7. NOVEMBER 2009 – TORE DES FEUERS

»This is the song that doesn’t end, yes it goes on and on my friend …«

»Oh, es endet durchaus«, sagt Renny und greift das Lenkrad wie ein LKW-Fahrer in der letzten Stunde seines Amphetaminrauschs. »Es endet damit, dass dein Schädel die Interstate entlangrollt und mein Reifen Hühnerklein aus deinem Dickdarm macht.«

»Kommt, Leute«, sage ich und reibe Rennys Schultern. »Wir sind fast da. Danach müsst ihr nie wieder einen Fuß in dieses Auto setzen.«

Eine Menge Dinge werden völlig normal, wenn man permanent um sein Leben fürchtet. So kommt es zu folgendem Phänomen: Wenn man ein Gefühl erlebt, das früher ganz selbstverständlich war, neigt man plötzlich dazu, es extrem wahrzunehmen. Deshalb kann ich nicht anders: Als wir das Schild sehen, auf dem früher Fort Morgan 45 stand, jetzt durchgestrichen und übermalt mit Liberty Village 45, gerate ich in einen überwältigenden Rausch aus reinem, ekstatischen, Endorphin-überflutenden Frohsinn. Das ist Glück und Erlösung und das Gefühl, dass nach langer Zeit der Wunsch eines reinen Herzens doch in Erfüllung geht.

»Fünfundvierzig«, wiederholt Ted und macht einen Song daraus: »Motherfucking fourty-five miles, miles, miles, miles!«

Renny und ich haben die Plätze getauscht, damit die andere schlafen kann. Renny wollte Julian nicht fahren lassen, weil sie ihm nicht traut. Sie behauptet, dass nur Leute, die beide Hände zur Verfügung haben, ein Auto steuern können. Es scheint ihn nicht zu stören, und er hat den größten Teil der Strecke nach Colorado geschlafen. Wir sind alle müde und machen in der Sicherheit des Wagens ein Nickerchen nach dem anderen. Es fühlt sich gut an, auch wenn ich sterben würde für eine richtige Mahlzeit und eine Dusche.

Nach dem Passieren des Liberty-Village-Schildes sind wir alle hellwach. Wir sprechen nicht, sondern sitzen in ergriffenem Schweigen. Ich für meinen Teil kann gar nicht glauben, dass es wirklich wahr ist. Ich fürchte die ganze Zeit, die Stadt verschwindet wie ein Spuk, wenn ich die Augen schließe oder einschlafe. Der Ausblick verändert sich. Die wogenden Hügel der Plains des mittleren Westens weichen der bergigen Vielfalt von Colorado, eine Landschaft, die in Farbe und Form ihre eigene fremdartige Harmonie hat. Es gibt so viele Grüns und Graus, so viele neue Strukturen zu bewundern. Das Gemeinschaftsgefühl im Auto kommt mir vor wie ein Summen in der Luft. Ich brauche eine Weile, bis ich erkenne, was es eigentlich ist: Hoffnung.

Eine fürchterliche Zeit liegt hinter uns. Eine verschwitzte, verstimmte Autofahrt voller Klagen und Körpergeruch und missmutigem Schweigen, aber jetzt … Jetzt bringt die Zukunft unsere guten Seiten an den Tag.

»Das Erste, was ich mache, ist meine stinkende Unterwäsche zu wechseln«, bricht Julian das gespannte Schweigen.

»Ich hoffe, das wolltest du nicht laut sagen«, murmelt Renny.

»Freu dich doch mal, Renny«, sage ich. Und dann: »Das Erste, was ich mache, ist meine Mom finden und sie an mich drücken, bis sie um Gnade fleht.«

»Ich such mir ein Bett und werde darin schlafen«, sagt Ted. »Schlafen, bis es auseinanderfällt.«

»Ich lass mich erst mal zünftig flachlegen«, schreit Renny und drückt die Hupe.

»Amen!«, ruft Julian, und Ted stellt sein euphorisches Einverständnis zur Schau. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Jede Euphorie, die ich angesichts der Lage empfinden könnte, ist zugleich gedämpft von dem Wissen, dass ich nicht wirklich bereit bin, Collin loszulassen, noch nicht. Ich werde meine Mutter finden, und sie wird die bestmögliche Ablenkung sein. Trotzdem kann ich die nagende Leere in mir spüren, die Angst, die sagt: Du bist gezeichnet, gezeichnet von etwas, das du niemals rückgängig machen kannst. Du vermisst ihn.

Ich sehe mich im Auto um. Gott, verdammt. Sie lachen, lachen miteinander, gackern wie ein Haufen Wohlfühlidioten am Ende einer Episode von Drei Mädchen und drei Jungen. Es ist fantastisch, wirkt so ansteckend, dass ich nicht anders kann, als mit einzusteigen.

»Was ist das?«, fragt Julian plötzlich. Er deutet nach vorn, auf etwas, das ein paar Kilometer entfernt die Interstate blockiert.

Das Leben, sagt man, ist nie so einfach, wie es scheint.

Renny verlangsamt das Tempo, und allmählich dämmert es uns. Da steht eine Barrikade, und davor drängt sich eine gewaltige Masse Untoter. Wie wir versuchen auch sie, nach Liberty Village zu kommen. Die massive Ansammlung von lebenden, atmenden Menschen muss sie angezogen haben wie Scheiße die Fliegen. Die Barrikade sieht aus, als hätte man eine Art Brücke an beiden Seiten gesprengt und quer über die Straße fallen lassen, um die Flut der Untoten zu zerteilen. Der obere Rand der Barrikade brennt, bildet eine Barriere aus Flammen, eine flackernde Wand aus Feuer und Rauch.

»Das müssen Hunderte sein«, flüstert Renny.

»Erwarten die, dass wir da durchkommen sollen?«, fragt Ted.

»Vielleicht tun sie das gar nicht«, sage ich. »Scheiße.«

»Es muss einen Weg drum herum geben«, sagt Julian.

»Und wenn nicht?«, frage ich.

»Genau. Nachdem wir so weit gekommen sind, lasst uns ohne weitere Versuche aufgeben!«

»Maul halten!«, brüllt Renny. »Alle beide.«

Sie stoppt den Wagen ein gutes Stück vor der Barrikade, aber schon nah genug, um das Brüllen der Menge zu vernehmen. Wir starren auf die wogende Flut willenloser Untoter, die uns den Weg versperrt. Ich fasse in meine Tasche und hole den Notizzettel heraus.

Ich sehe dich bald in Liberty Village!

Als ich sechs war, bestand meine Mutter darauf, dass ich schwimmen lernte. Ich war nie besonders gut darin, und das hat sich in meinem weiteren Leben nicht geändert. Aber sie wollte unbedingt, dass ich es versuche, damit ich es kann, nur für den Fall … Ich erinnere mich, wie ich mir die Seele aus dem Leib ruderte, keuchend, Chlorwasser schluckend, und mein Bestes gab, das Brustschwimmen zu imitieren. Sie stand vorgebeugt am Ende des Beckens und klatschte auf die Wasseroberfläche, während sie mich anfeuerte. »Du bist schon so nah dran!«, rief sie, und jedes Mal, wenn mein Kopf aus dem Wasser kam, hörte ich sie: »Du bist nah dran!«

Damals gab es kein besseres Gefühl, als es einmal durch das ganze Becken geschafft zu haben. Die Fingerspitzen an den gegenüberliegenden Rand zu drücken und zu sehen, wie meine Mom voller Stolz auf mich herunterblickte. Wäre sie jetzt auch stolz auf mich? Wird sie stolz sein?

So nah dran.

Plötzlich sind Wasserflecken auf dem Zettel, kleine Tropfen verschmieren die Tinte.

»Gott, verdammt

Ich blicke von der Notiz auf und fühle, dass mich jemand beobachtet. Julian starrt mich durch den Spalt zwischen Sitz und Tür an. Etwas geschieht zwischen uns, etwas überträgt sich … Er lässt seinen Gurt ausrasten, der in seine Halterung zurückschnellt, ein wenig hin und her baumelt. Ich weiß, was er denkt, und meine Hände schießen nach vorn, um ihn zu packen, aber schon schwingt die Beifahrertür auf.

Ding-ding-ding … Der Wagen teilt uns höflich-mechanisch mit, dass die Beifahrertür offen steht.

»Julian, nicht!«

»Was zur Hölle macht er da!«, ruft Ted.

»Ich schätze, das ist unser Stichwort«, sagt Renny und tritt aufs Gaspedal.

»Nein! Bist du wahnsinnig geworden? Wir können das nicht zulassen!«, schreie ich und klettere auf den Beifahrersitz.

»Er hat seine Wahl getroffen«, sagt Renny. »Da ist eine Rampe, siehst du. Er sorgt dafür, dass wir durchkommen. Willst du sein Opfer etwa verschwenden?«

»Scheiß auf dich, wie kannst du es wagen …«

»Ich mein’s ernst. Verschwende nicht diese Chance.«

So nah dran.

»Allison! Allison, komm, steig wieder in die verdammte Karre!«

Ihre Stimme wird leiser und leiser, denn ich renne. Ich ignoriere meinen schmerzenden Knöchel. Ich lasse nicht zu, dass das geschieht. In der Ferne türmen sich dunkle Wolken mit glühenden Rändern auf. Es sieht nach bedrohlichem Regen aus. Regen nach Tagen mit nichts als Trockenheit.

Der Spinner ist bemerkenswert schnell für einen Einbeinigen. Ich bin außer Atem, als ich ihn erreiche. Er ist der Menge der Zombies entgegengelaufen, hat sich nach links gewandt, wahrscheinlich, weil er sich ausgerechnet hat, dass er so dem Wagen einen Weg frei macht. Als er sieht, dass ich ihm folge, wirft er die Hände in die Luft und kommt taumelnd zum Stehen.

»Du bist nicht besonders gut in Sachen Pläne durchziehen, was?«, fragt er und setzt das Wort Pläne in Anführungszeichen, indem er ihm mit einer Hand Gänsefüßchen verpasst.

»Fick dich, du Vollidiot! Was soll das werden? Du wirst dich hier nicht opfern. Das lasse ich nicht zu.«

»Willst du deine Mom wiedersehen oder nicht?«, brüllt er. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass die Masse der Untoten uns bemerkt hat und ein paar Gestalten sich herausschälen und in unsere Richtung schlurfen. Der Gestank, der sich jetzt rings um uns erhebt, ist niederschmetternd, die Untoten scheinen zu atmen wie lebende Wesen.

»Es geht hier nicht um meine Mom. Es geht hier um dein Scheiß-Ego. Mach das nicht an meiner Mom fest, okay? Komm zurück ins Auto, wir können das lösen.«

»Ja, lass uns gemütlich Kriegsrat halten oder vielleicht auf einen Helikopter warten, oder darauf, dass Jesus Christus vom Himmel herabsteigt und wir auf dem Rücken von Engeln hinübergetragen werden. Mein Plan kann klappen, Allison, also geh mir aus dem Weg.«

Er schubst mich, und ich schubse zurück.

»Ich hasse dich so sehr. Ich hätte dich im Wal-Mart lassen sollen. Ich hätte dich verrotten und sterben lassen sollen.«

»Allison«, sagt er und senkt die Stimme »Allison, komm schon … Das meinst du nicht so.«

Ich nehme die Axt und ziele damit auf den nächsten Stöhner, enthaupte ihn mit zwei weit ausgeholten Schwüngen. Es kommen mehr, und noch mehr hinter ihnen.

Renny scheint sich nicht entscheiden zu können. Erst fährt sie außer Reichweite der Untoten und wendet dann, um im Kreis um uns herumzufahren. Sie brüllt immer noch, aber durch das schreckliche Jaulen der Untoten kann ich sie nicht verstehen.

»Du willst unbedingt sterben, ja?«, schreie ich. Ich spüre die ersten Regentropfen auf meine Nase fallen.

»Nein, will ich nicht, ich schwör’s!«

»Schön, willst du ein Held sein? Das können wir arrangieren. Lass uns gehen. Du und ich, wir beide rennen einfach Kopf voran in die Menge rein und sehen, was passiert, ja? Mal gespannt, wir lange wir durchhalten. Dann wird man sich bestimmt an uns erinnern, richtig? Und all die Scheiße, die wir mal gebaut haben, wird vergessen sein … Und vielleicht schaffen es Ted und Renny dann, vielleicht aber auch nicht. Ist’n Versuch wert, oder?«

»Komm schon, ich wollte nicht … Beruhige dich, okay? Es war dumm von mir … beruhige dich!«

Ich gehe weiter und schwenke nach links in die Menge. Sie sind langsam. Wenn ich beständig in schneller Bewegung bleibe, kriegen sie mich nicht.

Renny scheint sich entschieden zu haben und rollt auf der rechten Seite die Interstate hinauf. Es funktioniert. Stück für Stück riecht die Menge frisches Fleisch in Armesweite, und schon beginnt sich die Horde auf der rechten Seite auszudünnen. Julian humpelt hinter mir her und duckt sich jedes Mal, wenn ihm einer der Untoten zu nahe kommt und ich uns verteidigen muss. So viele krallende, widerliche Hände greifen nach mir, wollen mein Fleisch und mein Blut.

»Das ist es doch, oder? War es das, was du wolltest? Eine große heroische Pose? Du Idiot!«

»Allison, das ist jetzt wirklich nicht der Moment … Scheiße! Von links, links!«

Sie sind verzweifelt, am Verhungern und ein bisschen schneller, als ich erwartet habe. In der Gruppe schwindet ihre Trägheit, so flink sind sie nie, wenn sie einzeln kommen. Sie zwingen uns, erst zu laufen, dann zu rennen, dann wieder zu laufen, als Erschöpfung einsetzt. Auf den Kohlfeldern zu beiden Seiten der Straße liegen die verwelkten, schwarzen Kohlköpfe in Reihen – es sieht aus wie ein Feld voller verfaulender Gehirne. Der Kies an der Straßenböschung knirscht unter unseren Schuhen. Julian rennt humpelnd, so schnell er kann, und ich brülle auf ihn ein, er solle sich ranhalten, solle hinter mir bleiben, außer Reichweite. Jetzt regnet es richtig. Es spritzt uns auf die Gesichter, während wir tiefer in die Menge rennen. Es gibt kein Zurück mehr, denn das wäre Selbstmord.

Ich habe keine Ahnung, was wir tun sollen, falls wir tatsächlich die Barrikade erreichen, aber es bleibt mir keine Zeit zum Denken, nur Zeit zum Schwungholen, Zuhacken, Schwungholen, Zuhacken …

»Das ist das scheiß letzte Mal, dass ich deinen blöden Arsch rette!«

Ein Teil von mir – der waghalsige Teil im Delirium – weiß, dass er recht hatte. Wir hätten vielleicht warten, überlegen, nach einem Ausweg suchen sollen, aber in diesem Plan liegt eine gewisse Eleganz. Es ist die einfachste Lösung, wenn wir es tatsächlich lebend da durchschaffen. Auf einmal kann ich Collin hören, wie er mich mit ernsten Augen mustert und ausschimpft, den Kopf schüttelt, weil ich so gedankenlos gehandelt habe, so hastig, so übereilt. Es kümmert mich nicht. Ted und Renny werden es wahrscheinlich schaffen, aber wir … Ich habe keine Erwartungen mehr, nur Zielgerichtetheit, Konzentration, das wilde, kontrollierte Schwingen meiner Axt. Es kommt mir vor wie ein Zen-Zustand – der Geist entleert sich einfach, bis nur noch ein Ziel übrig bleibt: zuhacken, enthaupten, zuhacken, durchkommen, den Pfad freihacken.

Die Chancen, so scheint es, stehen eher gegen uns.

Drüben auf der anderen Seite der Straße kriecht die Limousine dahin, ein kleiner Farbklecks vor dem wurmgrauen Horizont. Beängstigend zur Seite geneigt, versucht sie, so nah wie möglich an der Kante zu fahren, und kippt dabei fast in den Graben. Ich denke an die vielen Male, die wir für diese Karre unser Leben riskiert haben, nur um Benzin zu kriegen, irgendwo genug für den nächsten Kilometer abzusaugen.

Wahnsinn, was wir für unsere Freunde tun.

Die Barrikade rückt näher, und ich fühle die Übelkeit erregende, drückende Hitze, die so viele aneinandergedrängte Verwesungsprozesse erzeugen. Eine verdorrte Hand greift in Julians Armschlinge. Blitzschnell, ohne nachzudenken, ziehe ich den Knoten auf. Die Schlinge geht auf, Julian zieht seinen Arm weg, und wir rennen weiter. Ich kann sein Keuchen hören, die kleinen Ächzer zwischen den Atemzügen, Signale dafür, dass jeder Schritt schmerzt, jeder Meter beinahe tötet …

»Wir sind fast da!«, rufe ich. »Wir schaffen es!«

»Allison, ich kann nicht mehr, mein Bein …«, japst er. Ich packe ihn am gesunden Arm und ziehe ihn weiter. Die eingestürzte Brücke ragt dicht vor uns in die Höhe wie ein trojanisches Bollwerk. Flammen züngeln in der Dunkelheit, der Asphalt zeigt lange, zackige Risse. Auf der linken Seite befindet sich ein Damm, der zur Oberkante der Brücke aufragt. Er sieht zu steil aus für die ungeschickten Füße der Untoten und auch fast zu steil für die Füße der Lebenden. Aber ich sehe hier und da Stützen, herausragende Eisen- und Betonstreben. Vor uns erhebt sich ein fast senkrechter Wall aus Erde bis weit über unsere Köpfe, als wäre die sanfte Linie eines Hügels von der fallenden Brücke abgeschnitten worden.

»Wir kommen da hoch!«, rufe ich. »Wir sind nah dran!«

Der Damm ist glitschig vom Matsch des Erdbodens, den der Regen herunterspült. Braune Sturzbäche rauschen den Hang hinab. Die Feuer auf der Brückenkante erlöschen im Regen, rußiger Pechgeruch erfüllt die Luft, überdeckt fast den Gestank der Untoten.

»Du zuerst! Ich warte!«, rufe ich, der Regen trommelt mir auf die Stirn, tropft mir in die Augen. Ich freue mich nicht darauf, diesen Matschberg zu besteigen, aber es ist der einzige Weg hinauf.

»Nein!«

»Los, geh jetzt, ich habe die Axt!«

Ich helfe Julian auf den ersten Tritt, ein Stück Beton, etwa einen halben Meter über dem Boden. Mit dem gebrochenen Arm, der nutzlos an seiner Seite baumelt, fällt ihm das Klettern schwer. Mit dem intakten Arm muss er sich bis zum nächsten Stück Beton hochziehen. Ich bleibe unten und schüttle mir Regen und Haare aus den Augen, während ich beobachte, wie die Untoten uns einkreisen. Mit der ganzen Axtschwingerei habe ich uns nur ein paar Zentimeter Raum verschafft.

»Allison, los, du musst klettern!«

Er hat recht. Wenn ich nicht jetzt starte, gibt es kein Erklimmen der Brücke mehr. Jetzt, wo die Brände verlöschen, kommen wir vielleicht rüber und treffen Renny und Ted wieder … Aber vielleicht habe ich auch schon zu lange gewartet. Sobald ich ihnen den Rücken zukehre, schließt sich sofort die letzte Lücke …

»Komm schon! Jetzt!«

Wenn ich mich umdrehe, wenn ich ihnen auch nur für eine Sekunde den Rücken zudrehe …

»Gib mir die Axt!«, brüllt er, seine Finger hängen über meinem Kopf.

»Ich kann nicht!«

»Gib sie mir, los! Komm schon!«

Ich presse mich an die glitschige Wand und stoße den Axtstiel in seine Richtung. Als er ihn nimmt, fühlt es sich an, als hätte ich eines meiner Glieder verloren. Meine Füße finden den ersten Widerstand, und ich drücke mich nach oben. Ich versuche, nahe am Damm zu bleiben, nicht mit Armen und Beinen herumzufuchteln. Es hilft nicht viel. Ich fühle, wie Hände an meinen Schuhen kratzen, an meinen Knöcheln. Über mir hält sich Julian an einem Betonbrocken fest und hackt mit seinem verletzten Arm mit der Axt herum, die Klinge blitzt dicht an meiner Schulter vorbei. Ich kann sehen, wie schmerzhaft das ist, ich sehe, wie er mit zusammengebissenen Zähnen gegen das Unbehagen und den Schmerz anknurrt, während er meinen Rücken verteidigt.

»Scheiße!«

Die Betonbrocken bewegen sich, die Tritte unter uns geben nach, sinken tiefer und tiefer den krallenden Händen der Untoten entgegen, die unten warten. Ich kämpfe dagegen an und versuche, meine Füße in den Boden zu graben, irgendetwas zu tun, um zu verhindern, dass ich abrutsche, aber das Betonteil unter meinen Füßen gibt endgültig nach und stürzt auf die gebrochenen Schädel der Zombies, die sich in meine Füße verkrallt haben. Der von oben nachrutschende Matsch schiebt mich vorwärts, quillt unter Ellenbogen und Knie und zieht mich mit sich.

Es gibt einen Halt über mir, dort, wo Julians Fuß steht. Wenn ich danach greife, könnte das für uns beide das Ende bedeuten, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich rutsche, verliere den Halt …

»Halt dich fest«, schreit er.

»Es ist zu hoch! Scheiße! Ich rutsche!«

»Greif zu!«

Der Regen trommelt mir in die Augen, braune Matschklumpen fallen von Julians Schuhen in mein Gesicht. Ich kann kaum sehen, habe aber keine Hand frei, um mir die Augen zu wischen. Julian zeigt mir seine Hand, öffnet und schließt seine Finger vor meinem Gesicht.

»Hoch!«, schreit er. »Hoch!«

In meinem Hinterkopf erklingt ein gewaltiger Marsch, der klingt, als würde ein gestörtes Kind rhythmisch wie ein Herzschlag auf einem Xylophon trommeln und mir befehlen, nach oben zu greifen.

Plötzlich erkenne ich, dass es der Mary-Poppins-Song ist, der sich krachend den Weg in meinen Kopf bahnt, als hätte jemand den Text genommen, auseinandergerissen, mit Nägeln und Leder beschlagen und wieder zusammengesetzt:

Let’s go fly a kite

Up to the highest height!

Es wiederholt sich gnadenlos, der Rhythmus wird schneller, verrückter, bis ich sicher bin, dass mein Herz von dem Lärm explodiert. Julian zappelt herum und schreit. Ich kann ihn nicht hören, höre nur das Lied, losgelöst und durch mein Hirn dröhnend wie ein schwindliger Riese …

Let’s go fly a kite

And send it soaring

Schreiend vor Schmerzen greife ich nach dem Pfeiler und ziehe, kreische durch zusammengebissene Zähne, als ich meine Finger darum schließe und mich hochziehe, nicht loslasse, den Griff um ein Stück Metall gekrampft. Das ist es. Letzte Chance. Es heißt jetzt rauf oder runter, leben oder sterben. Ich fühle, wie eine harte, knochige Hand sich um meinen rechten Knöchel schließt.

Ich habe es fast geschafft, der Schmerz, die Erschöpfung sind einen Moment lang vergessen, während ich mein letztes Quäntchen Kraft mobilisiere, um mich hoch genug zu ziehen, um den nächsten Halt ergreifen zu können. Ich fühle ein Zerren an der Schulter, blicke auf. Julian hat mich am T-Shirt gepackt und hievt mich hoch, die andere Hand an der Axt, die er wie einen Pickel in den Damm gerammt hat. Die Hand des Zombies reißt am Handgelenk ab, und ich trete mir seine Finger vom Knöchel. Eine Sekunde lang hänge ich fast frei in der Luft, frei, fliegend, und sehe in die Gesichter unter mir. Die leeren, starrenden Augen und offenen Münder. So viele Augen …

Die Stütze hält uns beide, aber ich fühle, wie sie allmählich unter unserem Gewicht nachgibt. Julian presst sich an den Damm, und ich klettere über seinen Rücken und seine Schultern nach oben, auf sicheren Grund. Ich kann sehen, wie er sich mit der Brust gegen den Schlamm stemmt, seine Augenlider flattern vor Schmerz. Ich will mir nicht vorstellen, wie sich sein gebrochener Arm, sein verletztes Bein anfühlen …

»Gib mir deine Hand, ich zieh dich hoch«, sage ich und strecke ihm den Arm entgegen. »Gib mir deine Hand!«

Er lässt nach. Der letzte Schub, um mich nach oben zu bringen, hat ihn zu viel Kraft gekostet. Sein Kopf sinkt in den Matsch, sein Körper zittert entkräftet. Ich wedele mit meiner Hand vor seinem Gesicht. Er ist groß und schwer, aber es braucht nur eine Anstrengung, einen kurzen monumentalen Kraftakt – das kann ich schaffen, das steckt noch in mir.

»Komm! Gib mir die Hand!«, schreie ich. Er blickt auf, seine Augen blinzeln wie verrückt, um das Wasser abzuwehren. Er ist bereit aufzugeben, ich sehe es. »Gib mir jetzt deine Scheiß-Hand, Julian!«

Dann ist seine Hand in meiner, seine Finger wickeln sich um mein Handgelenk. Ich greife fest zu und lehne mich zurück, quetsche meine Schulterblätter zusammen, bis sie sich berühren. Aber es passiert nichts. Ich ziehe und ziehe, doch er steckt fest. Als ich über den Rand spähe, sehe ich, dass derselbe Zombie, der mich schon am Bein zu fassen bekommen hatte, ihn gepackt hat. Dann kommt ein weiterer Zombie und greift zu, beginnt zu zerren. Es sind zu viele von ihnen, und sie kämpfen alle gegen mich, drei, dann vier und dann fünf Hände, die an seinen Beinen zerren. Er ruft, dass ich fester ziehen soll. Ich gebe alles, aber die Stütze gibt nach, und wir rutschen beide abwärts.

»Allison«, sagt er, sein Arm löst sich. Er lächelt und öffnet den Mund, will noch mehr sagen, aber er fällt schon; die Arme weit geöffnet, versinkt er wie ein Taucher, der in einen schäumenden Pool fällt. Ich stolpere, um seine Hand zu erwischen, aber sie ist schon außer Reichweite. Dann kann ich sein strähniges rotblondes Haar und sein lebendes Fleisch nicht mehr länger von dem Meer aus Armen und Körpern unterscheiden. Hilflos sehe ich mit an, wie die Untoten ihn unter sich begraben.

Meine Axt steckt im Damm, wo Julian sie gelassen hat. Ich rüttle sie frei und stehe. Ich gehe. Ich muss.

Ich höre den Regen, den Donner und den Klang des Todes, der zu meinen Füßen schreit und darauf beharrt, dass ich zur Ernte gehöre. Dann vernehme ich meinen Atem, tief und befreit, und einen Nachhall von Julians Lachen – ein so unerwarteter Klang, so hochwillkommen, dass ich nicht anders kann, als auch zu lachen. Für einen Moment ist es, als wäre er noch da, sänke neben mir auf die Knie, hielte sich die Brust und würde lachen und lachen.

Aber er ist weg, und ich bin allein, kalt und durchnässt. Der Himmel über mir strahlt kobaltblau, die Wolken drehen sich und rasen in eine unvorhersehbare Richtung.

Ich steige weiter den Damm zur Brücke hinauf, sehe hinab auf die Dämonen und in ihre gierigen Mäuler und werfe einen Blick auf das, was mein Schicksal hätte sein können. Ich erkenne tiefe Einschnitte im Grund und Löcher, die wie Detonationskrater aussehen. Ich haste zum Sockel der Brücke, wo der Beton ein bis anderthalb Meter dick ist. Ich gehe in die Mitte und blicke noch einmal auf den Weg, den ich gekommen bin. Es sind so viele von ihnen. Arme Seelen. Arme ruhelose Seelen.

In der plötzlichen Stille spüre ich den eiskalten Regen. Der Weg nach unten führt in einen steilen Abgrund, an dessen Boden ein unschönes Rendezvous mit einer Horde Untoter auf mich wartet. Irgendwo da drin – wahrhaftig und friedlich tot, wie ich hoffe – steckt ein Freund. Die Dämonen knurren und schnaufen, bilden einen endlos scheinenden Teppich aus Schwarz und Grau. Auf der Brücke, wo die Feuer brannten, verläuft eine Spur aus geschmolzenem Pech. Nur noch Andeutungen des Feuers sind geblieben, der verkohlte Geruch von Rauch, der Geist der Flammen.

Ich sehe die Limousine auf der anderen Seite der Brücke, die im Leerlauf auf mich wartet. Ich will nicht gehen, noch nicht, aber jetzt, wo die Feuer erloschen sind, hält nichts mehr die Untoten auf, die Rampe zu erklimmen und auf die andere Seite zu kommen. Die Hupe dröhnt. Sie warten.

Eine plötzliche Verrücktheit ergreift mich. Ich lehne mich über den Rand und suche nach irgendeinem Zeichen von meinem Freund. Fast erwarte ich, Julian die nackte Wand hinaufklettern zu sehen, lachend und fluchend, aber das tut er nicht … natürlich nicht.

»Ich könnte da unten bei dir sein«, sage ich und richte mich wieder auf.

Renny drückt auf die Hupe und ruft mich. Aber bevor ich gehe, blicke ich noch einmal über den Rand. Ich halte die Axt hoch und lasse sie fallen. Sie dreht sich und fällt unten in die brodelnde Menge.

»Danke«, sage ich. »Nun muss ich gehen. Unsere Freunde warten.