die alten

12.00 Uhr Mitternacht

17

Wie Spinnennetze hingen sie über ihm. Ihre Tentakel schlängelten gen Himmel, Silhouetten vor dem Mitternachtsmond, die aus seinem dunklen Licht Energie zu tanken schienen. Andere Stränge verankerten sie im Wüstenboden oder wanden sich um die Hälse von Darklingen, wie Leinen an riesigen Panthern. Die Wesen schienen weder Kopf noch Körper zu haben, nur eine platte Mitte, aus der die Greifarme entsprangen.

Rex fragte sich, ob die Darklinge ursprünglich so ausgesehen hatten, bevor sie in die Gestalten von menschlichen Albträumen geschlüpft waren. Sicher waren das die Alten, die Melissa immer in der Wüste gespürt hatte. Er schmeckte modrige Kreide, genau wie sie beschrieben hatte, als ob er den Mund voll hätte mit den Überresten von Wesen, die lang verstorben und zu Staub zerfallen waren.

Einer von ihnen war durch die Wüste zu ihm gekommen, mit Armen, die wie Fäden glitzerten, prachtvoll aus weiter Ferne für die Augen des Sehers zu erkennen. Er hatte gewusst, dass er ihm folgen musste – das Wesen konnte mit seinen langen Armen durch Dess’ Schutzwälle greifen und hatte unwiderstehlich an seine Darklinghälfte appelliert.

Insofern hatte er kommen wollen, auch mit seiner menschlichen Hälfte. Nach allem, was Angie ihm erzählt hatte, erkannte Rex, wie unvollkommen und lückenhaft die Lehre wirklich war. Wenn es einen Weg gab, zu verhindern, was passieren sollte, dann würden ihn diese alten Geister kennen.

Es gab drei von ihnen, mit je sechzig Fuß Spannweite und einem Gefolge von weiteren dutzenden Kreaturen in Albtraumgestalten: blasse Schlangen und aufgedunsene Spinnen, Schnecken, aus denen schwarzes Öl triefte, und allesamt reglos, wie Hörige der Alten, die über ihnen schwebten. Flügellose Gleiter pulsierten zu seinen Füßen am Boden, wie eine Eruption von Erdwürmern, die den kargen Boden umgruben.

Nie war sich Rex so klein vorgekommen.

Wie hatte er jemals glauben können, er wäre ein halber Darkling? Nur ein winziger Teil von ihm hatte sich verwandelt, einen Bruchteil an Stärke gewonnen, genügend Mut, um seine armselige, menschliche Wut auszudrücken. Diese Wesen waren so viel stärker, als er jemals werden würde. Rex sah sich außerstande zu sprechen. Sein menschlicher Teil hatte sich entsetzt in einem Winkel seines Verstandes verkrochen, ihre Finsternis ließ sich wie ein Bleituch auf ihm nieder.

Und was hätte er auch tun sollen? Hallo sagen?

Eine flüssige Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Eines der langen Tentakel der Wesen näherte sich, glitt wie eine Schlange über den Wüstenboden. Rex beobachtete mit Schrecken, wie es auf seinen Stiefel zuschlängelte, sich leicht wie Federn um sein Bein legte. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich dagegen, aber er konnte sich nicht rühren.

Kälte breitete sich in ihm aus, und eine dürre Stimme …

Der Winter kommt.

Rex wollte seinen Mund öffnen, um etwas zu sagen, aber seine Zähne waren so fest zusammengebissen, dass er fürchtete, sie könnten abbrechen. Er gab ein Knurren von sich, zog seine Lippen auseinander und zwang seine Zunge, Worte in seinem gefesselten Mund zu formen.

„Was wird geschehen?“

Wir werden wieder jagen. Komm zu uns.

„Nein“, sagte er.

Wir sind hungrig.

Bilder explodierten in Rex’ Kopf, von allen Rüpeln, die ihn je gepeinigt hatte, allen Schlägen seines Vaters, den Spinnen, die auf seiner blassen, nackten Haut entlangkrochen. Alle alten Ängste traten aus seiner Erinnerung hervor und zerrten am Fundament seines menschlichen Teils. Plötzlich wusste er, dass er versagt hatte. Die Lehre, die er sich selbst angeeignet hatte, bestand aus lauter Lügen. In all der Zeit war er ein blinder Seher gewesen, ein Schwindler.

Lachend zeigten ihm die Alten die bevorstehende Wandlung, wie die blaue Zeit aufreißen und den uralten Hunger der Darklinge entfesseln würde.

„Nein“, stieß er erschöpft hervor. „Ich werde euch aufhalten.“

Ein Schaudern regte sich unter den Kreaturen.

Du kannst uns nicht drohen.

Rex’ Körper erstarrte plötzlich, als ob etwas an ihm ziehen würde, um seinen Verstand weit aufzureißen. All seine Sinne wuchsen ins Tausendfache. Er nahm die Welt kristallklar wahr, bis zu den Sternen am Horizont, noch viel perfekter als mit seinem Seherblick. Er konnte sein eigenes Blut hören, das wie ein Tross LKWs durch seinen Körper rauschte. Und er schmeckte die blaue Zeit, Asche und Verfall auf seiner Zunge.

Mehr Bilder strömten in ihn hinein – von einer Welt im Tempo der Darklinge, Jahreszeiten rasten vorbei, nur eine von fünfundzwanzig Stunden sichtbar, und jeder Tag währte fast einen Monat. Er sah, wie die Alten die Primärkontorsion schufen, die geheime Stunde, die unter der Last all der fehlenden Zeit ächzte. Sie fing an zu bröckeln, ein beständiger Rhythmus aus Finsternissen, bis sie zerspringen würde. Und dann konnte die Jagd beginnen.

Wenn nicht … Rex sah den plötzlichen Blitzschlag, wie der Druck von Jahrtausenden freigesetzt wurde, sich auf der Erde ausbreitete, und der Riss verschwand.

„Wir können das aufhalten“, flüsterte er.

Sie kann. Sie musst du nehmen.

„Nein.“

Mehr Bilder, seinen Jagdträumen ähnlich, aber um ein Vielfaches lebendiger. Er sah einen Haufen brennender Knochen, menschliche Gestalten mit gehörnten Masken. Er spürte die Erregung einer wilden Jagd, roch die Angst der Beute, schmeckte das warme Leben beim Erlegen. Rex spürte, wie er sich an Fleisch weidete.

Sein Magen zog sich widerstrebend vor der Vision zusammen. Am meisten entsetzte ihn jedoch, wie erfüllt er sich dabei fühlte, wie gesättigt. Und wie mächtig. Als Rex Greene war er in einem schwachen und kleinen Körper gefangen, der verfiel, wenn er alterte, und in lächerlich kurzer Zeit sterben würde.

Aber die Alten boten ihm Jahrmillionen.

Er musste nur von seiner Menschlichkeit ablassen. Dann konnte er an dem Fest teilnehmen.

Nimm sie einfach. Nur du kannst sie zur Strecke bringen.

Er schüttelte den Kopf, kämpfte mit seiner zerfetzten Menschlichkeit dagegen an. Dann stieg eine tief vergrabene Aversion aus seiner Erinnerung auf, eine, die Dess ihn vor langer Zeit gelehrt hatte.

Komm zu uns, lockten sie ihn.

„Unüberwindbar“, spuckte Rex ihnen krächzend zu. Bei der Anstrengung platzte ihm fast der Kopf, aber die Alten lockerten ihren Griff noch einmal vor Entsetzen schaudernd.

Dann weg mit dir.

Erstaunlich plötzlich ließen die Kreaturen von ihm ab. Rex spürte, wie seine Muskeln nachgaben, und er strauchelte wie eine fallen gelassene Stoffpuppe, der Kampf hatte seinen Verstand all seine Willenskraft gekostet. Sie hatten aufgegeben. Irgendwie hatte er sie besiegt.

Rex schlug die Augen auf und realisierte, dass er mit dem Gesicht nach unten in der Wüste lag, den Mund voller Erde, mit schmerzendem Kiefer. Trotzdem musste er lächeln. Die Darklinge hatten ihm etwas von der bevorstehenden Jagd gezeigt … etwas Wichtiges.

Als sich der Trupp der Albtraumkreaturen entfernte, spürte Rex jedoch, wie sein Hirn arbeitete und seine Sinne wieder ganz und gar menschlich wurden. Wie ein großes Maul, das sich um ihn schloss, verschluckte Dunkelheit das neue Wissen und ließ nur unzusammenhängende Bilder und Gerüche und den staubigen Geschmack in seinem Mund zurück.

Bis die Alten am Horizont verschwunden waren, konnte er sich kaum mehr erinnern, was überhaupt geschehen war.