31. OKTOBER (HALLOWEEN) – DIE WELT DER SPUKENDEN DÄMONEN

»Das ist nah!«

»Das ist nicht nah.«

»Hast du nicht gehört? Das ist definitiv nah«, sagt Ted und bedeckt seinen Kopf mit den Händen, als würden wir in einem Erdbeben kauern und nicht die Interstate entlangfahren. Aber ich kann es ihm nachfühlen, das Gedonner macht auch mich nervös. Heute Abend fallen Bomben auf Iowa City.

In einer guten Zeit erreichen wir die Stadtgrenze. Erstaunlich, wie schnell man fahren kann, wenn es keine Radarfallen gibt, keine Cops, keinen Verkehr und nur ein paar gelegentliche Umwege. An manchen Orten ist der Highway völlig verstopft, kilometerlange Schlangen von Fahrzeugen in gerader Reihe mit toten Fahrern oder leer. Merkwürdig, das über Kilometer zu betrachten: Hunderte von Autos, die scheinbar geduldig auf ein Signal warten, das niemals kommt. Jedes Mal, wenn wir eine solche Reihe passieren, bin ich überzeugt, dass die Fahrzeuge sich gleich bewegen werden oder jemand uns zu Hilfe winkt, aber es passiert nie. Was für eine Schlacht hier auch immer stattgefunden hat, sie muss schon lange her sein.

Um ehrlich zu sein, ich bin nicht sicher, ob da wirklich Bomben fallen, aber es klingt so. Auf manchen Streckenabschnitten ist das Krachen ohrenbetäubend, und in der Ferne flackern orangefarbene Lichtflecken. Gewehrfeuer, das gedämpfte Dröhnen entfernter Maschinen. Das Gewitter des Krieges donnert in der Halloween-Nacht über Iowa City hinweg, und weit und breit ist nichts »Süßes oder Saures« in Sicht. Kein freundliches Haus, in dem das Licht brennt, niemand daheim.

Der alte Chevy Cavalier, den wir klauen konnten, bietet kaum mehr, als wir zum Vorwärtskommen brauchen. Die Heizung stottert, beginnt erst anfallartig für ein paar Minuten die Kabine zu erwärmen, um dann zu einem Ventilator zu degenerieren, der weder kalt noch heiß bläst. Ich kann nicht klagen – wir drei heizen den Wagen mit unserer Körperwärme auf eine erträgliche Temperatur. Es ist ohnehin kein guter Zeitpunkt, um sich anzustellen. Einen Wagen zu finden, der a) läuft und b) betankt und mit Schlüsseln ausgestattet ist, war ein Abenteuer von solchen Dimensionen, das Odysseus in lautes Gelächter hätte ausbrechen lassen. Wir haben an die drei Dutzend Autos probiert, bevor wir den Cavalier entdeckten, der vor einem äthiopischen Restaurant am Bordstein stand. Die Schlüssel lagen neben der offenen Fahrertür am Boden.

Beim Fahren wechseln wir uns ab, allerdings will Ted nicht auf der Beifahrerseite sitzen. Dort befindet sich ein mysteriöser Fleck auf der schiefergrauen Polsterung. Ich versuche, nicht über die Fäulnis nachzudenken, die vielleicht direkt unter meinem Hintern stattgefunden hat.

Dapper liegt auf der Rückbank eingerollt neben Ted, sein pelziges Kinn ruht auf Teds Oberschenkel. Den Hund schert es wenig, mit wem von uns er gerade kuschelt – kein Mensch ist sicher vor dieser durchdringenden Köterliebe.

Die Straße nach Iowa City, die Route 88 runter, bewältigen wir in langen Abschnitten schweigend, unterbrochen von kurzen Ausbrüchen heftiger Konversation. Renny fährt, als seien uns Dämonen auf den Fersen, vielleicht sind sie das ja auch. Ich mag es, wenn sie hinterm Steuer sitzt, sie fährt aggressiv, ohne dumm zu sein. An einer Stelle bei Davenport mäht sie eine Reihe versprengter Dümpler nieder, die auf die Straße geraten sind. Sie erwischt sie genau auf Kniehöhe. Der Anblick, wie sie durch die Luft sausen, wie Arme und Lungen durch die Gegend fliegen, während sie Saltos in den Graben machen, ist wahrlich atemberaubend.

»Deine Selbstbeherrschung ist bewundernswert«, sage ich benommen zu ihr.

»Wenn wir vor Weihnachten in Colorado sein wollen, lässt du mich besser fahren, wie ich fahren will.«

»Ich nehme an, das ist eine neuere Angewohnheit? Oder hast du in deinem früheren Leben auch Fußgänger zermanscht?«

»Fußgänger? Du spinnst ja wohl. Diese Dinger sind keine Fußgänger. Die haben ein Ziel im Kopf, sie haben Gehirne. Waren diese Scheißdinger vielleicht auf dem Weg zur Apotheke, um sich Tylenol zu besorgen?«

»Ich achte auf den Punktestand«, sagt Ted und gackert von der Rückbank. Er nimmt seine verbogene Brille ab und haucht auf die Gläser, betrachtet sie genau, bevor er mit dem T-Shirt den Nebel wegwischt. »Jeder zehn Punkte.«

Renny sieht mich an, aber ich schweige. Ich habe ja auch meinen Anteil an Dümplern niedergemacht, aber es scheint mir doch ein bisschen unmenschlich, sie als Bowlingkegel zu benutzen. In einem Auto zu sitzen, verursacht ein befremdliches Gefühl, die Illusion, wieder normal zu sein. Schon kommen all diese normalen, vertrackten Prinzipien wie Moral wieder angekrochen, unter welchen Felsen sie sich auch immer versteckt hatten. Die Untoten da draußen sehen so verletzlich aus, wie sie auf ihren verstümmelten Beinen auf uns zutorkeln, als hätten sie eine Chance. Keine Ahnung, warum mich das kümmert, aber das tut es, und ich schließe jedes Mal die Augen, wenn Renny wieder auf einen zuhält.

Hinter Davenport wird die Angelegenheit wieder langweilig, und wir erzählen uns Halloweengeschichten.

»Evan und Mikey waren so aufgeregt. Ich hoffe, Ned hat es geschafft, ihnen Kostüme zu machen«, sage ich.

»Woraus denn?«, fragte Ted. »Gras und Tesa?«

»Woher soll ich das wissen, Idiot? Benutz deine Fantasie. Bei der nächsten Pinkelpause bastele ich Dapper ein Elchkostüm«, sage ich und greife hinter mich, um dem Hund die Ohren zu rubbeln. Er kommt kurz hoch, leckt erst meine Hand und dann Teds Hosen. »Würde dir das gefallen, Junge? Du bist ein großer, mächtiger Elch, nicht wahr?«

»Ich bin mal als Fernseher gegangen«, sagt Renny. »Ich habe ein Gymnastiktrikot angezogen, und mein Vater hat ein Loch in einen Karton geschnitten und zwei Hasenohren drangeklebt. Wir landeten damit einen Hit in unserem Haus. Oh, und einmal haben wir die Praktikanten im Büro losgeschickt, bei den anderen Firmen im Gebäude ›Süßes oder Saures‹ zu spielen. Wir verkleideten sie als Hasen, Kürbisse und Geister und schickten sie los, Süßigkeiten für uns zu organisieren. ›Müssen wir das machen?‹, fragte einer. Gott, was für eine Heulsuse, und ich sagte, ›wenn du deinen Job behalten willst, machst du es‹. Also sind sie losgezogen, brachten aber nichts Süßes mit. Keiner hatte geahnt, dass ›Süßes oder Saures‹ auf sie zukommen würde, und so brachten sie Red Bull, Hustenbonbons und Pfefferminzbonbons mit!«

Renny war in der Werbung. Es gibt noch viel mehr solcher Geschichten von ihr, und in den meisten, wenn nicht in allen, geht es um das Terrorisieren der armen, einfältigen Praktikanten. »Raue Liebe« nennt sie das, was alle durchlaufen mussten, als sie jung und dumm waren und verzweifelt in die professionelle Welt vordringen wollten.

»Meine Mutter hat sich an meinem Meerjungfraukostüm die Finger wund gebastelt«, erzähle ich und lege meine Füße auf das Armaturenbrett. »Sie war nicht gerade eine große Schneiderin, aber sie hat meine Erwartungen weit übertroffen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie verzweifelt ich war, weil in jenem Jahr vor Halloween ein derber Schneesturm stattfand. Mit der Schwanzflosse in einem halben Meter Schnee rumzuwatscheln war … Na ja, ich sah total bescheuert aus. Ich weiß noch, wie sie und ihr Freund mich die Treppe zum Nachbarhaus hochtragen mussten, damit ich Süßigkeiten bekam. Warum zur Hölle tun sie so was nur?«

»Wer?«, fragt Ted. Er nimmt die Brille ab, um an dem Klebeband herumzufummeln, das sie zusammenhält. Egal, was er unternimmt, die Brille ist nicht zu retten.

»Eltern. Sie sind so … wenn man bedenkt, dass sie mich jede einzelne Stufe hochtrug, und alles nur, weil ich mir das denkbar blödeste Kostüm ausgesucht hatte – eine Schwanzflosse … meine Güte. Und natürlich war das Ding am Ende des Abends komplett ruiniert, völlig aufgeweicht vom Schnee. Aber Mom war so dankbar, so glücklich mit mir, als ich ihr all die Süßigkeiten zeigte, die ich bekommen hatte. Ich wette, sie war auch total erschöpft, aber sie hat es nicht gezeigt, jedenfalls nicht vor mir.«

»Machen wir das deshalb? Fahren wir nur nach Colorado, weil du dich schuldig fühlst, dass du dein Meerjungfraukostüm kaputtgemacht hast?«, fragt Renny grinsend.

Da sie mich nur hochnehmen will, zucke ich die Achseln. »Vielleicht, vielleicht ist genau das der Grund.«

»Langweilig!«, ruft Ted vom Rücksitz. »Die Nächste!«

»Schön, wie ist es hiermit? Letztes Jahr hatte ich für das Halloween-Schaufenster des Buchladens versehentlich ein Buch mit dem Titel Als Hexe von Tür zu Tür bestellt«, erzähle ich. »Aber Titel können so trügerisch sein. Bei näherem Hinsehen erwies es sich nämlich als ein knallhartes Sachbuch über die Ausbeutung von Callgirls …«, Ted prustet los und hämmert mit der Faust gegen meine Kopfstütze, um seine Begeisterung zu demonstrieren, »… nicht gerade geeignete Lektüre für neunjährige Mädchen im Prinzessin-Jasmin-Kostüm. Wir haben es Gott sei Dank noch rechtzeitig bemerkt, bevor die Kunden es in die Finger bekamen.«

»Ted?«, fragt Renny, während sie um einen umgestürzten Sattelschlepper manövriert. Auf der Ladefläche stehen Drahtkäfige, allesamt offen, zerstört oder blutig. Eine dicke Spur Federn ist immer noch auf der Straße verschmiert.

»Was?«

»Du bist dran«, sagt Renny.

»Wir haben kein richtiges Halloween in China«, antwortet er und trommelt mit den Fingern gegen die Tür. »Es gibt Teng Chieh, denke ich, und das Fest der hungrigen Geister.«

»Verarschst du mich?«, fragt Renny.

»Nein, ich verarsche dich nicht, Renny. Was ist denn daran so unglaublich? Sicher, ich hatte nie das Privileg, mich mit einem Karton mit Hasenohren zu verkleiden, um mich darin öffentlich zu erniedrigen, aber so schlecht war es auch wieder nicht.«

»Arschloch.«

»Trotzdem«, sagt er und wischt sich sein Haar aus der Stirn. »Hey, einmal habe ich bei der Teng-Chieh-Feier die Fotografie meines Großvaters in Brand gesetzt. Ein blöder Unfall, aber Mann, war meine Mutter sauer. Überall standen brennende Laternen … Es musste einfach passieren.«

»Das klingt nach echter Reue, Ted«, sage ich. »Deine Mutter muss sehr stolz sein.«

»Oder tot … wahrscheinlich …«

»Komm schon«, sagt Renny seufzend, »das versaut es uns jetzt.«

Bis Iowa City schweigen wir wieder. Ich grübele darüber, was Ted über seine Mom gesagt hat. Ich weiß, es ist eine Art Selbstschutz, so lässig mit ihrem Tod umzugehen. Aber irgendwie wäre sie es wert, dass er um sie weint. Vielleicht hat er es wirklich so hingenommen, vielleicht weiß er, dass er seine Verwandten nie wiedersehen wird. Eine Familie zu verlieren, eine ganze Familie und dann auch noch Holly … Es muss etwas in ihm sein, etwas, das langsam nach oben drängt und nur darauf wartet hervorzubrechen, aber er lässt es uns nicht sehen. Vielleicht ist er nicht der Einzige, der alles verloren hat. Renny und ich haben keine Garantie, dass unsere Familien oder Freunde es geschafft haben. Sicher, ich habe die Notiz von meiner Mom, ich weiß, wohin sie will, aber ein Teil von mir fühlt, dass es unmöglich ist, einfach … unmöglich, dass ich sie wiedersehe.

Von Zeit zu Zeit öffne ich mein Laptop und suche nach einem Fenster drahtloser Verbindung zum Rest der Welt, aber da ist nichts. Das letzte Flimmern einer Verbindung gab es, kurz bevor wir losfuhren. Das war meine letzte Gelegenheit, euch alle zu erreichen.

In der Abenddämmerung erreichen wir Iowa City. Es ist ein Kriegsgebiet. Schlimmer als das Barrikadenchaos vor der Arena, schrecklicher als alle verlassenen, brennenden Städte, durch die wir bisher gefahren sind. Renny navigiert uns auf die Interstate 80, und die Stadt gleitet links an uns vorüber. Schmorende Gebäude, die wie rote Augen im verschleierten Zwielicht glühen. Ted kurbelt das Fenster ein paar Zentimeter herunter, und wir hören das Knistern der brennenden Bauten, dann Gewehrfeuer. Dapper kommt hoch und schnüffelt in der Luft.

»Sie müssen versuchen, Unmengen von denen abzuwehren«, murmelt Ted, die Nase ans Glas gepresst.

Plötzlich taucht vor uns eine solide Wand aus Fahrzeugen auf, quer über die Straße gestellt, von Leitplanke zu Leitplanke. Es ist kein Ende der Blockade in Sicht, kein Weg hindurch. Zu viele Autos, LKWs und Motorräder türmen sich vor uns auf, als hätte ein Riese sie zum Spielen eingesammelt und dann in einem Wutanfall fortgeschleudert. Wir wenden und suchen eine Abfahrt, verlassen die Interstate 80, nehmen eine Parallelstraße und landen in einem kleinen Gewerbegebiet mit Fastfoodläden und Baumärkten.

Am Ende der Ausfahrt schimmern Lichter, aber es handelt sich nicht um Verkehrsbeleuchtung. Gegenüber der Straße liegt ein Parkplatz, wo Lampen brennen. Er gehört wohl zu einem Lebensmittelmarkt oder einem Warenhaus, aber das lässt sich in der Dämmerung schwer ausmachen. Renny drosselt das Tempo, und wir erkennen, dass die Straße auf fast allen Seiten von Autoreihen blockiert ist.

»Das sieht nicht nach einem zufälligen Schrotthaufen aus«, keuche ich, »da steckt ein Plan hinter.«

Ich spüre diesen Schmerz im Magen, diese Anspannung, und bin wieder in der Vorschule gefangen, fühle, wie der Schrecken meine Kehle hochkriecht.

Wir rollen auf den Parkplatz. Bewegung entsteht, Figuren, Schatten. Es ist Halloween. Ich sollte Evan und Mikey helfen, in ihre Kostüme zu kommen, und den letzten Schliff am Wall-E-Piraten vornehmen, stattdessen sitze ich in einem kalten Auto und ringe die Hände, als ein riesiger Mann mit Bart an die Scheibe tritt.

Langsam kurbelt Renny sie herunter, nur ein bisschen, denn wir sehen die Gewehrriemen, die über die Schultern des Mannes gespannt sind. Auf die Tasche seines Mantels ist eine Art grobes Abzeichen genäht. Der Geruch von Pfeifentabak erfüllt die Kabine, als er seine Nase direkt in den Spalt bohrt.

»Halt, Bürger, halt!«, gibt er laut von sich. Einige Männer hören den Ruf und kreisen den Wagen ein. Ich sage Männer, aber es ist schwer auszumachen, was sie sind. Ich kann das Glimmen von Zigaretten erkennen, die wie kleine rote Kirschen aufglühen, wenn die Gestalten daran ziehen.

»Sie müssen aussteigen, junge Dame«, sagt der Mann und klopft mit dem Lauf seines Gewehrs an die Scheibe. Es quietscht, als das Metall über das frostige Glas streicht. »Ich sage das nur einmal. Der Rest von euch muss auch aussteigen.«

Renny blickt mich an. Der Parkplatz vor uns ist frei, aber wir müssten eine Reihe »Fußgänger« niedermähen, um freizukommen. Ich nicke kaum wahrnehmbar, und sie fängt an, das Fenster wieder hochzukurbeln. »Leck mich am Arsch, Cowboy«, sagt sie. Der Mann packt sein Gewehr mit beiden Händen und versucht, es durch die Scheibe zu rammen. Dapper rastet aus, bellt und knurrt, seine Rute vollführt einen Trommelwirbel auf dem Rücksitz.

»Niggerhure!«, schreit er. Renny tritt aufs Gas, der Wagen macht einen Satz vorwärts und säbelt einen anderen Mann um. Das Fenster ist wieder oben, und ich höre nicht viel von seinem Schrei. Dann sehe ich im Rückspiegel die Nacht zum Tage werden und höre das vertraute Rat-ti-klack von Gewehrschüssen. Wir kommen nur wenige Meter weit, dann zerspringt das Rückfenster.

»Runter!«, schreie ich. Aber es ist zu spät, ich höre Ted auf dem Rücksitz aufstöhnen, dann wild fluchen, schnaufen und keuchen.

»Oh Gott, wo bist du getroffen?«, rufe ich und halte den Kopf unten, löse meinen Gurt und krieche nach hinten durch. Das Gewehrfeuer durchlöchert das Heck, wird aber leiser und leiser, während wir davonfahren.

»Wo soll ich hin?«, schreit Renny und kurvt wild über den Parkplatz.

»Scheiße, irgendwohin, egal, bring uns einfach raus hier!«

Ich wälze Ted auf den Rücken und sehe, dass seine Schulter rapide dunkel wird, dort wo sein Sweatshirt das Blut seiner Wunde aufsaugt. Ich stoße Dapper weg, der jault und versucht, seine Nase unter meinem Arm durchzubohren. »Scheiße«, stammle ich, »Scheiße, Scheiße, Renny, er ist getroffen!«

»Halt durch!«

Ich nehme Ted um die Schultern und drücke ihn fest an mich. Der Cavalier trifft auf einen hohen Kantstein und schleudert nach rechts und links, die Kofferraumhaube springt beim Aufprall auf. Ted zittert und heult vor Schmerz in meinen Nacken. Ich spüre die Nässe seines Blutes auf meinen Händen, während ich versuche, ihn ruhig zu halten. Ich bin nicht qualifiziert, so was zu regeln. Alles, was ich über die Behandlung von Wunden weiß, stammt aus schlechten Fernsehfilmen, und mir ist klar, dass wir damit nicht weit kommen. Ich ziehe mein Shirt aus, balle es zusammen und presse es auf seine Schulter.

»Gahh, Scheiße, was machst du?«, keucht er.

»Einen Druckverband! Ich mache einen Druckverband, okay?«

»Okay.«

Renny fährt wie eine Wahnsinnige, lenkt und tritt dabei das Gaspedal durch. Ich befürchte, die nächste Schwelle wird Ted, Dapper und mich durch die Luft fliegen lassen wie ein paar besoffene Astronauten. Ted scheint sich beruhigt zu haben. Entweder das oder er wird gerade ohnmächtig.

»Ich glaube, wir sind raus«, sagt sie völlig außer Atem. Auf jeden Fall gibt es weniger Stöße. Immer noch das Shirt auf die Wunde gedrückt, hebe ich meinen Kopf, um aus dem Fenster zu sehen. Wir fahren unterhalb der Interstate 80, die enormen Betontrassen auf beiden Seiten werden zu Strahlen, während wir über das Gras rasen. Ich halte Ted fest, als Renny durch einen Maschendrahtzaun kracht und dann auf einen flachen Damm fährt. Durch die neblige Dunkelheit kann ich vor uns, gegenüber der Straße, eine Gruppe flacher Gebäude ausmachen. Wir sind eine Schleife gefahren, haben das Einkaufscenter hinter uns gelassen, nur um auf dem nächsten Parkplatz mit einer Ladenreihe anzukommen.

»Renny«, sage ich und beobachte ein Muster aus Lichtern, die auf uns zuschwanken – ein paar Taschenlampen darunter und etliche waschechte Fackeln. »Renny, da kommt jemand.«

Sie dreht sich im Fahrersitz um, und wir betrachten die Flammen, die näher und näher kommen. Langsam kurbele ich das Fenster herunter und ziehe die Pistole aus meinem Hosenbund. Ich ziele auf das nächste Licht. Die Fackeln schwenken vor und zurück, als ob sie einem Flugzeug winken wollten.

»Ihr kommt am besten in friedlicher Absicht«, rufe ich und klopfe mit dem Knauf der Waffe auf den Rand der Scheibe. Dapper quetscht seine Nase an das Glas und sieht argwöhnisch zu, wie die Fremden sich nähern.

»Freunde«, sagt eine kräftige Frau mit lockigem rotem Haar. »Nicht schießen, nicht schießen. Wir haben die Schüsse gehört. Seid ihr in Ordnung?«

»Nein«, sage ich und richte die Waffe auf ihr Gesicht. »Einer von uns ist verwundet.«

»Ihr habt von uns nichts zu befürchten«, sagt sie und hebt die Hände, der Taschenlampenstrahl verschwindet in der Dunkelheit. »Ich nehme an, ihr seid der Landwehr begegnet.«

»Wem?«

»Der Landwehr. Sie sind die Miliz in dieser Gegend«, sagt sie und senkt die Hände wieder. »Sehen Sie, ich kann Ihnen das alles erklären, aber bitte nehmen Sie die Waffe runter, wir werden Ihnen nichts tun.«

»Tu es, Allison«, sagt Renny und schaltet den Motor aus.

»Nein, nein«, ruft die Frau, »starten Sie den Wagen wieder, folgen Sie uns zurück zum Lager.«

Ich senke die Pistole, und Renny manövriert uns nach rechts, folgt langsam der Gruppe vor uns. Sie führen uns etwa hundert Meter weiter zu einem Lager aus selbstgemachten Zelten zwischen einem Betonpfeiler und einem schäbigen, von Einschüssen zersiebten Ziegelbau. Er sieht aus wie ein Wartungsschuppen. Ein Stück weiter stehen noch andere Gebäude – eine riesige Tankstelle und etwas, was mal ein Starbucks gewesen sein könnte. Feuer hat die meisten Formen zerstört, die Gebäude verkohlt und gesichtslos hinterlassen.

»Sollen wir aussteigen?«, frage ich. Renny starrt mich an, ihre Augen glühen fast, als sie auf Ted blickt, der zusammengekrümmt hinten im Fußraum liegt.

»Vielleicht helfen sie uns«, sagt sie und zuckt die Achseln. »Und wir können nicht weiterfahren, nicht bei seinem Zustand.«

»Dann sind wir uns einig? Wir bleiben hier, bis Ted außer Gefahr ist, und dann geht’s weiter.«

»Ja, aber warum fragst du mich?«

»Weil ich nicht die einzige Verantwortliche sein will, wenn sich das hier als eine kolossale Scheiße entpuppt.«

»Ich glaube nicht, dass wir groß die Wahl haben«, sagt Renny und zuckt wieder die Achseln. »Er ist in schlechtem Zustand.«

Renny steigt aus und geht um den Wagen herum, um mir mit Ted zu helfen. Seine Wimpern flattern, als wir ihn vorsichtig aus der Limousine hieven. Ein tiefes, schmerzvolles Stöhnen verlässt seine Lippen, aber er scheint bewusstlos zu sein. Dapper trottet neben uns her und versucht, Teds Gesicht zu lecken, wahrscheinlich, um ihn zu trösten.

»Bringt ihn hier rüber«, sagt die rothaarige Frau und leuchtet uns den Weg. In ihrer Begleitung befinden sich ein großer Mann mit einem fleckigen Stetson und eine schlaksige Frau mit einer dicken Mähne aus schwarzen Haaren. Der Cowboy verschwindet im Schatten und kommt dann wieder, wobei er sich ein ernst zu nehmendes Beil am Hosenbein abwischt. »’tschuldigung«, murmelt er, »die verdammten Dinger geben einfach nicht auf.«

Sie leuchten uns einen Pfad, während wir Ted schleppen und versuchen, seine Schulter so wenig wie möglich zu traktieren. Der dunkle Fleck hat sich die Schulter hinunter bis über den Ellenbogen ausgebreitet. Ich kann das nicht weiterdenken. Ich will mir nicht vorstellen, dass Ted hier möglicherweise verblutet, während wir herumstehen und hilflos zusehen.

Die Zelte sind primitiv, aber durchaus stabil. Dennoch führt uns die Frau in den Geräteschuppen, wo ein flackerndes, dämmrig gelbes Licht tatsächlich noch funktioniert. Ehrfürchtig starre ich die Glühbirne an. Vielleicht habe ich eine Chance, mein Laptop aufzuladen.

»Notstrom«, raunt sie, flüsternd wie beim Gebet. »Wir hoffen nur, dass er durchhält.«

Sie verschwindet mit den anderen beiden. Mit einem Schlafsack, einigen Kissen und einem Müllsack kommen sie zurück. Sie bereiten ein Bett für Ted und bedecken es dann mit Plastik, damit er den Schlafsack nicht vollblutet. Er ächzt und zittert, als wir ihn darauflegen, auf seinem Gesicht steht der Schweiß.

»Danke«, sage ich und strecke der Rothaarigen die Hand entgegen. Sie schüttelt sie, ungerührt von dem Umstand, dass meine Finger völlig mit Blut besudelt sind.

»Nanette«, sagt sie und nickt. Ihre Nase ist schmal, ein wenig gekrümmt. Sie hat verkniffene Gesichtszüge, wirkt aber freundlich und trägt ein fleckiges Wollhemd mit Aufnähern an Schultern und Ellenbogen.

»Allison«, erwidere ich. »Und das ist Renny, der Hund heißt Dapper und das arme Schwein da Ted.«

Nanette stellt die anderen vor: Dobbs (mit dem Hut) und Marie (mit den schwarzen Haaren).

»Es tut mir leid, dass ihr diesen Teufeln in die Arme gelaufen seid«, sagt Nanette und schneidet eine Grimasse. »Sie sind einfach … Oh, sie sind unsäglich, einfach unsäglich. Die Art, wie sie uns schikanieren, wie sie sich einfach alles nehmen, was sie wollen! Verabscheuungswürdig!«

Nanette spricht, wie ein Dachshund denken muss, Schnellfeuer von einer unbeschreiblichen nervösen Energie. Ihre Gedanken sprühen und regnen auf jeden nieder, während sie auf ihr Ziel zurasen.

»Langsam«, sage ich und werfe einen nervösen Blick auf Ted, dessen Zustand sich vor unseren Augen zu verschlechtern scheint. »Wer sind diese Leute?«

»Die Landwehr«, sagt Dobbs. »Sie bilden sich ein, sie müssten hier die Stellung halten und den Ton angeben, bis die Regierung eingreift. Aber sie haben es nicht begriffen … Die Regierung kommt nicht. Niemand kommt. Sie wollten nur das, was wir hatten.«

»Was war das?«, fragt Renny.

»Den Wal-Mart«, antwortet er. »Da lief es ganz gut für uns – gut zu verteidigen, jede Menge Vorräte, Waffen und Essen und all so was. Dann kreuzten die von der Landwehr auf und haben uns fast alle umgebracht. Sie verkündeten, dass der Wal-Mart ihnen zusteht und es ihre Pflicht sei, ihn zu beschlagnahmen. Das haben sie gesagt. Sie sollen meinen Arsch beschlagnahmen, diese dreckigen, verlogenen Diebe.«

»Da müssen wir durchgekommen sein«, sagt Renny.

»Der Wal-Mart ist jetzt eine Festung, und sie haben mehr Schusswaffen, als sie je gebrauchen können.«

»Das ist Scheiße«, sage ich. »Und es tut mir ehrlich leid, aber … also passt auf, wir müssen unbedingt Ted zusammenflicken. Kennt einer von euch einen Arzt? Habt ihr einen Erste-Hilfe-Kasten oder so was? Da draußen stehen doch viele Zelte, wohnt da vielleicht eine Krankenschwester? Irgendwas?«

»Tja«, sagt Dobbs und wendet den Blick ab. »Wir hatten einen Arzt.«

»Hatten?«

Scheiße.

»Julian … Das ist mein … Das war sein Name. Als die Milizjungs uns rausgeworfen haben, hatten sie nicht nur ihre Knarren, sondern auch Granaten, selbstgebastelter Kram, und Julian war der Letzte … Entweder haben sie ihn in die Hölle gesprengt oder er sitzt dort gefangen. Ich glaube nicht, dass sie ihn töten würden, dafür ist der Hurensohn einfach zu wertvoll.«

Nanette legt ihm eine Hand auf die Schulter und sieht aus, als wäre gerade ihr geliebter Hund von einem Zementmischer überrollt worden. Dobbs schüttelt sie ab und verbirgt die Augen unter seiner Hutkrempe.

»Also habt ihr keinen Arzt, und es gibt nichts, was wir tun könnten?«, fragt Renny.

Dobbs und Nanette wechseln einen trostlosen Blick. Sogar Dapper spürt es und schrumpft an meine Schienbeine geduckt zusammen.

»Also …«

»Nein«, sage ich. »Auf keinen Fall. Ihr seid verrückt, wenn ihr glaubt, wir gehen da rein und holen ihn raus.«

»Du hast eine Waffe«, sagt Maria und zeigt darauf.

»Na und? Habt ihr nicht gesagt, dass sie bis an die Zähne bewaffnet sind? Die Pistole hilft einen Scheiß, wenn sie mit Gewehren auf uns schießen.«

»Maria kennt den Laden in- und auswendig. Sie kann euch den Weg hinein zeigen«, schlägt Nanette vor.

»Nein, absolut nicht.«

Ted erwacht, zittert, wälzt sich hin und her und stöhnt, murmelt. Ich kann mich nicht an Einzelheiten erinnern. Ich will nicht.

»Allison«, sagt Renny und packt mich am Ellenbogen. »Kann ich mal kurz mit dir reden? Allein?«

Wir gehen nach draußen und stehen im kalten, hässlichen Schein der Notbeleuchtung. Dapper sitzt neben mir, aus purer Gewohnheit lege ich ihm die Hand auf den Kopf. Rennys Mund zittert, während sie an mir vorbeisieht, hinaus auf den Highway. »Wir haben nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir lassen Ted hier und fahren ohne ihn weiter oder wir versuchen, einen Arzt aufzutreiben.«

»Nein, drei. Drei Möglichkeiten, Renny. Wir können den Arzt vergessen und es selbst versuchen.«

»Chirurgie? Ich – wir?«

»Ich lasse ihn nicht hier, Ren. Ich kann nicht. Er ist bei mir seit … von Anfang an. Das hat er nicht verdient.«

»Hast du dir seine verdammte Schulter mal angesehen? Das ist ein Fiasko!«

»Ich bin kein großer Krieger, Renny. Ich bin eine lausige Schützin. Wenn Ned hier wäre oder Collin, ja, dann … Hör zu, es ist sinnlos, zu spekulieren. Aber mit der Kanone im Anschlag da reinzustürmen ist die beschissenste Idee der Welt.«

Renny blickt über die Schulter und beißt sich auf die Unterlippe. Als sie sich mir wieder zuwendet, senkt sie die Stimme. »Dobbs sieht verlässlich aus. Es muss nicht schlecht ausgehen. Vielleicht gibt es einen sicheren Rückweg.«

»Ja, er ist Jesse James oder wer auch immer, aber drei von uns werden nicht reichen, und du weißt das.«

»Was, wenn es nur eine ist?«, sagt sie und starrt mir dabei in die Augen, dass mir ein kalter Schauer übers Rückgrat läuft. »Wenn die es nicht schafft, dann tut eben die andere für Ted, was sie kann.«

Darüber sollte ich wirklich gründlicher nachdenken, es eine Stunde durchgrübeln, aber wir dürfen keine Zeit verschwenden. Nicht jetzt, nicht wo Ted dem Licht am Ende des Tunnels näher und näher rückt.

»Stein, Schere, Papier?«

Schere schlägt Papier – Scheiße!

Stein schlägt Schere – Hurrah!

Papier schlägt Stein – Doppelscheiße.

»Gute Reise«, sagt Renny grinsend. »Ich passe gut auf Dapper auf.«

»Guck nicht so hämisch. Wenigstens muss ich nicht bis zum Ellenbogen in Teds Schulter herumfuhrwerken.«

Renny umarmt mich. Für eine Minute stehen wir einfach nur da, lassen die Erleichterung wirken und dann die Verzweiflung. Als wir beide spüren, dass in der nächsten Sekunde Tränen fließen werden, lassen wir schnell los. »Wenn ich auf Frauen stünde, wärst du meine erste Wahl, Baby.«

»So viel Glück hast du nicht«, sagt sie und klopft mir auf die Schulter.

»Auf meinem Computer ist eine Datei, ein Dokument. Es heißt 103109 und liegt gleich auf dem Desktop. Lauf heute Abend mal ein bisschen draußen herum, vielleicht in Richtung Wal-Mart, guck, ob du ein Signal bekommst, und lade sie hoch. Du findest das Programm leicht, es führt dich direkt zu einem Menü, wo du die …«

»Ich bin keine Vollidiotin und habe durchaus schon mal einen Computer benutzt.«

»Gut. Danke. Hol Maria raus. Sag ihr, dass wir jetzt losgehen. Sie braucht nicht mit reinkommen, nur bis zur Tür.«

Ich beobachte, wie Renny wieder reingeht. Sofort beginnt Dapper meine Hand zu lecken. Er spürt, wie immer, dass etwas ansteht. Ich weiß nicht, wie er das macht, wie Hunde es schaffen, stets genau zu wissen, wann die Dinge sich vom Üblen zum Schlimmsten wandeln. Ich kraule ihn hinter den Ohren, dann knie ich mich einen Moment neben ihn und lasse ihn mein Gesicht lecken. Er winselt mich an. Er ist hungrig wie wir alle.

»Sei ein guter Junge«, sage ich und drücke für einen kurzen Moment meine kalte Nase gegen seine. »Und pass auf Ted auf. Er braucht jemanden, der ihn aufheitert, wenn er zu sich kommt. Und grüß mir meine Mom, wenn du sie triffst. Ich glaube, sie würde dich sehr mögen.«

210352.jpgKOMMENTARE

Isaac:

31. Oktober 2009 18:12 Uhr

Allison, ich glaube wirklich nicht, dass das eine gute Idee ist. Überhaupt keine gute Idee. Halloween? Klingt für mich nach großem Pech.

steveinchicago:

31. Oktober 2009 19:04 Uhr

himmel, das ist wie in besessen teil 1–3, alles wieder von vorne. komm schon, lass es sein. bereite mir nicht wieder schlaflose nächte, allison.

Norwegen:

31. Oktober 2009 19:27 Uhr

Höhle! Ab in die Höhle! Geh nicht, renn zum nächsten Boot und schaff deinen Arsch hier rüber. Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache, Allison.

Isaac:

31. Oktober 2009 20:34 Uhr

Zu spät, fürchte ich. Sie ist schon weg.