„Zugegeben“, sagte er, „vor langer Zeit hat es vielleicht Dinge gegeben, die heute seltsam erscheinen, so wie … George Washington und die Sklaverei oder so.“ Rex schüttelte energisch den Kopf. „Aber wir sind nicht so!“
„Ich habe deinen Vater gesehen, Rex“, sagte sie gelassen.
„Hat er das von einem Schlaganfall?“
„Das war … “ Seine Stimme versagte. „Wir waren bloß Kinder.“
Sie verdrehte die Augen. „Genau. Geborene Monster, wie gesagt.“
Sie schwiegen eine Weile. Rex schwirrte der Kopf von allem, was Angie gesagt hatte. Ihr Name in den Symbolen der Lehre am Ende des Briefes hatte zunächst seine Neugier geweckt. Sie war zwar keine Seherin, aber noch jemand, der die Lehre lesen konnte, der die Zeichen der Midnight kannte. Nachdem er aber nur wenige Minuten mit ihr gesprochen hatte, spürte er, wie seine ältesten Sicherheiten zu zerbröseln drohten.
Dachte sie sich das alles aus? Konnte es tatsächlich eine geheime Geschichte hinter der geheimen Geschichte geben?
Er holte tief Luft und sah auf seine Uhr. Das ließ sich nur herausfinden, wenn der Plan eingehalten wurde. Melissa konnte dem auf den Grund gehen.
„Egal wie“, sagte Angie. „Ich bin nicht hierhergekommen, um über Midnighterethik zu reden. Hör einfach auf, so zu tun, als ob ich eine Art Dämon wäre, einverstanden?“
„Einverstanden.“ Rex zwang sich zur Ruhe. Das führte zu nichts, hier herumzusitzen und sich zu fragen, was gewesen war. Vielleicht lag das an dem neuen Räuberanteil in seinem Bewusstsein, der bereitwillig alles glaubte, was über die Menschen gesagt wurde, die es gewagt hatten, die Darklinge zu bedrohen.
Er musste nur dafür sorgen, dass sich der Plan entwickeln konnte. Halte sie hin und sieh zu, dass Angie nervös bleibt.
„Nur eine kurze Frage“, sagte er. „Deine Arbeitgeber, die netten Leute, die Bixby ,befreit‘ haben. Was würden die tun, wenn sie wüssten, dass du hier mit mir redest?“
Sie gab ein kurzes, trockenes Lachen von sich. „Wahrscheinlich würden sie mich in kleine Teilchen zerhacken. Dich vielleicht auch.“
Rex erlaubte sich ein verbissenes Lächeln. Er hatte gehofft, dass sie etwas Derartiges sagen würde. „So viel zum Thema Monster.“
„Ich habe nie behauptet, dass sie vollkommen sind. Weit gefehlt.“ Sie verschränkte die Arme. „Gut, nachdem du morgen zur Schule musst und so, sollen wir unsere gegenseitigen Beschuldigungen hinter uns lassen? Ich habe dir in meinem Brief ansatzweise erzählt, was ich weiß. Vielleicht kann ich dir später mehr erzählen. Aber erst kommst du.“
„In Ordnung.“ Rex sah auf seine Uhr. Er musste immer noch fünfzehn Minuten totschlagen. „Es gab Zeichen, dass sich die blaue Zeit verändert.“
„Die blaue Zeit?“
„Du weißt schon, die geheime Stunde.“ Rex blinzelte. Er hatte vergessen, dass der Begriff „blaue Zeit“ ursprünglich Dess’ Kreation gewesen war – in der Lehre kam er nicht vor.
„Alles wird irgendwie blau, wenn die Zeit anhält.“
Angie sah ihn nur an.
„Was denn?“, sagte er. „Hast du das nicht gewusst?“
„Doch, ich habe die Berichte gelesen. Ich habe mich aber nie an die Vorstellung von euch Midnightern gewöhnt“, sagte sie.
„Geister, die in der geheimen Stunde leben, sind eine Sache, aber menschliche Wesen, die durch die Gegend laufen, während wir anderen erstarrt sind?“ Sie schauderte. „Das ist so gruselig.“
Er gab einen Lacher von sich. „Glaub mir. Die sind gruselig, nicht wir. Du magst viel über die Darklinge gelesen haben.
Aber ich habe sie gesehen.“
„Du hast ihre Worte nicht gelesen“, sagte sie. „Aber ich.“
Rex schwieg eine Weile. Das stimmte – Opa Grayfoot hatte etwas zustande gebracht, was keinem Seher bislang gelungen war. Er hatte mit dem Feind kommuniziert.
Aber jetzt hatte Rex ihn überholt – er hatte sich mit einem Darkling von Angesicht zu Angesicht ausgetauscht. Wieder erwog er, sich in die Wüste hinaus zu begeben, sich mit den alten Geistern dort draußen zu treffen, um zu erfahren, was sie von dieser ganzen Geschichte hielten.
Na, das würde Hirnakrobatik werden … wenn sie ihn nicht vorher umbrachten.
Als Rex aus dem Fenster sah, entdeckte er einen Wagen, der am Ende der Gasse vorbeisauste. Er schluckte und sah noch einmal auf seine Uhr. Sie waren zu früh.
Angie hatte aber nichts gesehen.
„Ist auch egal“, sagte er. „Wenn die Zeit anhält, wird alles blau. Aber in der vergangenen Woche ist etwas wirklich Seltsames passiert. Etwas, worüber ich in keiner Lehre was gefunden habe.“
„Ein Zeitbeben.“
Er sah sie an. „Ein was?“
„Eine spontane Verschiebung der Primärkontorsion. Bei der Energien freigesetzt werden, die sich über die Jahrhunderte aufgebaut haben.“
„Äh, genau.“ Er trommelte mit seinen Fingern auf dem Sitz.
Primärkontorsion? Vielleicht hatte Angie tatsächlich ein paar Sachen gelesen, die er nicht kannte? „Wir haben es als Finsternis bezeichnet. Vielleicht ist es aber auch eher wie ein Beben, eine Warnung, dass Größeres bevorsteht.“
„Und deshalb sind an sämtlichen Grayfoothäusern letzte Woche Verkaufsschilder aus dem Boden geschossen?“
Er nickte. „Wir glauben, dass sich die blaue Zeit ausbreitet, plötzlich und ohne große Vorwarnung groß genug wird, um Broken Arrow zu schlucken.“
Sie starrte ihn eine Weile an, dann sagte sie. „Mensch. Kein Wunder, dass sie abhauen. Wann?“
Er schüttelte den Kopf und grinste. „Ich glaube, diese kleine Information hebe ich mir auf, bis du mir mehr erzählt hast. Zum Beispiel wann die Grayfoots Broken Arrow verlassen.“
„Also, da bin ich mir nicht hundertprozentig sicher“, sagte sie. „Es gibt aber etwas, worüber sie alle schon eine Weile geredet haben.“
„Und das wäre?“
Plötzlich flutete Licht durch das Innere des Wagens.
„Was zum Teufel …?“ Angie drehte sich um und sah nach hinten.
Rex kniff die Augen zusammen, als er in den Rückspiegel sah. Ein Scheinwerferpaar war am Ende der Gasse aufgetaucht. Jonathan und Dess, ihr Idioten, dachte er. Könnt ihr keine Uhr lesen?
Sie waren viel zu früh.
Es gab aber nur eine Lösung: den Plan einhalten. Er ließ den Motor an.
„Was zum Teufel machst du da?“, schrie Angie.
„Die sind hinter uns her“, sagte er. Die Scheinwerfer kamen schnell näher. „Sie müssen dir gefolgt sein!“ Er legte den Gang ein und rollte die Gasse hinunter.
„Oh Himmel! Lass mich raus!“ Sie machte die Tür auf. Rex trat aufs Gas, worauf die Tür mit einem hässlichen Geräusch gegen eine Mülltonne krachte und mit einem dumpfen Laut zuschlug. Tut mit leid, Melissa, dachte er.
„Das schaffst du nie bis zu deinem Auto!“, rief er. „Halt dich einfach fest. Ich hole uns da raus.“
Er raste die Gasse hinunter und bog in die erste Straße auf Dess’ Karte ein. Als er das Lenkrad einschlug, quietschten die frisch befüllten Reifen des Fords auf dem Asphalt.
Die Scheinwerfer schwenkten hinter ihnen aus der Gasse und klebten an ihnen.
Ziemlich überzeugend, Flyboy.
„Ich weiß nicht, ob ich schneller bin als sie“, sagte er. „Diese Karre ist ziemlich alt.“
„Na bravo! Weißt du, meiner fährt ziemlich schnell!“
„Woher sollte ich wissen, dass du Gesellschaft mitbringst!“, rief er. „Ich fahre zum Highway.“
Er erreichte den Highway 75 und bog nach Westen ein, der Ford fuhr inzwischen 120 Stundenkilometer. Dies war der kniffligste Teil des Plans. Die Geschwindigkeitsbegrenzung zu übertreten war schlimm genug, da in Bixby mittlerweile Sperrstunde war. Wenn aber noch eine Finsternis – oder ein Zeitbeben oder eine Verschiebung der Primärkontorsion – plötzlich eintreffen würde, würde Rex wie ein Geschoss durch die Windschutzscheibe fliegen.
„He! Hier geht es nach Bixby!“ Das Messer blitzte in Rex’
Augenwinkel auf – er roch Edelstahl.
„Au Scheiße.“ Er schluckte, seiner Stimme einen verängstigten Klang zu verleihen, fiel ihm nicht schwer. „Hab einfach automatisch den Heimweg eingeschlagen. Sorry.“
Er hörte ein Grollen in ihrem Hals aufsteigen, bis jetzt spürte er aber noch kein brennendes Messer zwischen den Rippen.
„Pass auf“, sagte er, „vor Bixby gibt es keine Abfahrt mehr außer der Umgehungsstraße. Die können wir nehmen und durch Saddleback fahren.“
„Versuch nicht, mich zum Narren zu halten, Rex. Das ist innerhalb der Kontorsion!“
„Stimmt, aber wir können geradeaus durch und am anderen Ende aus dem Bezirk wieder rausfahren. In zehn Minuten wirst in der blauen Zeit drin und wieder draußen sein.“
„Verdammt, Rex … “ Sie sah auf ihre Uhr.
„Vielleicht haben die Grayfoots zu viel Angst und trauen sich nicht hinter uns her!“
Angies Stimme hörte sich plötzlich sehr ruhig an. „Gut, fahr weiter. Wir haben noch nicht halb zwölf, sodass du mich vor Mitternacht rausbringen kannst. Wenn du aber irgendwo in dem Bezirk anhältst, Rex, ich schwöre dir, dann bring ich dich um.“
„He, hör auf, dem Fahrer zu drohen. Ich halte nicht an, okay?“
Es sei denn, mir würde zufällig das Benzin ausgehen.
Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung, und das schimmernde Messer verschwand.
Rex atmete erleichtert auf. Die Dinge entwickelten sich mehr oder weniger nach Plan. Jonathan und Dess waren vielleicht ein bisschen zu früh aufgetaucht, aber wenigstens hatte ihn Angie noch nicht abgestochen.
„Sie holen auf“, verkündete sie.
Er sah in den Rückspiegel. Volltrottel. Sie sollten nicht überholen oder Rex zwingen, schneller als hundertzwanzig zu fahren, womit er die Bullen wie Fliegen anziehen würde.
Konnten Jonathan und Dess gar nichts richtig machen?
„Wie gesagt, die Grayfoots werden uns nicht nach Bixby verfolgen. Korrekt?“
„Wenn sie wissen, dass ich mich mit einem Midnighter treffe, machen sie vielleicht eine Ausnahme.“
„Vielleicht aber auch nicht.“ Rex trat das Gaspedal ein bisschen weiter durch, um überzeugend zu wirken. Der Motor des alten Fords gab ein Knirschen von sich, und Rex hoffte, dass er Dess’ Berechnungen nicht allzu sehr verfälschte.
Am meisten Sorge bereitete ihm jedoch die Frage, ob Angie durchdrehen würde, wenn ihm direkt in der Mitte des am wenigsten befahrenen Teils von Bixby das Benzin ausging.
Rex fluchte still vor sich hin. Es wäre besser gewesen, wenn Dess und Jonathan zehn Minuten später aufgetaucht wären.
Wie die Dinge lagen, hatte Angie zu viel Zeit bis Mitternacht, um sich zu fragen, ob die ganze Sache eingefädelt worden war.
Oder sie hatte Glück und wurde von einem vorbeifahrenden Auto mitgenommen.
Den Blick immer noch nach hinten gerichtet, fluchte sie.
„Jetzt sind es zwei.“
„Hä? Zwei was?“
„Zwei Wagen, die uns verfolgen, du Schwachkopf.“
„Wie kann das …? Au Mist!“, rief er. Das musste die Polizei sein. „Hat einer von beiden ein Blaulicht obendrauf?“
„Nein, sind beides schwarze Mercedes. Grayfoot-Standardausgabe.“
„Mercedes …?“
Wenige Sekunden später gab Rex aus purer Verblüffung einen erstickten kleinen Lacher von sich. Auf der anderen Seite des Highways fuhr pünktlich auf die Minute der Wagen von Jonathans Vater vorbei. Wie vorgesehen mit Jonathan hinter dem Steuer und Dess auf dem Beifahrersitz, deren überraschte Gesichter kurz zu erkennen waren, als sie vorbeirasten.
„Hoppla“, sagte Rex leise.
„Was ist?“
„Du hast dich tatsächlich von den Grayfoots verfolgen lassen!“
„Ich dachte, das hätten wir bereits festgestellt“, sagte Angie.
„Sie kommen näher! Fährt diese Kiste nicht schneller?“
„Kann schon sein“, sagte Rex und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
Er warf einen Blick auf die Tankanzeige, deren Zeiger knapp über Null stand.
Aber nicht mehr lange.