29. OKTOBER 2009 – IN DIE WILDNIS

Ich berichte jetzt, wann immer ich kann, wo ich kann, in den kurzen Momenten zwischen den langen Phasen aus Panik und Furcht. Ich muss mich entschuldigen, wenn einige von euch sich Sorgen machen. Ohne die Arena, die Generatoren, ohne eine ständige Verbindung zum Rest der Welt schrumpfen meine Reserven mehr und mehr. Ich melde mich beim kleinsten Flackern einer schwachen drahtlosen Verbindung, meist ein unsicherer kurzer Moment.

Wieder einmal ist mehr passiert, als dass es sich als bloße Abfolge von Ereignissen darstellen ließe. Ich musste für mich einen Weg finden, wie es weitergehen sollte. Keine leichte Entscheidung, aber ich habe sie getroffen. Das mag egoistisch sein, aber ich werde tun, was für mich richtig ist. Nur so verhindere ich, verrückt zu werden, und finde vielleicht Sicherheit.

Die Entscheidung fiel nach dem Schock, unser Hauptquartier, unser Heim, vernichtet zu finden. Wir machten uns erst gar nicht die Mühe, näher ranzugehen. Aus der Entfernung wurde klar, dass es ziemlich ausgeschlossen war, dieses Inferno und die brodelnde Masse Untoter lebend zu überstehen. Also wendeten wir, fuhren zurück und irrten ziellos herum, bis ein Fahrzeug auftauchte, aus dem Rauch und Asche hervorquollen. Das ist keine Stadt mehr, sondern ein riesiger Ofen, der schwarze Rauchpilze ausstößt und den Geruch von Verwesung.

Sie kamen auf uns zu, und für einen Moment traute ich meinen Augen nicht. Ich erkannte das Fahrzeug und erinnerte mich in vollkommener Klarheit, wie ich diesen Jeep zum ersten Mal gesehen hatte. Ich war völlig erleichtert, ihn wieder zu erblicken, den schweren Allradwagen und den uniformierten Fahrer hinter dem Steuer. Und Collin. Wir trafen uns in einem Park, oder was davon übrig geblieben war, ein großes offenes Feld, von dem aus man jeden herankriechenden Untoten rechtzeitig im Blick erkannte. Der See befand sich ganz in der Nähe. Ich konnte den dünnen Fischgeruch, den sandigen Duft des Wassers riechen. Etwas weiter entfernt waren ein Pavillon und eine hübsche Brücke mit weißen Geländern. Der Park fühlte sich vertraut an. Die meisten Straßenschilder waren verschwunden, von Autos umgewalzt oder von fallenden Lichtmasten zertrümmert.

Selbst hier im Park, zwischen Gras und Bäumen und hell gestrichenen Bänken, hielt sich der Gestank von Tod und Leiden. Wir taumelten aus dem Wagen, und ohne nachzudenken, rannte ich direkt zu Collin.

Es kam mir nicht in den Sinn, dass ich eigentlich kein Recht mehr hatte, mich um ihn zu sorgen. Er umarmte mich fest, hob mich mit beiden Füßen vom Boden. Vielleicht hatte er es auch vergessen.

Der Jeep leerte sich: Ted, Finn und, ja, auch Lydia.

Ich hatte keineswegs gehofft, sie hätte die Feuersbrunst in der Arena nicht überlebt. Ich hatte sie einfach aus meinen Gedanken verbannt. Nachdem Ned mich daran erinnern musste, dass ich es Collin schuldig war, mich nicht wie ein Kind aufzuführen, hatte ich ihre Existenz einfach verdrängt, was zugegebenermaßen ein Fehler war. Sie hier zu treffen, ihre steife Haltung wahrzunehmen, ihren kalten, distanzierten Blick, erfüllte mich mit einer plötzlichen Wut. Sie hatte überlebt wie ich und jedes Recht, dafür Respekt zu verlangen. Aber das bedeutete nicht, dass ich glücklich war, sie zu sehen.

»Ich glaub es nicht«, sagt Ned, schüttelt Ted an den Schultern und rüttelt dem armen Jungen prompt die Brille von der Nase. »Du glaubst es nicht, Mann, wie froh ich bin, euch Typen wiederzusehen.«

»Lass mich raten«, antwortet Ted. »Die Gemahlinnen?«

»Und ob, und wie«, bestätige ich und ziehe Renny am Oberarm zu den anderen hin. »Das ist Renny, sie gehört zu den Guten.«

Eine schnelle Vorstellungsrunde, und wir ziehen weiter, planend, konspirierend, dank Collin und seiner präzisen Fähigkeit, eiskalt brenzlige Lagen einzuschätzen. Es stellt sich heraus, dass die Gemahlinnen, die in der Arena im Hintergrund geblieben waren, genug Aufregung verursacht hatten, um die Wachen am Eingang abzulenken. Daher überraschte es nicht, dass eine infizierte Person durchgeschlüpft war. Mehr brauchte es nicht. Die Gewalt und das Sterben breiteten sich schneller in der Arena aus, als Collin und Finn den Infizierten finden und unter Quarantäne stellen konnten. Die Gemahlinnen der Schwarzen Erde gerieten in Panik, versuchten die Untoten zu verbrennen und setzten dabei die ganze Arena und alle, die sich darin befanden, in Brand, was – traurig genug – tatsächlich das Beste war, was passieren konnte. Collin und Finn gaben ihr Letztes, um das Feuer einzudämmen und die Untoten unter Kontrolle zu bekommen, aber ein paar waren wohl entkommen.

Während sie uns alles erklären und wir unsere Geschichten austauschen, beobachte ich argwöhnisch die Bäume um uns herum. Jetzt ist alles bedrohlich, alles kann jederzeit zur Quelle von Ärger, von Verwundung und Tod werden. Auf den Ästen hocken ein paar Vögel, die Federn an den Hälsen aufgeplustert, um die Kälte abzuwehren. Ich frage mich, ob sie vielleicht ihre Wanderung verpasst haben, ob die Hölle, die auf der menschlichen Seite ausgebrochen ist, dafür verantwortlich ist. Vielleicht ist das Ökosystem für immer im Eimer. Vielleicht sind diese Vögel die Letzten ihrer Art. Sie lassen die Stunden verstreichen, während die Menschheit unter ihrer stillen Wacht jegliche Menschlichkeit zerstückelt. Ich denke an meine Schulzeit. Biologiekurs 101 …

Neben der Vernichtung von Lebensräumen ist zweitens die Einführung nicht heimischer, »exotischer« Arten die größte Bedrohung der Biodiversität. Die Arten sind oft invasive Kreaturen und beeinflussen die Habitate, die sie infiltrieren, ungünstig. Landschaftlich, ökologisch und ökonomisch …

»Ist da oben was?«, flüstert Ned und lehnt sich herüber. Finn berichtet über Waffen, wie viele sie verloren haben, wie viele sie zurücklassen mussten.

»G-Gott?«, stammle ich. »Bist du das?«

»Ha. Ha. Was siehst du denn da?«

»Ein Rotkehlchen vielleicht. Oder auch zwei oder drei«, erwidere ich. »Ich kann’s nicht sagen.«

»Amerikanisches Rotkehlchen, der Nationalvogel«, antwortet Ned. Er ist erschöpft, das zeigen seine blutunterlaufenen Augen. Ich kann es auch an seiner Stimme hören. Immer noch rieche ich den Rauch des Feuers in der Cafeteria der Vorschule mit der unterschwelligen Schärfe von verbranntem Haar und Fleisch. Er braucht ein Bad, dringend.

»Ja?«, frage ich.

»Jupp«, antwortet er und nickt in Lydias Richtung. »Muss ich mir Sorgen machen, oder bist du okay?«

»Was? Oh, du meinst die Nationalschlampe? Ja, ja, ich komm schon klar.«

»Allison.«

»Ich bin drüber weg.«

»Ich hoffe nicht«, sagt er.

»Wir haben es geschafft, ein paar Zelte zu retten«, sagt Collin. Ich zwinge mich zuzuhören, weiß aber, dass die Vögel eine wesentlich bessere Chance haben, hier durchzukommen, als wir. Sie werden es schon schaffen. »Wir sollten einen sicheren Platz für die Nacht finden und dann darüber nachdenken, wo wir hingehen.«

Ich bleibe mit Renny, Ned und seinen Kindern zurück, während Collin und Finn den Jeep nehmen, um einen guten Platz auszukundschaften, wo wir die Zelte aufschlagen können. Alle sind elend und erschöpft, und ich habe das Gefühl, wir werden nicht weit kommen. Jedenfalls nicht heute Nacht. Evan und Mikey verhalten sich still, zu still für kleine Kinder. Ich sehe sie durch den Nebel wandern, verloren ohne ihre Mutter und erstarrt von dem Schrecken, dem sie gerade entronnen sind. Ted kommt zu mir herüber und lässt Lydia allein, die Abstand hält wie ein distanzierter und gefürchteter Direktor, der einen Sitzungssaal voller Fremder niederstarrt. Ted nimmt meine Hand und drückt sie, wischt sich das Haar aus dem Gesicht und von der Brille und betrachtet mich eindringlich. Ich sehe, wie er das Blut auf meinen Kleidern, meinen Händen, unter meinen Fingernägeln registriert.

Er nimmt mich in die Arme, und ich zucke zusammen.

»Wurdest du verletzt?«, fragt er mit gesenkter Stimme. Die dunklen Flecken seiner Augenbrauen haben sich über dem Rand seiner Brille vereinigt.

»Mir geht’s gut. Bloß eine Prügelei«, antworte ich.

»Eine richtige, blutige Prügelei?«

»Das kann man wohl sagen.«

»Hey, du musst nicht darüber reden. Nicht, wenn du nicht willst«, murmelt Ted. Ich höre heraus, dass mein Schweigen ihn verletzt. Er tritt mit der Spitze seines Turnschuhs in den Dreck.

»Ich erzähl es dir später«, sage ich freundlich. »Ich will nur jetzt nicht daran denken.«

Es wird kalt, und wir kuscheln uns aneinander. Mit einer kleinen Grimasse der Befriedigung nehme ich zur Kenntnis, dass Lydia auch friert und niemand sie einlädt, zu uns zu kommen. Nun ist es raus, ich bin ein Ungeheuer. Andererseits, wenn man schon friert, ist es nicht unbedingt ratsam, die Eiskönigin zum Kuscheln zu bitten. Ich würde lieber in einem Grab schlafen.

Als wir so zitternd zusammenstehen, werde ich das Gefühl nicht los, diesen Park zu kennen. Ich frage mich, ob ich in der Nähe meines Hauses bin, ob meine Mom nicht weit entfernt ist, in unserem Keller aushält, bewaffnet mit einem Brecheisen, und sich von Dosenfutter ernährt.

Collin und Finn kommen zehn Minuten später wieder und stoppen ihr Fahrzeug mit einem dramatischen Schlenker. Sie springen heraus. Finns roter Kopf hüpft hinter Collins dunklem auf und ab, und sie gestikulieren in Richtung des Hügels hinter uns. Er ist nicht sonderlich steil, hat aber eine klare Kuppe. Oktobernebel bildet sich, trägt Dunst heran, der direkt in die Knochen dringt. Ich kann es nicht erwarten, mich hinzulegen, auszuruhen, mich mit Dapper einzurollen und so lange zu schlafen, wie ich mag. Niemand stellt Collins und Finns Beschluss in Frage. Er erscheint wie ein profunder Gerichtsentscheid, und niemand hat die Kraft zu diskutieren. Meine Rippen bringen mich um, und ich spüre die Müdigkeit in meine Beine sickern, in meine Knie, in meine Zehennägel.

Wir drängen uns in den Lieferwagen, und Ned fährt uns den Hügel hoch. Renny spielt Stein, Schere, Papier mit den Jungs, und nach ein, zwei Minuten scheinen sie ihr früheres Selbst wiederzufinden. Über ihren Köpfen zeige ich Renny einen erhobenen Daumen.

Wir lassen den Nebel hinter uns, der uns jedoch folgt. Unerbittlich kriecht er den Hügel hinauf, verschluckt die Bäume und die lustig bemalten Bänke. Er löscht jede Spur von der Straße aus, auf der wir gekommen sind.

Es gibt drei Zelte, und ich verdränge meine Schmerzen lange genug, um beim Aufbau zu helfen. Lydia, Finn und Collin nehmen eines, Ned und seine Kinder das nächste und Ted, Renny und ich das dritte. Sie bieten nicht viel Platz, aber wir drei schaffen es, uns bequem einzurichten. Es ist gemütlich, und obwohl Dapper nichts leistet, sind wir alle froh über einen begeisterten Fußwärmer, auch wenn er nach Maischips riecht.

Gerade als Dapper zart zu schnarchen beginnt, tippt mir plötzlich etwas ans Knie. Ich setzte mich auf und sehe einen matten, schimmernden Griff an mein Bein gelehnt. Ted grinst mich diebisch an, sein errötendes Gesicht von der kühlen Dunkelheit verborgen. Verborgen, sicher, aber ich weiß auch so, dass er rot geworden ist.

»Was ist das?«, frage ich. Mit einem Schmerz in der Seite beuge ich mich vor, um danach zu greifen.

»Nur eine alte Freundin. Ich dachte, du hättest sie vielleicht gern wieder.«

Es ist meine Axt, ein bisschen versengt, aber ansonsten intakt.

»Ted … ich … Aber du wusstest doch gar nicht, dass ich …«

»Natürlich wusste ich das«, sagt er und gluckst in sich hinein. »Ich wusste, dass es mehr als ein paar irre Weiber braucht, um dich kleinzukriegen. Nebenbei, dich wird nichts aufhalten, bis du deine Mom gefunden hast, oder?«

»Ich bin platt.«

»Ach, ist doch keine große Sache.«

»Doch. Wirklich, das bedeutet mir eine Menge.«

Er legt sich wieder hin, immer noch lächelnd, und ich bette mich auf die Seite, aber es schmerzt. Alles schmerzt. Zum Schluss liege ich auf dem Rücken, das Sweatshirt, das mir als Kopfkissen dient, zu einem kleinen Quadrat zusammengeboxt. Ich stütze meinen Hals darauf, aber es nützt nichts. Der Schlaf kommt nicht, flüstert nicht mal in der Ferne. Ich warte eine Weile, warte, bis ich sicher bin, dass Ted und Renny schlafen.

C-sechs, H-sechs Benzol, A-G-zwei-O Silberoxyd, C-U-Fe-S-zwei Kupfereisensulfit …

Ted murmelt im Schlaf, als ich aufstehe und über den Hund stolpere. »Ich muss nur pinkeln«, flüstere ich, und er verstummt.

Draußen ist es eiskalt, und ich nehme den Kissenpulli und ziehe ihn an. Der Herbst verlässt uns, die Kälte wird strenger. Das war unvermeidlich, und doch fühle ich mich noch hilfloser. Die Gefahr marschiert stetig auf uns zu, Zentimeter für schrecklichen Zentimeter. Wenn wir nicht von Monstern zerstückelt werden oder von unsereins umgebracht, sterben wir an der Kälte, am Hunger oder an einer Krankheit, die uns die Kraft raubt, unsere Würde und zuletzt das Leben.

Kein Wunder, dass ich keinen Scheißschlaf finde.

Ich gehe zum höchsten Punkt des Hügels, hinter dem er sich allmählich wieder senkt, in Richtung – was? Ein Becken? Ein paar Zäune? Der Nebel hat sich verzogen, und jetzt liegt nur noch ein funkelnder, silbriger Dunst unter uns. Der Mond scheint hell, der Himmel ist fast klar, nur ein paar trübe Wolken gleiten über die Sterne. Vereinzelt zirpen noch letzte Grillen, erstaunlich, dass sie noch nicht gestorben sind. Wie halten ihre kleinen Körper das aus? Wie können sie der Kälte widerstehen?

Der Hügel breitet sich zu meinen Füßen aus. Das nasse Gras schimmert und glitzert von Hunderten kleiner Eiskristalle. Wir werden im Frost erwachen. Unser Atem wird milchige Schatten auf die Wände des Zeltes malen … Aber Schlaf … ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Selbst wenn meine Brust aufhörte zu schmerzen, selbst wenn mein Körper sich gut fühlen würde, glaube ich nicht, dass meine Gedanken mir erlauben würden zu ruhen.

Hinter mir höre ich Schritte, ein sanftes Geräusch auf knirschendem Gras. Ich weiß, dass es keine Untoten sind. Deren Schritte sind niemals gleichmäßig, da ist immer ein Hinken, stets scharren oder schlurfen sie. Tatsächlich weiß ich ganz genau, wer es ist, aber ich will mich nicht umdrehen und ihn ansehen. Die Wärme seiner Gegenwart wird eingeleitet von ein paar gepfiffenen Takten eines Mary-Poppins-Songs. Noch nie klang ein Lied über Drachen so traurig.

»Kannst du nicht schlafen?«, fragt er freundlich.

»Es ist zu voll im Zelt«, sage ich.

»Ich weiß, du bist aufgebracht. Du musst mich nicht belügen«, sagt Collin und bleibt sehr nah an mir stehen. Derselbe vertraute Geruch, und ein unwillkommener, nicht vertrauter Schub von Verlangen. »Nur weil … die Dinge jetzt anders liegen, heißt das nicht, dass du mich belügen musst.«

»Okay.«

»Du bist verletzt. Ich habe es gesehen, als wir die Zelte aufgebaut haben … Du hättest dich einfach ausruhen können.«

»Ich weiß.«

»Ist es schlimm?«

»Keine Ahnung«, sage ich ehrlich. Ich wünschte, er würde gehen. Ich wünschte, er würde seine Wärme und seine Besorgnis und seinen gottverdammten Akzent woanders hintragen. Irgendwohin, möglichst weit weg, wo er nicht so in Versuchung führt. »Wahrscheinlich nur eine gebrochene Rippe.«

»Du und Ned, ihr habt euch über die Einzelheiten ziemlich bedeckt gehalten. Ich hatte das Gefühl, das war Absicht. Du musst das nicht ausführen, wenn du nicht …«

»Ich habe jemanden umgebracht«, sage ich.

»Die Wache, ja. Er sagte, du hättest sie gewissermaßen umgehauen.«

»Ich habe sie nicht umgehauen, Collin, sondern mit meinem Computerkabel erwürgt. Ich habe sie erdrosselt, und dann … dann war ihr Blut überall auf meinen Händen. Sie hat mich fast erstickt und gegen die Wand gequetscht. Es ging um sie oder mich, und fast wäre ich dran gewesen.«

»Mein Gott. Vielleicht wollte ich das gar nicht wissen.«

»Ich habe Zack umgebracht … Ich habe andere getötet. Ich fühle mich widerwärtig.«

»Das bist du nicht. Ich schwöre es. Ich kann meine Augen nicht von dir lassen.«

»Sicher kannst du das«, sage ich. »Du hast deine Frau zurück. Alles ist wieder gut.«

»Du weißt, dass ich das nicht so sehe«, sagt er und lacht voller Bitterkeit. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, weil ich Angst habe, ich könnte einfach … Ich habe Angst, dass du denkst, ich sei ein sehr schlechter Mensch. Aber ich weiß gar nicht, was du denkst. Oder?«

»Lass es uns dabei belassen«, erwidere ich. »Lass uns einfach … Ich weiß nicht … Lass uns einfach Abstand halten. Das macht die Dinge leichter für mich.«

Collin schweigt, geht aber nicht weg. Ich sollte ihm sagen, dass ich Angst habe, dass ich nicht weiß, ob ich wirklich mit ihm zusammen sein will und dass die Möglichkeit seiner Verweigerung mich zurückstößt.

Er sieht abwesend aus. Sein Gesicht verwandelt sich in eine Totenmaske, blass und abwesend. Der unbewegliche Blick des Pharao, der aus seinem bemalten Sarkophag schaut. Wir stehen nebeneinander in der betäubenden Kälte. Keiner von uns will die Situation entkrampfen, will nachgeben, oder reden. Darum will ich gehen, sage ich zu ihm im Geiste, weil ich nicht um dich sein kann. Ich darf nicht um dich sein und dich nicht nur für mich wollen.

Ich höre, wie er den Atem anhält, und denke, er hat vielleicht einen umherwandernden Stöhner entdeckt. Aber dann sehe ich es, am Fuße des Hügels, schimmernd und fremd und völlig fehl am Platz. Es kommt so unerwartet, dass ich für einen Augenblick glaube, es sei nicht wirklich da. Vielleicht ist es eine Halluzination, eine Erscheinung des Nebels …

»Gott«, sagt er, »es ist so schön.«

Und dann erinnere ich mich, wo wir uns befinden. Die Wege, die Bänke, die zertrümmerten Straßenschilder und warum der Park mir so bekannt vorkam. Es ist der Henry-Vilas-Park. Meine Mom hat mich als kleines Kind zweimal mit hergenommen. Gleich neben dem Park mit seinen Picknicktischen und hübschen Bänken liegt der Henry-Vilas-Zoo.

Während es zum Fuß des Hügels trottet, scheint das Zebra zu spüren, dass jemand dort oben steht und es beobachtet. Es bleibt stehen, wendet in einem kompletten Kreis, seine Hufe gedämpft vom harten, kalten Boden, und starrt uns an. Die lange, gestreifte Schnauze senkt sich und schwenkt zur Seite, als es uns betrachtet. Die schwarzen Augen öffnen und schließen sich mit dieser verstörenden, pferdeartigen Sensibilität. Ich weiß, scheint es zu sagen, ich bin auch verloren. Ich frage mich, wie viele von den Tieren überlebt haben. Ob im Nebel auch noch Tiger, Elefanten und Giraffen warten? Diese Gedanken dauern nicht lange an. Collin nimmt meine Hand und hält sie. Er drückt nicht, er wiegt sie.

»Hasst du mich?«, flüstert er.

»Nein. Nein, es ist ja nicht deine Schuld.«

Vielleicht liegt es an der Kälte, vielleicht am frostigen Nebel, der am Fuße des Hügels kauert. Vielleicht an dem Tier, das uns beobachtet, ein Wesen, das nicht hierhergehört, so weit von seiner Heimat entfernt und so völlig fehl am Platz. Was immer es auch ist, wir küssen uns, und der Schmerz in meiner Brust ist wieder da, aber diesmal anders, und er kommt nicht von meinen Rippen.

Ich muss völlig erschöpft sein, denn meine Reaktionsgeschwindigkeit ist lausig. Plötzlich ertönen Stimmen, wütende Schreie, aber ich tue nichts, komme mir vor, als ob ich plötzlich in ein trübes Wasserloch gedrückt würde. Die Stimmen klingen gedämpft, verzerrt, aber ich will nicht loslassen. Nicht jetzt … Nicht in dieser Minute. Seine Lippen haben mich betäubt.

»Was zur Hölle ist mit dir los?«

Es ist Lydia. Sie schreit, fuchtelt mit den Armen und stößt mich. Ich schlage nicht zurück, auch wenn ich es eigentlich will. Ich schaue den Hügel hinunter und sehe, wie das Zebra wieder im Nebel verschwindet, erschrocken versucht sich zu verstecken, verstört in die Realität zurückkehrt.

»Beruhige dich, Lydia. Beruhige dich einfach.«

Sie kämpfen, seufzen und tauschen wilde Blicke aus. Ich stehe daneben und beobachte sie, alarmiert von der Erkenntnis, wie satt ich das alles habe, wie losgelöst und traurig ich geworden bin. Es ist nicht der richtige Moment für Erkenntnisse wie diese, aber das macht nichts. Ich gehe weg und lasse sie weiter streiten. Lydia sagt so etwas wie: »Komm hierher, untersteh dich abzuhauen.« Aber ich gehe zurück zum Zelt und nehme ruhig ein Stück Papier aus der Laptoptasche. Mit einem Stift ziehe ich eine senkrechte Line über die Mitte des Blattes. Blinzelnd in der Dunkelheit schreibe ich PRO und KONTRA oben hin.

Ein paar Minuten später sieht es etwa so aus:

PRO

Ich mag Ted

Ich mag Ned

Ich mag Evan und Mikey

Ich mag Renny

Ich liebe Collin

Collin und Finn haben Waffen und Erfahrung

Zusammen sind wir stärker

Fahrzeuge

KONTRA

Lydia

Mehr Münder zu stopfen

Mehr Leute, mehr Lärm

Lydia

Meinungsverschiedenheiten und Gezänk

Vereinnahmung

Mobbing

Lydia

Meine Mom ist da draußen

Ich hätte die Liste gar nicht schreiben müssen. Allein die Überlegung, es aufzuschreiben, hat mich überzeugt: Ich weiß, was ich tun will. Es ist keine leichte Entscheidung, und sie wird mich nicht beliebt machen, aber es geht um meine Existenz, mein Überleben, und ich bin entschlossen, die Initiative zu behalten, selbst angesichts so vieler … Komplikationen.

Morgen sage ich es den anderen. Ich werde mich vor sie hinstellen, tief Luft holen und erklären: Ich habe entschieden, alleine weiterzuziehen. Danke für eure Hilfe, danke, dass ihr meine Freunde wart, aber es ist Zeit für mich zu gehen. Meine Mutter ist irgendwo da draußen, und ich werde sie finden oder bei der Suche sterben. Ich habe schon zu lange gezögert. Wartet nicht auf eine Postkarte, es kommt keine.

Dann werde ich Dapper nehmen, meine Laptoptasche und meine Axt und das Haus meiner Mutter aufsuchen, um sicherzugehen, dass sie nicht dort ist. Ich werde Collin vergessen. Ich werde meine Mutter finden, weil ich es ihr schuldig bin. Ich werde sie finden, weil es an der Zeit ist.

Aber jetzt muss ich mich erst mal ausruhen, wie ihr auch alle. Bleibt in Sicherheit, bleibt wachsam, und bleibt in Verbindung. Ich werde bald wieder schreiben, wenn ich den nächsten sicheren Ort gefunden habe, die nächste Etappe auf dem Weg vorwärts.

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steveinchicago:

29. Oktober 2009 15:06 Uhr

Ich durfte so lange deinen Optimismus genießen, und ich meine das nicht ironisch. Deine optimistische und zumeist fröhliche Haltung angesichts der Umstände, in denen wir uns befinden, war ein Leuchtfeuer der Inspiration. Ich weiß immer noch nicht, warum wir diese Scharade der Normalität so lange durchgehalten haben. Nun sehen wir hier, was passieren kann, wenn man im Angesicht der Vernichtung zu großzügig und einladend ist. Ich hasse es zu sagen, aber es tut weh, dass Leute wie du und Collin … Leute wie ich … die großzügig und hilfsbereit in einer Zeit sind, wo wir das nicht hätten sein sollen. Vielleicht hatte ich Glück, vielleicht hatten wir Glück, weil uns der Mut gefehlt hat, uns ein größeres Refugium und beständigere Sicherheit zu suchen.

Allison, verlass sie nicht … sie brauchen dich so sehr, wie du bei ihnen sein willst.

Norwegen:

29. Oktober 2009 16:21 Uhr

Viel Glück! Ich weiß zwar nicht recht, ob ich mit deiner Entscheidung einverstanden bin, aber falls du es bis zur Küste schaffst und ein Boot auftreibst – wir haben hier eine schöne, warme, trockene, weiträumige und völlig lydiafreie Höhle auf der anderen Seite des Atlantiks. Dasselbe gilt übrigens für alle anderen, die in der Nähe sind. Wir senden ein Funksignal aus, und die Kundschafter sagen, es reicht die ganze Küste entlang.

Allison:

29. Oktober 2009 16:46 Uhr

Das ist sehr verlockend! Du bist der dritte Überlebende, der anregt, es mit einem Boot zu versuchen, aber ich bin kein Seemann. Außerdem hängen wir hier leider tief im Binnenland fest. Vielleicht führt dein Posting ja irgendwelche Hilfe herbei. Die Leute scheinen zu wissen, was auf dem Spiel steht.