samhain

11.56 Uhr nachts

21

Jede Nacht schien es länger zu dauern, bis die geheime Stunde da war.

Jonathan trommelte mit den Fingern auf seiner Fensterbank und wartete, dass sich der kalte Wind legte, die Farben zu Blau zusammenliefen, endlich Schwerelosigkeit in ihn hineinfloss. Er sah nicht auf die Uhr, die nie funktionierte. Wenn man wusste, wie viele Minuten man noch im Flächenland zubringen musste, wurde die Tortur nur schlimmer.

Diese Spannungen direkt vor Mitternacht waren immer die schlimmsten. Jonathan wollte jetzt da draußen sein, über die stillen Autos und sanft leuchtenden Häuser sausen, spüren, wie ihn seine Muskeln über die Stadt beförderten.

Zeit totschlagen – Zeit anschieben – er zählte die restlichen Tage an den Fingern ab. Heute war Donnerstagnacht, morgen war Freitag, genau zwei Wochen bis Halloween. Wenn Dess recht hatte, würde er diese Warterei nur noch fünfzehn Mal ertragen müssen, heute Nacht eingeschlossen.

Und dann wäre er die Schwerkraft endgültig los.

Er schloss die Augen. Jonathan wusste natürlich, dass der Zusammenbruch der blauen Zeit eine Katastrophe war: Die Darklinge würden Menschen zu tausenden erlegen können, vielleicht sogar mehr. Sein Vater, seine Mitschüler, alle, die er kannte, waren in höchster Gefahr.

Einen Gedanken wurde er aber nicht los: Egal wie lang die erstarrte Mitternacht dauern würde, Flächenland würde angehoben werden, die Welt würde drei Dimensionen bekommen.

Einen schuldbewussten Augenblick lang gab sich Jonathan der angenehmen Seite des Gedankens hin – endlose Tage fliegen, so weit sich die blaue Zeit ausdehnen würde.

Vielleicht würde sie die ganze Welt schlucken.

Endlich kam die Midnight und riss ihn beinahe überraschend aus seinen Träumen. Die Erde ruckelte, entließ seinen Körper aus ihrem Griff, die Ketten der Schwerkraft fielen endlich ab. Er schwebte aufwärts, holte tief Luft, bis seine Rippen knackten. Nur um Mitternacht hatte er das Gefühl, dass sich seine Lunge vollständig füllte, wenn sie von dem beklemmenden Gewicht seines eigenen Körpers befreit war.

Sich schuldig zu fühlen, weil er sich so freute, war verrückt.

Er konnte nichts dafür, wenn die Welt unterging.

Jonathan setzte gekonnt durch das Fenster über das Auto seines Vaters auf das Dach des Nachbarn. Sein rechter Fuß landete dort auf der üblichen Stelle, wo ein Ring gesprungener Dachziegeln den Startpunkt seiner nächtlichen Flüge markierte.

Dann stieß er sich in Jessicas Richtung ab, und seine Gedanken kehrten immer wieder an den einen Punkt zurück …

Nur noch zwei Wochen mit Schwerkraft, und dann bin ich frei.

„Okay, Leute“, sagte Rex. „Madeleine ist gestern Abend in mein Hirn eingedrungen.“

Jonathan stöhnte. Sie hatten sich alle fünf in Madeleines Haus getroffen, wo sie an ihrem verkratzten Esstisch saßen, umringt von aufgehäuften Tridekagrammen und anderen wirren Formen. Die alte Frau war diese Nacht aber nicht aufgetaucht, und Rex hatte sich so angehört, also ob sie nicht nach unten kommen würde. War sie nicht zu Hause?

Wo sollte sie um Mitternacht sonst sein?

„Du hast dich echt von ihr berühren lassen?“, fragte Dess.

„Melissa war dabei, um mich zu schützen“, sagte Rex.

Jonathan sah Jessica an, und beide zogen vorsorglich die Köpfe ein und warteten auf die unvermeidliche hässliche Antwort. Aber Dess hustete nur hinter vorgehaltener Faust und verdrehte die Augen. Die Schramme über ihrem Auge, die ihr der Darkling verpasst hatte, hatte die gleiche unheimliche Form wie eine in Melissas Gesicht.

Jonathan war froh, dass sie den Mund hielt. Heute Abend war Rex auch ohne Provokation beängstigend genug. Seine Miene wirkte irgendwie leer, als ob in seinem Inneren eine Kreatur sitzen würde, die für Halloween eine Rex-Maske aufgesetzt hatte.

Er sah tagsüber schon ziemlich abartig aus, aber in der geheimen Stunde konnte man den neuen Rex kaum aushalten.

„Die Darklinge erinnern sich an Samhain“, sagte Rex.

„In den Geisterferien geht’s dann also richtig ab, oder?“, fragte Dess kopfschüttelnd.

„Das sind keine Geisterferien“, sagte Rex. „Halloween kam von den Christen. Samhain war keltisch.“

„Christen?“, wiederholte Dess, dann stöhnte sie. „Nein, Rex, die mein ich nicht. Ich meine die schwarz verkleideten Kids.“

„Äh, Dess“, mischte sich Melissa ein. „Schau mal in den Spiegel.“

„Die Farbe dieses Kleides heißt Charcoal“, sagte Dess.

„Vermutlich hatten die Christen auch so was wie Samhain“, fuhr Rex fort. „In vielen Kulturen gibt es Ende Oktober ein Fest. Allerheiligen. Das sogenannte Schattenfest. Der Tod der Sonne.“

Jessica zog eine Augenbraue hoch. „Schattenfest? Klingt irgendwie … feierlich.“

Dess gab einen tiefen Seufzer von sich. „Warum reden wir überhaupt davon? Dieser ganze heidnische Kram kommt aus der Alten Welt, aber hier in Oklahoma ist Halloween nur ein Vorwand, um lauter Süßkram und Kostüme an kleine Kinder zu verkaufen. Angie hatte recht, die Darklinge haben sich lange vor der Ankunft irgendwelcher Europäer versteckt.“

Jonathan räusperte sich. „Das ist keine rein europäische Angelegenheit, Dess. Kennst du den Tag der Toten unten in Mexiko? Der findet zwar am selben Tag wie Halloween statt, aber die Eingeborenen hatten um die Zeit auch schon einen Feiertag.“

Rex nickte. „Und einige Native Americans hatten um die Zeit Feste, an denen sie The Old Crone gefeiert haben.“

Dess lachte. „Entschuldige mal, Rex. Old Crone?“ Sie blickte von einem zum anderen. „Und was waren das noch für welche? Schattenfest? Tod der Sonne? Morgendämmerung der Toten? Geht das nur mir so, oder hören die sich alle so leicht verkrampft gruselig an?“

„Natürlich tun sie das“, sagte Rex, dessen beängstigende Maske von ihrer Fopperei unberührt blieb. „Sieh dir die kahlen Bäume draußen an, den grauen Himmel, das verdörrte Gras überall. Das Wort Samhain ist keltisch und bedeutet Sommerende. Der Anfang vom Winter.“ Plötzlich hörte sich Rex’ Stimme ausgetrocknet an, als ob er ein paar Tage ohne Wasser draußen in der Wüste verbracht hätte. „Wenn das Licht ausgeht. Der Übergang von warm zu kalt.“

Alle schwiegen eine Weile, selbst Melissa sah aus, als ob Rex sie erschreckt hätte. Jonathan hörte über seinem Kopf Dielen knarren. Madeleine war also doch da. Aber warum versteckte sie sich da oben?

Er sah Melissa an und fragte sich, was zwischen den dreien in der vergangenen Nacht wirklich passiert war.

Dess unterbrach die Stimmung mit einem verzweifelten Stöhnen. „Hier geht es nicht um Geister und Gespenster, Rex, hier geht es um Zahlen. Der elfte Monat plus eins gibt zwölf.

Das ist alles.“

Jonathan runzelte die Stirn. Damals in Philadelphia hatte ihn seine Mutter an All Hallows’ Eve immer mit in die Kirche genommen. Bei der katholischen Version von Samhain hatte er auch schon Zustände gekriegt.

„Rex, sag uns eins“, fragte er. „Damals, bevor Halloween so nett geworden ist, was hatte es da mit Samhain auf sich?“

„Na ja, ob du’s glaubst oder nicht, die Leute haben sich wirklich verkleidet“, erklärte Rex. „Aber in der Hauptsache haben sie Freudenfeuer angezündet. Sie haben alles verbrannt, was sie hatten, sogar die Knochen ihrer geschlachteten Tiere, in der Hoffnung, die Nacht noch ein bisschen länger hinauszuzögern. Samhain kennzeichnet die bevorstehende Finsternis.“

„Aber hallo“, sagte Dess. „Das wäre mal ’ne scharfe Grußkarte: ,Alles Gute zur bevorstehenden Finsternis für dich und deine Familie.‘“

„Da gebe ich dir recht“, sagte Rex. „Klingt nicht nach der besten Jahreszeit für einen Feiertag. Aber aus irgendeinem Grunde war das Eintreffen der Finsternis gar nicht so schlecht.“

„Sag ich doch: Gespensterfeiertag“, murmelte Dess.

„Trotzdem sind überall in der Geschichte um diese Zeit Feste verzeichnet“, fuhr Rex fort. „Aber was haben sie gefeiert?

Denkt mal nach. Damals muss der Winter eine ziemlich beängstigende Jahreszeit gewesen sein.“

„Weil alle verhungert sind?“, fragte Jonathan.

Rex’ Gesicht verzog sich zu so etwas wie einem Lächeln.

„Alle außer den Darklingen. Ihr wisst doch, schon bevor die geheime Stunde erschaffen wurde, haben Darklinge nachts gejagt. Im Winter werden die Nächte länger und länger. Insofern waren die Freudenfeuer ursprünglich nicht symbolisch gemeint. Sie sollten die Jäger so lange wie möglich fernhalten.“

Bei Rex’ begeistertem Gesicht fing Jonathan an zu frieren.

Seine Augenlider flatterten, als ob er sich mit Darklingerinnerungen gedopt hätte.

Jonathan räusperte sich. „Stimmt, Rex. Kein normaler Mensch würde so was feiern.“

„Nein. Aber irgendwann vor langer Zeit an einem Samhain wurde alles anders. Die Darklinge sind nie wieder aufgetaucht, auch nicht, nachdem die Freudenfeuer heruntergebrannt waren. Sie hatten sich in die Midnight zurückgezogen. Insofern änderte sich die Bedeutung der Freudenfeuer. Statt einer letzten Überlebensmaßnahme wurden sie jetzt zu einem Festakt.

Halloween ist der Jahrestag des Beginns der geheimen Stunde, der Tag, an dem die Menschheit endlich den Platz an der Spitze der Nahrungskette eingenommen hat.“

Dess richtete sich auf. „Hm. Dann macht diese ganze Historiensache tatsächlich Sinn. Will sagen, wenn die Darklinge wirklich am 31. Oktober verschwunden sind, dann ist klar, warum das im alten System so ein gutes Datum war. Es war der Tag, an dem endlich alle für immer in Sicherheit waren.“

„Nicht für immer“, sagte Rex.

„Stimmt ja.“ Dess’ Stimme wurde leiser. „Der erste November wird von heute an ein Darklingfeiertag sein, oder?“

Er nickte. „Sie werden die Nahrungskette wieder umdrehen.

Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Die lange Midnight wird nicht ewig dauern – nur fünfundzwanzig Stunden, einen Tag nach der alten Zeitrechnung.“

Jonathan wusste, dass er erleichtert sein müsste, aber irgendwo tief innen drin fühlte er einen kleinen Stich der Enttäuschung.

„Okay, Rex“, sagte Dess. „Und wo sind die schlechten Nachrichten?“

„Die lange Midnight wird jedes Jahr an Halloween stattfinden, der Riss mit jedem Mal größer werden. Von jetzt an sind*

Menschen das Bonbon.“

Jonathans Enttäuschung legte sich ein wenig. Jedes Jahr einen ganzen Tag.

„Und was unternehmen wir dagegen?“, fragte Jessica. „Darum ging es doch bei deiner Entscheidung, mit den Darklingen zu reden? Um einen Weg zu finden, wie wir das stoppen können?“

Rex antwortete nicht sofort, sein Gesicht sah seltsam ungerührt aus. Jessica warf Jonathan einen Blick zu, der nur mit den Schultern zuckte. Ihm fiel auf, dass ein Teil von ihm fürchtete, der Seher könnte bereits einen Plan haben, etwas, womit er die geheime Stunde in die Flasche zurückschieben könnte. Was natürlich eine gute Sache wäre, bei der mindestens tausend Leben gerettet würden.

Das würde aber auch bedeuten, dass Jonathan niemals länger als eine Stunde am Tag fliegen könnte …

Endlich sagte Rex etwas. „Wir werden versuchen, es zu verhindern, tun, was wir können. Wenn es so weit ist, werden wir Leute zusammentrommeln und ihnen beibringen, wie sie sich selbst verteidigen können.“

„Äh, Rex?“, meldete sich Jessica. „Was ist mit dem Vorsatz, die geheime Stunde geheim zu halten?“

„Machen wir nicht mehr. Nach der langen Midnight wird uns das sowieso nicht mehr gelingen.“ Er senkte den Blick auf die Tischplatte. „Und nach allem, was wir in Madeleines Kopf gestern gesehen haben, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich uns Midnighter nicht mehr im Schatten stehen lassen will.“

Eine Weile schwiegen alle, während sich die Vorstellung von einer nicht mehr geheimen blauen Zeit allmählich durchsetzte.

Jonathan fragte sich noch einmal, warum sich die alte Gedankenleserin nicht bei ihnen hier unten aufhielt. Im Moment gab es jedoch dringendere Fragen, dachte er sich. „Und wie wollen wir eine ganze Stadt in einer einzigen Nacht organisieren?“

Rex schüttelte den Kopf. „Das weiß ich noch nicht.“ Er wandte sich an Jessica. „Erinnerst du dich, dass Angie meinte, Samhain hätte was mit dem Flammenbringer zu tun?“

„Logo“, antwortete sie. „Konnte man irgendwie kaum vergessen.“

„Also, ich habe ein paar Ideen, wie der Riss funktioniert.

Und die haben mit dir zu tun. Wir müssen aber ein paar Experimente durchführen. Ich will, dass wir uns alle morgen früh in Jenks treffen. Um halb sieben.“

Dess prustete. „Moment mal, Rex. Jetzt kommt eine um halb sieben morgens? Davon hat mir keiner was gesagt.“

„Aber echt“, pflichtete Jonathan ihr bei.

Rex erhob sich von seinem Stuhl, plötzlich unmenschlich groß, seine Körpergröße schien bis zur Decke zu reichen. Seine Gesichtszüge verwandelten sich, die Augen wurden lang und groß wie bei einem Wolf und brannten violett. Seine Hände schlugen auf die Tischplatte, wie Klauen gekrümmt, dann kratzten sie in einer einzigen, langsamen, bedächtigen Bewegung über das Holz, seine Fingernägel blieben an jeder unebenen Stelle hängen.

Jonathan schluckte – die Kreatur war hinter der Maske hervorgetreten.

„Glaubt ihr, wir könnten Zeit mit Schlafen verplempern?“, sagte Rex mit einer Stimme, die sich kalt und trocken und uralt anhörte. „Tausende werden getötet, und für einige wird es schlimmer sein als der Tod. Die Alten werden sie zuerst aussaugen, jeden Tropfen Angst aus ihnen heraussaugen. Sie sind hinter euch her, seht ihr das nicht?“

Er stand da, starrte sie alle an, während sich das Haus mit den Echos seiner Worte füllte, wie Geflüster, das aus allen Ecken hervortrat. Jonathan glaubte zu sehen, wie das Gerümpel um sie herum einen Moment lang heller leuchtete, ein kaltes Feuer, das von den scharfen Kanten des blassblauen Metalls ausging.

Von oben hörte man so etwas wie ein Schluchzen, als ob Madeleine im Traum aufheulen würde, aber Jonathan traute sich nicht, hochzusehen. Zu viert starrten sie Rex wie betäubt und schweigend an. Seine plötzliche Verwandlung hatte anscheinend selbst Melissa überwältigt.

Es dauerte lange, bis er sich wieder setzte und tief Luft holte. „Ich weiß, das ist hart. Aber ihr könnt euren Schlaf nach Halloween nachholen.“

Seine Stimme hörte sich wieder normal an, trotzdem saßen sie alle noch verblüfft da. Jonathan hätte gern etwas gesagt, irgendetwas, um das Schweigen zu brechen. Aber das ganze Repertoire seiner Sprache – Begrüßungen, Verabschiedungen, Witze, sinnloses Geplapper – war anscheinend aus seinem Hirn geflohen.

Rex war plötzlich so außerirdisch. Als ob man mit einer Schlange plaudern wollte.

Schließlich räusperte sich Dess. „Na dann. Treffen wir uns sechs Uhr dreißig.“

Jessica sah Jonathan an und formte die Worte: Gehen wir.

Damit hatte Jonathan kein Problem. Ein paar anständige Flugstunden waren genau das, was er jetzt brauchte. Die Glieder strecken und von der Erde wegzusausen, so weit weg wie möglich von Rex mit seiner Abartigkeit.

Er dachte aber noch daran zu fragen: „Melissa, braucht ihr beiden vielleicht jemanden, der euch da rausbringt? Wo dein Auto doch kaputt ist.“

Sie sah Rex an, der verneinend den Kopf schüttelte, aber sonst nichts mehr sagte.

Spitze, dachte Jonathan. Vielleicht fliegen sie mit einem von seinen Darklingkumpels raus.

Es war noch Zeit, also machten sie sich auf den Weg in Richtung Stadtmitte.

„Was ist denn bloß mit Rex los?“, fragte Jonathan leise, nachdem sie Madeleines Haus weit hinter sich gelassen hatten.

„Frag mich nicht“, antwortete Jessica, die seine Hand drückte. „Ist dir aufgefallen, was er zum Schluss gesagt hat:

,Sie sind hinter euch her‘?“

„Womit wir gemeint sind – er nicht. Klingt aber auch logisch. In letzter Zeit versteht er sich gut mit den Darklingen.“

Jonathan wartete ab, bis sie vom Dach eines Trucks auf der Kerr Street abgefedert waren, dann fügte er hinzu: „Ich glaube aber, wir sind in Sicherheit, du und ich.“

„Na, da fühle ich mich ja gleich viel besser.“

Er sah sie an. „Ich meine bloß, wir sind sicher, solange wir zusammenhalten.“

Sie sagte nichts und drückte noch einmal seine Hand.

Sie erklommen die Gebäude der Innenstadt wie Trittsteine, in großen Sprüngen auf die Spitze des alten Mobil-Gebäudes zu. Dort hatten sie sich verborgen, bevor Jessica ihr Talent entdeckte, damals, als die Darklinge sie unbedingt töten wollten.

Jonathan blickte über Bixby hinweg, das im gleichmäßigen, tiefblauen Leuchten der geheimen Stunde vor ihnen lag. Er schaute in Richtung Jenks, versuchte, den Riss zu entdecken, der rote Schimmer zeigte sich aber nicht am Horizont.

Jedenfalls noch nicht. Er wurde mit jeder Finsternis größer.

„Wir sind lange nicht hier gewesen“, sagte Jessica.

„Stimmt. Ich habe den Pegasus irgendwie vermisst.“ Er sah hoch. Das riesige Neonschild von Mobil Oil in der Gestalt eines Pegasus schwebte schützend über ihnen.

„Das ist nicht das Einzige, was mir gefehlt hat“, sagte Jessica. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Du weißt doch noch, was hier passiert ist, oder?“

Jonathan nickte. „Du meinst, als wir uns vor den Darklingen versteckt haben?“

„Genau. Aber nicht nur das.“

Er dachte eine Weile nach. Sie waren seit jenen Anfangstagen wirklich kaum mehr hier gewesen. Er zuckte mit den Schultern.

Jessica stöhnte. „Ich kann’s nicht glauben. Hier haben wir uns zum ersten Mal geküsst!“

„Stimmt ja!“ Er schluckte. „Aber das war ungefähr zur gleichen Zeit, oder? Ich meine, ich hab doch nur gesagt, dass wir uns hier versteckt haben, und das war, als wir … “ Jonathan kam ins Stocken, als ihm auffiel, dass er die Sache mit seinen Erklärungen nur schlimmer machte.

Er nahm sie bei den Händen, in der Hoffnung, dass er ihr Lächeln mit seiner Mitternachtsschwerelosigkeit zurückgewinnen könnte.

Sie sah ihn nur verständnislos an. „Ich kann nicht glauben, dass du’s vergessen hast.“

„Ich hab’s nicht vergessen. Ich wusste bloß nicht, worüber du redest.“

„Aua. Das ist noch schlimmer!“

„Warum?“

„Weil das so ist, als wüsstest du gar nichts mehr.“ Sie entzog ihm ihre Hände und blickte über die blau beleuchtete Stadt hinweg. „Wir haben uns eigentlich … In der letzten Woche haben wir uns kaum berührt.“

„Nein, scheint mir auch so.“ Er seufzte. „Anscheinend sind wir dauernd im Krisenmodus.“

„Wenn man bedenkt, dass die ganze Stadt in der Versenkung verschwinden könnte, ist das wohl keine große Sache.

Das sollte uns aber doch enger zueinanderbringen, findest du nicht?“ Sie sah ihn erwartungsvoll an, als ob sie ihm ein besonders kniffliges physikalisches Problem dargelegt hätte.

„Du musst das so sehen, Jessica“, sagte er und legte den Arm um sie. „Wenn Samhain kommt, können wir einen ganzen Tag zusammen fliegen.“

„Jonathan!“

„Was denn?“ Er hob beschwichtigend seine Hände. „Ich sag’s doch bloß.“

Sie wandte sich stöhnend ab. „Ich wusste, dass du so denken würdest.“

„Wie denke ich?“

„Du findest es aufregend, was passieren wird, hab ich recht?“, schluchzte sie. „Du würdest dich wahrscheinlich freuen, wenn es für immer so weitergehen würde: blaue Zeit, für immer und ewig. Nie wieder Flächenland. Was könnte besser sein?“

Er verdrehte die Augen, konnte es aber nicht über sich bringen, ihr laut zu widersprechen. Schließlich hatte er genau das gedacht, als Midnight gekommen war.

Aber deshalb war er doch noch kein schlechter Mensch, oder?

Jonathan holte tief Luft. Wenn man versuchte, Jessica etwas zu erklären, gab es meistens einfach nur Streit. Aus irgendeinem Grund versuchte er es aber trotzdem immer wieder. Man durfte nicht aufhören, miteinander zu reden, sonst würde nie etwas geklärt werden.

Nervös setzte er an. „ Jess, hör mir zu. Hast du dir nie vorgestellt, dass die Welt untergeht? Ich meine, phantasiert, dass ein Atomkrieg oder eine Seuche oder irgendwas alle auslöscht außer dir und ein paar Freunden? Und natürlich ist das total tragisch und alles, aber plötzlich gehört dir die ganze Welt?“

„Mmh … Nein, eigentlich nicht.“ Sie seufzte. „Ich phantasiere eher davon, ein Rocksternchen zu sein, das fliegen kann.

Und keine kleine Schwester hat.“

Er lächelte, nahm sie bei der Hand und stieß sie beide ein paar Zentimeter vom Boden ab. „Na ja, eins von dreien ist gar nicht so schlecht.“

„Willst du behaupten, ich wäre kein Rocksternchen?“

„Du singst doch gar nicht.“

„Unter der Dusche schon.“ Endlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie auf das Dach zurücksanken. Aber dann entzog sie sich ihm wieder. „Jonathan, das Problem ist, dass das hier keine Phantasie ist. Es ist echt. Ich mag auch keine Witze darüber reißen.“

„Aber Jessica, wir sind doch nicht daran schuld. Du kannst doch nichts dafür. Wir können nichts weiter tun als versuchen, so viele Menschen wie möglich zu retten.“

„Und die zusätzlichen Flugstunden genießen?“

„Nein! Wenn wir es aufhalten können, dann tun wir das.

Aber wir sollten die Planung Rex überlassen. In solchen Sachen ist er gut, auch wenn er in letzter Zeit durchgeknallt war.“

„Auch wenn wir dann genauso oft Flächenland haben wie jetzt?“

„Ja.“ Er schwieg eine Weile, auf der Suche nach Worten.

„Ich hasse die Welt nicht, so wie sie ist, Jessica. Ich will nicht, dass mein Dad und deine Familie und alle anderen von irgendeinem Albtraum aufgesogen werden. Ich kenne den Unterschied zwischen einer blöden Phantasie und dem wirklichen Ende der Welt. Okay?“ Er hielt inne, weil er kaum glauben konnte, was er jetzt sagen würde. „Und was Rex sich auch einfallen lässt, ich werde seinen Befehlen folgen.“

„Versprochen?“

„Logo. Versprochen. Auch wenn er sich total verrückt benimmt. Alles, womit man das hier aufhalten kann.“

Sie sah ihn an, dann nickte sie schließlich. „Okay.“

Er nahm ihre Hand und spürte, wie sie seine Mitternachtsschwerelosigkeit verband. „Lass uns die Sorgen um Bixby jetzt erst mal vergessen.“

Sie lächelte leise und beugte sich zu ihm hinüber. Er schloss die Augen, als sich ihre Lippen trafen, und für einen Moment fiel der Rest der Welt tatsächlich ab. Jonathan stieß sie ab in die Luft, bis sie in einer tiefblauen Leere zu schweben schienen und nur einander hatten, um sich zu halten.

Als sie sich verabschiedeten, sagte er leise: „Was in der langen Mitternacht auch passieren mag, uns wird es gut gehen.

Das weißt du, nicht wahr?“

Sie schüttelte den Kopf, eine traurige Miene huschte über ihr Gesicht, dann brachte sie ihn mit einem Kuss zum Schweigen.