1. NOVEMBER 2009 – SURVIVAL OF THE SICKEST

»Vorsichtig«, flüstere ich und lege Maria die Hand auf die Schulter. »Wir können die Waffe nicht benutzen, noch nicht.«

Mit nur einer Schusswaffe für uns beide und Unsichtbarkeit als oberster Priorität sind Maria und ich gezwungen, die Untoten von Hand zu erledigen. Sie ist geschickt mit ihrem Beil, und ich habe immer noch meine Axt, sodass wir einigermaßen gut vorankommen. Ohne Taschenlampe ist es schwer, sie kommen zu sehen. Sie neigen dazu, sich in der Dunkelheit aufzulösen, vermischen sich mit den Schatten und fallen ohne Vorwarnung über dich her. Das leise Flüstern von Gras hat mehr als einmal meinen Arsch gerettet.

Wir hocken hinter einer niedrigen Hecke aus irgendwelchen Pflanzen, die versuchen, mir das Fleisch von den Knochen zu schlitzen.

Maria zeigt mir den Hintereingang. Hier stehen Dutzende von Sattelschleppern. Die schlummernden Giganten verstopfen immer noch die Rampe, stehen bereit zur Entladung von Sportartikeln, Damenunterwäsche oder Wassermelonen. Was auch immer da drin gewesen war, dürfte schon lange verschwunden sein. Eingetauscht oder von der Landwehr verbraucht. Maria und ich pirschen uns langsam an, geduckt hinter Büschen und vertrockneten Bäumchen. Keine besonders gute Deckung, aber im Dunkel genügt sie, um uns für ein, zwei Minuten zu verbergen.

Die ganze Zeit über komme ich nicht umhin, darüber nachzudenken, was für ein gottverdammt lächerlicher Plan das ist. Weiter hinten in meinem Hirn lauert beharrlich ein Gedanke und lässt sich nicht verscheuchen. Einen Arzt zu haben, einen Arzt zu retten, könnte unser Leben erheblich erleichtern. Maria zeigt stumm auf eine Patrouille, die nur ein paar Meter vor uns vorübermarschiert, ihr Zigarettenqualm bildet in der Luft kleine silberne Schlangen, die sich mit den Atemwolken vermischen. Die Typen sind nah genug, um den billigen Tabak zu riechen. Sie lachen und schwatzen und verschwinden dann hinter einem der LKWs aus unserem Blickfeld. Maria nimmt mich an der Hand, und wir schleichen über einen kleinen Kiesstreifen zum Gebäude.

»Hier ist die Tür«, sagt sie. »Sie schließt nicht mehr. Wir haben sie aufgebrochen, als wir das erste Mal geflohen sind. Nimm das hier.«

Sie schiebt mir ein zerknülltes Stück Papier in die Hand.

»Was ist das?«

»Ein Lageplan. Er ist nicht sehr gut, aber er vermittelt dir eine Ahnung, wo der Flur ungefähr hinführt. Alles ist nicht maßstabsgetreu, aber es sollte helfen …«

»Danke dir«, sage ich und blinzle auf das kryptische Wirrwarr von Schnörkeln und Quadraten herab. »Viel Glück auf dem Rückweg.«

»Ha«, entgegnet sie und klopft mir auf die Schulter. »Ebenso.«

Ich warte nicht, bis sie verschwunden ist, sondern öffne vorsichtig die Hintertür. Ich befürchte, die Patrouille wird bald zurück sein, und will keine weitere Sekunde verschwenden. Es ist ohnehin ein Himmelfahrtskommando, und das sollte ich schnell hinter mich bringen. An die Wand gepresst, schiebe ich mich durch den eisigen, dunklen Flur, eine Hand auf dem kalten Stein, um die Balance zu halten. Marias Karte ist mehr oder weniger unbrauchbar. Schriftrollen aus dem Toten Meer sind leichter zu entziffern. Ich glaube, das Ding will mir sagen, dass es sich bei dieser Hintertür um einen Angestellteneingang handelt. Der Menge von Zigarettenkippen, die über den Boden verstreut sind, nach zu urteilen, muss es der beliebteste Platz für Zigarettenpausen sein. Der Flur hat drei Ausläufer, zwei davon mit Türen, einer ist ein weiterführender Korridor. Es gibt eine vage Andeutung, wo ich hingehen sollte. Vorschläge aus rot gepunkteten Linien auf der Karte. Ich erinnere mich, dass Dobbs eine Explosion erwähnt hat, also gehe ich weiter und suche nach Spuren einer Sprengung.

Stimmen kommen und gehen, hallen den Flur hinunter und dringen aus Luftschächten hoch über mir. Eine elende Situation. Keine Chance zu erkennen, ob die Wachen gleich um die nächste Ecke stehen oder am Ende eines anderen Flures. Es ist, als versuchte man, in einer gewundenen leeren Rohrleitung mit Echos und Klingeltönen von allen Seiten zu laufen. Ich passiere etwas, das wie ein Pausenraum aussieht. Er ist leer bis auf ein paar Tische und Verkaufsautomaten mit eingeschlagenem Glas. Die Vorstellung, hier längere Zeit zu leben, verursacht mir spontan eine Gänsehaut, so steril und kalt wirken Farben und Oberflächen. Das soll nicht heißen, dass die Arena besonders gemütlich gewesen wäre, aber wenigstens gab es dort ein paar farbenfrohe Zelte. Vielleicht sorgen nur die Umstände dafür, dass mir alles so trostlos vorkommt, schließlich schleiche ich hier herum wie ein grotesker Billig-Ninja und klammere mich mit sinnloser, schwacher Hoffnung an eine zerknüllte Karte.

»Du frisst das jetzt, du Schwuchtel, und es schmeckt dir gefälligst.«

Ich bleibe stehen, mein Blut gefriert zu Eiswasser. Eine Tür schlägt auf, zu nah, und ein Feuerzeug macht zick-zick-zick, zündet aber nicht. Ich halte den Atem an und bin sicher, dass mich der Mann an die Wand gepresst sieht, sobald die Flamme den Flur erhellt.

»Nicht schon wieder. Scheißteil«, sagt er und schiebt das Feuerzeug sowie die Zigarette zurück in seine Tasche. Dies ist das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich eine tiefe Verwandtschaft mit dem furchtlos in Mülltonnen tauchenden Unratbeseitiger der Nacht empfinde, mit Procyon lotor, unserem maskierten Freund, dem Waschbär. Der Schatten des Wächters fällt über meinen Kopf, wogt über mich hinweg und verschwindet. Ich stelle fest, dass ich nur ein oder zwei Meter von der letzten Tür am Ende des Ganges entfernt bin. Es handelt sich um eine jener Türen, die auf der Karte markiert sind. Der Wächter verschwindet in dem angrenzenden Korridor, immer noch Flüche wegen des defekten Feuerzeugs murmelnd. Ich weiß natürlich, dass er mein Herz nicht gegen meinen Brustkasten hämmern hört, aber es fühlt sich so an, als müsse es jeder mit halbwegs intakten Ohren hören.

Ich lasse einen Augenblick verstreichen, nur für den Fall, dass der Wächter sich entschließt, noch mal zurückzukommen, aber ich vernehme nur entferntes Getrampel und Gemurmel. Ich atme kräftig aus, lasse sämtliche Luft aus meiner Lunge entweichen. Trotzdem fühle ich wenig Erleichterung. Ich küsse den Lageplan und stecke ihn rasch in meine Gesäßtasche zu der Apfelgartenkarte und der Notiz meiner Mutter.

Das aufgebrochene Türschloss hängt nur noch an einer verbogenen Schraube. Sie haben außen zwei Halterungen an die Wand genagelt, an jeder Seite der Tür eine, und eine Holzplanke darin verklemmt. Vorsichtig hebe ich die Dachlatte an, öffne die Tür und nehme die Latte mit rein …

Klonk!

Ein Blechteller kracht neben meinem Kopf an die Wand, und eine matschige graue Masse regnet auf mich nieder.

»Ich hab gesagt, ich sterbe lieber, als dieses Gift zu essen!«

»Das ist kein Gift«, sage ich und lecke mir etwas Porridge von den Fingern. »Klumpig, ein bisschen eklig, aber kein Gift.«

»Wer bist du, du bist nicht der Wächter.«

»Der Wächter ist längst weg«, sage ich. »Ich bin Allison, und deine Freundin Nanette schickt mich.«

»Ah. Ein Rettungskommando. Und dazu noch eine Frau … Die Lage spitzt sich zu.«

Ich lehne die Latte an die Wand und mache ein paar Schritte in den Raum hinein. Ein Lager, die Wände mit halbleeren Regalen gesäumt, von oben flimmert eine Notbeleuchtung, erfüllt den Raum mit einem gelbschummrigen Flackern. Bei einem flüchtigen Rundblick entdecke ich einen Basketball, einen rostigen Kanister und einen Karton Baumwollshirts. An der gegenüberliegenden Wand sitzt ein Mann, die Beine ausgestreckt, den rechten Arm in einer notdürftig gebastelten Schlinge.

»Sind Sie Julian?«, frage ich.

»Ja, Julian Clarke, Doktor Julian Clarke.«

»Sie sehen nicht gerade wie ein Doktor aus.«

»Bereust du deine Aktion?«

»Sehr witzig«, entgegne ich und verdrehe die Augen. »Können wir uns ein bisschen beeilen? Wir müssen hier raus sein, bevor Ihr Freund zurückkommt.«

»Ich hoffe, du bist stärker, als du aussiehst, Süße«, sagt er und nickt in Richtung seiner ausgestreckten Beine. »Wir sind sofort unterwegs, wenn du meine ganzen hundert Kilo tragen kannst.«

Erst jetzt bemerke ich den dunklen Fleck auf seinen ramponierten Khakihosen. Ein großer Blutfleck an seinem Oberschenkel, direkt über dem Knie. Perfekt. Ein ungehobelter Arzt, der mehr wie ein Expeditionsteilnehmer aussieht als wie ein Chirurg, nicht laufen und seinen rechten Arm nicht benutzen kann. Ich mache mir im Geiste eine Notiz, Nanette persönlich zu kreuzigen – und zwar langsam –, falls wir hier je rauskommen.

»Dann nehme ich an, dass du für immer hier festsitzt«, ich zucke die Achseln und wende mich zur Tür.

»Das ist der wahre Geist.«

»Schön, was soll ich tun? Wenn du nicht gehen kannst, kann ich dich kaum gebrauchen.«

»Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit, Süße.«

»Okay, als Erstes: Hör auf, mir Scheiß-Kosenamen zu verpassen. Zweitens: Mach einen Vorschlag oder stell dich darauf ein, hier rausgeschleift zu werden.«

»Sind deine Augen so scharf wie dein Mundwerk?«, fragt er, immer noch an die Regale gelehnt. Wenn widerliche Selbstherrlichkeit ein Model suchen würde, wäre Dr. Clarke sicher Kandidat Nummer eins. Er sieht ein bisschen aus wie Dobbs, vorausgesetzt, der hätte den größten Teil seines Lebens in klimatisierten Büros und teuren medizinischen Lehranstalten verbracht statt im weiten Land. Der Doc hat eine hohe Stirn und einen hageren Kopf mit einer braunen, quastigen Mähne wie ein Löwe, ein blitzendes Lächeln und eine große Nase wie die Figuren auf antiken, griechischen Vasen.

»Meine Augen sind gut, danke der Nachfrage«, sage ich. »Worauf willst du hinaus?«

Seine Brauen hüpfen. »Meinst du bezogen auf hier und jetzt oder ganz grundsätzlich?«

»Hier und jetzt, bitte.«

»Siehst du das da?«, fragt er und nickt in Richtung des rostigen Kanisters im Regal.

»Ja.«

»Wühl mal ein bisschen dahinter herum. Ich glaube, ich habe da ein paar braune Flaschen gesehen, als sie mich hier abgeladen haben.«

Der rostige Kanister entpuppt sich als ein alter Benzinbehälter, hinter dem sich, wie Julian gesagt hat, ein paar dunkelbraune Kunststoffflaschen verbergen. Reinigungsalkohol, Wasserstoffperoxyd, Vaseline … Ich zähle meine Funde auf.

»Schnapp dir diese T-Shirts da, den Alkohol und das Wasserstoffperoxyd«, befiehlt er. Ich greife danach und zögere. »Herrgott noch mal, bitte. Bitte, edles Fräulein, würdest du die Güte haben, das alles herzubringen.«

»Klar, kein Problem.«

Ein übles Gefühl breitet sich in meinem Magen aus, denn ich ahne seine Absichten. Ich bin fast geschmeichelt von der Vorstellung, dass er mir nur ein, zwei Minuten nach der ersten Begegnung bereits so sehr vertraut … Aber andererseits, bleibt ihm eine Wahl? Wenn ich mir nur meine Mutter vorstellen könnte, einen gesunden, glücklichen Ted und wie wir alle die Straße nach Colorado runterbrausen …

»Setz dich«, sagt er und tätschelt den Boden mit seiner unverletzten Hand.

»Was ist dir passiert?«, frage ich.

»Arm oder Bein?«

»Na ja, beides?«

»Der Arm ist eine lange Geschichte, am besten heben wir die uns für später auf, wenn wir mehr Zeit haben. Das mit dem Bein passierte bei der Explosion. Ich habe wie ein Idiot versucht, auf dem Weg nach draußen noch Sachen zusammenzuraffen, das ist ziemlich nach hinten losgegangen. Wie du sehen kannst, ist mein Bein jetzt stolzer Besitzer eines etwa fünf Zentimeter langen Stücks Stahl.«

»Darf ich fragen, was du mitzunehmen versucht hast?«

»Zwei Wörter, Schätzchen: Pinot Grigio.«

»Oh, heilige Scheiße.«

»Was? Ich lecke lieber einem Elefanten den Arsch, als den Rest dieser Hölle nüchtern zu erleben. Nach einer Stunde oder zwei mit meinem Bruder muss ich entweder ein bisschen duselig sein oder es kommt zum Brudermord.«

»Ich wusste, ihr seht euch ähnlich.«

»Wir können später tratschen. Lass uns konzentriert bleiben, ja?«, kommandiert er. Auf dem Betonboden rutsche ich näher an ihn heran, stelle die Flaschen und die Schachtel mit den T-Shirts direkt neben sein Bein. »Gut, jetzt greif in meine Tasche.«

»Ja sicher, netter Versuch.«

»Hör mal, Schätzchen, wenn ich wollte, dass du mir den Sack massierst, würde ich fragen. Nein, ich will, dass du mein Messer rausholst.«

»Sie haben dich nicht durchsucht?«

»Doch, eine Horde waffenklirrender Iowa-Countryjungs hat es wirklich genossen, mich abzutasten. Sie fanden heraus, dass alles, was ich dabeihabe, kleiner ist als alles, was sie dabeihaben, und sie haben recht. Was sollte ich machen? Sie mit einem Taschenmesser erstechen? Sie haben Gewehre.«

»Du wärst überrascht, was man mit Gegenständen des Alltags alles machen kann«, sage ich und lächele in mich hinein.

»Ich erkundige mich später. Nimm das Messer. Da müsste auch ein Feuerzeug sein.«

In seiner linken Tasche befindet sich ein Schweizer Messer, gerade groß genug, um einige der wesentlichen Werkzeuge zu enthalten. Es ist ein schönes Messer mit seinem eingravierten Namen. Und ich stoße auf ein Feuerzeug, ein glattes silbernes Zippo. In diesem Moment lebt das schlimme Gefühl in meinem Magen so richtig auf und verwandelt meine Innereien in Matsch, in dem das Unbehagen wimmelt. Ich bin nicht gut mit Blut, und ich habe so ein Gefühl, dass …

»Chirurgie für Anfänger: Tu nichts, was ich dir nicht ausdrücklich gesagt habe. Verstanden?«

»Halt mal, halt mal, Chirurgie? Ich schneide das Ding aus dir raus?«

»Möchtest du lieber deine Zähne benutzen? Ja, du musst es herausschneiden. Ist das ein Problem?«

»Ich habe nur …«

»Angst?«

»Nein. Ich bin nur nicht gut mit … du weißt schon … Blut und Venen und Eingeweiden und solchem Zeug.«

»Süße, wenn du so lange durchgehalten hast, dann hast du bestimmt schon jede Menge Scheiße gesehen, hab ich recht?«

»Sicher.«

»Und wie ich aus dem finsteren Lächeln vor einer Sekunde schließe, hast du auch schon ein oder zwei Leute umgebracht. Auch richtig?«

»Ich … ja. Auch richtig.«

»Du kannst eine Waffe gegen jemanden einsetzen, aber du kannst keine Waffe benutzen, um mir zu helfen? Nebenbei, dass du hier bist und nicht Maria oder mein Bruder, bedeutet, dass du Hilfe suchst. Sie haben das Zauberwort ›Arzt‹ gesagt, und du hast dein Leben riskiert, um mich zu holen, also entweder brauchst du mich oder du willst eine Heilige werden. Also, was ist los? Ist jemand da draußen verletzt, jemand, der dir etwas bedeutet?«

»Also schön, da ist was dran«, sage ich und muss schwer schlucken. »Allerdings ist es ziemlich dringend. Und überhaupt, wieso bist du noch nicht gestorben?«

»Wenn ich an dem Scheißding ziehe und keine Möglichkeit habe, die Blutung zu stoppen, verblute ich. Die Zeit läuft mir davon, und wahrscheinlich hätte ich es bald allein versucht, wenn du nicht aufgetaucht wärst. Es ist ziemlich kompliziert, weißt du?«

»Okay«, sage ich.

»Wenn ich meinen verdammten Arm gebrauchen könnte, wäre es nicht so ein Problem, aber wie die Dinge liegen …«

»Schon gut. Ich hab’s kapiert. Also, womit fangen wir an?«

Julian streckt sein verletztes Bein aus und winkelt das andere an. Ich rücke langsam näher, fühle, wie mein Magen sich verkrampft, als führe ich Achterbahn. Es ist viel fürchterlicher, als Untoten die Axt in den Kopf zu hauen. Eine falsche Bewegung, ein Ausrutscher, ein Zögern, und ich könnte mit meiner Inkompetenz einen unschuldigen Mann töten.

Kein Druck!

»Du schwitzt«, sagt er.

»Ich bin im Begriff, dir das Bein aufzuschneiden, etwas Benehmen, bitte.«

»Immer schön der Reihe nach«, sagt er. »Wir, ähm, brauchen zuerst noch mehr Hilfsmittel.«

»Was?«

»Keine Angst. Wir können wahrscheinlich etwas benutzen, das es hier drin gibt.«

»Zum Beispiel?«, frage ich und lasse meinen Blick über die leeren Regale wandern. Julian späht ebenfalls in der Gegend herum, prüft die hier und da verstreuten diversen Gegenstände.

»Das wird nicht gerade schön, aber …«

»Wird es funktionieren?«, frage ich.

»Wahrscheinlich.«

»Das muss reichen«, sage ich und erhebe mich achselzuckend. Es ist ja sein Bein. »Was brauchen wir?«

»Schnapp dir den verpackten Campinggrill da, und … Das da, ist das ein Stemmeisen? Bring das auch her.«

Ich hole den unförmigen, großen Campinggrill und das Stemmeisen und bringe beides zu Julian. Es ist, als würden wir ins Mittelalter zurückgeworfen, ich stelle mir vor, wie ein Pfeilschaft aus seinem Bein ragt. Ich packe das Stemmeisen und den Grill aus und grüble argwöhnisch über Julians Absichten nach.

»Du brauchst eine Flamme. Ist da ein Brennstoffbehälter?«

Ich spähe in den Karton und ziehe einen runden Behälter von der Größe einer Süßkartoffel heraus. Ansonsten klappern nur noch ein paar losen Kleinteile in dem Karton.

»Das ist es, das ist der Brennstoff. Da gibt’s irgendwo eine Passung, sollte nicht schwer zu finden sein.« Julian zeigt auf die Rückseite des Campinggrills. Es stinkt mir zwar, die ganze Zeit herumkommandiert zu werden, aber ich bin zu neugierig, worauf er eigentlich hinauswill.

»Passt es? Schön, das sollte funktionieren. In Ordnung, zünde jetzt die Flamme an und stell sie heiß, so heiß wie es geht. Leg dann das Stemmeisen drauf und warte.«

Als ich mich wieder neben ihn knie, beginnt sein Plan in meinem Gehirn grausam Gestalt anzunehmen.

»Na fein, besser jetzt als später. Lass uns loslegen. Schneide ein gutes Stück über der Wunde das Hosenbein weg. Du brauchst Platz. Das Licht hier drin ist Scheiße, also geh nah ran, wenn du musst.«

Der Campinggrill zischt, die Flamme wird am Eisen bläulich. Ich kann den Brennstoff riechen, ein bittersüßer, scharfer Geruch, der mich ans Grillen im Sommer erinnert. Ich tue wie geheißen, komme mir vor wie ein Trottel, während er mir Schritt für Schritt erklärt, deutlich betonend, als wäre ich ein Kleinkind. Dennoch ertrage ich seine Art, denn sie führt hoffentlich dazu, dass er es hier rausschafft und Ted Hilfe bekommt. Dann fällt mir etwas ein …

»Scheiße«, sage ich und richte mich ruckartig auf. Ich sollte chirurgische Übungen dieser Art besser vermeiden.

»Was ist los? Oh Gott, hast du mich schon umgebracht?«

»Nein … dein … Dein Arm. Verflucht noch mal, wie konnte ich das übersehen?«

»Wir werden diese Brücke überqueren, wenn wir hinkommen. Wer weiß, wenn das hier gutgeht, kann ich dir vielleicht Anweisungen geben, deinem Freund zu helfen, richtig?«

»Ich hasse dich.«

»Sterilisiere jetzt die Klinge«, sagt er, lächelt und fährt fort: »Nimm die größte Klinge und erhitze sie von jeder Seite. Nimm eins dieser T-Shirts, schneide ein paar Streifen daraus. Lass dir Wasserstoffperoxyd über die Hände laufen, wisch sie an einem Shirt ab, und schütte auch etwas auf die Klinge. Gut. Gut. Mach die Klinge sauber, und los geht’s.«

»Himmel.«

»Atme tief durch, Allison«, sagt er und wird einen Augenblick lang ernst. Meinen Namen mit fester Stimme gesagt zu hören hilft ein wenig. Nicht sehr, aber doch genug, um anzunehmen, dass ich das Folgende bewältigen werde. Als ich zu ihm hochblicke, ist sein Lächeln verschwunden. Er sieht gar nicht schlecht aus ohne dieses Arschlochgrinsen. Und diese Ernsthaftigkeit, das stille Bitten in seinen Augen, lässt meine Hände ruhig werden, und ich wende mich wieder seinem Bein zu. Egal, ob er Ted helfen kann. Julian verdient es zu leben, selbst wenn er völlig mongoloid wäre.

»Nimm einen der Streifen und zieh ihn um meinen Schenkel fest, ein paar Zentimeter über dem Metall. Scheiße! Verdammt! Nicht so fest.«

»Entschuldigung! Entschuldigung, so besser?« Das ist wirklich schwer. Schwerer jedenfalls, als es aus seinem Mund geklungen hat.

»Ja, das ist gut. Du musst nur den Blutfluss verlangsamen«, sagt er und wischt sich mit seiner linken Hand die Stirn. Er schwitzt, die Tropfen sammeln sich in seinen Bartstoppeln. »Stell dir das Schrapnell wie einen Kompass vor, okay? Ich gebe dir die Richtung auf diese Art: Norden ist Richtung Gürtel, Süden Richtung Füße. Verstanden?«

»Ich kann nicht glauben, was wir hier tun.«

»Verstanden?«

»Verstanden. Himmel, sind deine Beine behaart. Ich kann nichts erkennen.«

»Du führst die Spitze der Klinge östlich des Metalls ein, sodass du es berührst, okay? Dann machst du einen kleinen Einschnitt, nicht zu tief, und ziehst das Messer nach Osten. Nach Osten, nicht nach Süden, niemals nach Süden, okay?«

»Sicher«, sage ich mit zitternder Stimme, während ich das Messer ansetze. Ich warte, warte und hoffe, dass ich das nicht zu Ende bringen muss.

»Keine Sorge, Allison, du machst das gut.«

Das Messer dringt ein, und es geht leicht, jedenfalls leichter, mit viel weniger Widerstand, als ich erwartet hätte. Ich halte den Atem an und zwinge meine Hand, ruhig zu bleiben. Ich gehe genauso vor, wie er gesagt hat, ziehe das Messer einen oder zwei Zentimeter. Sofort quillt Blut heraus, zeichnet den Weg der Klinge nach. Meine Hand fängt zu zittern an, und ich ziehe sie zurück.

»Das ist normal. Das muss passieren«, sagt er freundlich. »Du hast es gut gemacht, jetzt hast du etwas Spielraum, um das Metall zu fassen. Nicht zerren, nur mit einer gleichbleibenden, sanften Bewegung herausziehen. Setz mit den Augen eine Linie vom Ende des Schrapnells und folge ihr. Sanft, nur ziehen, nicht zerren, lass es seinen Weg selbst finden.«

Ich ziehe fest, aber langsam, und gebe mir große Mühe, zu erfühlen, wie das Metall in sein Bein gedrungen ist, welche Form es hat. Er hat Glück, denn es ist fast vollständig gerade, nicht gebogen oder zackig, nur hier und da leicht uneben. Es sieht ganz gut aus, mit Ausnahme des Blutstroms aus der Wunde und dem hellen roten Glanz auf dem Splitter. Jetzt beginne ich den starken, kupfernen Geruch menschlichen Blutes wahrzunehmen, und mein Magen dreht sich.

»In Ordnung, du machst das gut, du machst das großartig«, er deutet die Blässe meines Gesichts richtig. Meine Lungen schmerzen vom langen Luftanhalten, aber es hilft, um mich ruhig zu halten. Ich kann jetzt nicht aufhören, ich muss weiterziehen, vorsichtig, langsam, aber mit Verstand. Das Metall scheint endlos lang zu sein, doch dann kommt es heraus. Das spitze Ende tropft ein wenig, als meine Hand es wegzieht.

»Du hast es geschafft«, sagt er, und wir atmen beide gleichzeitig aus.

»Scheiße«, sage ich und lasse das Schrapnell auf eins der T-Shirts fallen. »Nichts leichter als das.«

»Das war nur Schritt eins, Süße. Jetzt kommt der richtige Spaß.«

Julian nickt in Richtung des Stemmeisens, seine blaugrünen Augen funkeln vor Mutwillen.

»Bist du sicher?«, frage ich.

»Ja, ich blute jetzt, also gibt es kein Zurück. Los, Allison, du weißt, was zu tun ist.«

Ich kann die Hitze des Eisens sogar am Griff spüren. Die flache Spitze raucht und glüht rot. Ich beeile mich, ein kurzer, harter Streich, bevor meine Zweifel sich formieren können.

»Gaaagh-haaggghwarumbinichnichtbesoffen!«

Julians Schrei verwandelt sich schnell in ein langes, keuchendes Ausatmen. Wenn er so weitermacht, werden uns die Wachen bei seiner Genesung Gesellschaft leisten. Ich ziehe das Eisen weg, und das Fleisch ist versiegelt und hellrot, die Wunde geschlossen, ausgebrannt. Sein Bein raucht, und der Gestank seiner verbrannten Haare überlagert den Brennstoffgeruch. Ein ausgeprägtes Muster, wie eine Star-Trek-Insignie, aber mit ein paar dekorativen Punkten, ziert die verschlossene Wunde.

Durch die Kaskaden von Tränen in Julians Augen dringt ein Lächeln.

»Du hast es geschafft. Du hast es Scheiße noch mal geschafft«, sagt er, packt mich an der Schulter und schüttelt mich. Ich lege das heiße Eisen weg und bemerke die Veränderung seiner Oberfläche. Es sieht aus, als wäre Gummiwachs über die Fläche modelliert.

»So«, sage ich und wische mir den Schweiß von Gesicht und Nacken. »Kannst du gehen?«

»Geduld!«, sagt er und lacht leise. »Gibst du mir noch eine Sekunde oder zwei? Du hast gerade die leibhaftige Hölle in meinen Oberschenkel gebrannt.«

»Ja«, sage ich. »Guck dir das an, es raucht noch.«

»Irgendetwas sagt mir, dass du es ein bisschen zu sehr genossen hast, das zu tun.«

Er lässt meine Schulter los und lehnt sich mit einem tiefen Seufzer zurück. Wir sitzen einen Moment schweigend da, aber ich spüre die Unruhe in mir. Ich kann nicht aufhören, an Ted und seine Schulter zu denken. Was, wenn er schon tot ist?

»Gut, lass uns gehen«, sagt Julian und blickt mich an.

»Hmm?«

»Dein Freund, wir müssen los und ihm helfen.«

»Und woher weißt du, dass es ein Er ist?« Ich stehe auf und reiche ihm eine Hand. Ich muss kräftig ziehen, um Julian auf die Füße zu stellen. Er atmet scharf durch die Zähne und taumelt ein wenig auf seinem linken Fuß, als er den Schmerz des Eingriffs fühlt. Mit seiner linken Hand stützt er sich auf meiner Schulter ab. Er ist groß, was nicht so leicht zu erkennen war, als er noch auf dem Boden herumlag.

»Süße, ich weiß es«, sagt er, »weil ich Augen im Kopf habe und weil du deinen verrückten Arsch hierhergeschafft hast, um mich rauszuholen – einen Arzt.«

»So ist es gar nicht, er ist nur ein guter Freund.«

»Na dann, gut, gut, gut … Mein Tag wird besser und besser.«

»Aber … nein … Krass«, sage ich und schüttle den Kopf. »Gehen wir.«

»Du führst, Schatz.«

210355.jpgKOMMENTARE

Isaac:

1. November 2009 12:03 Uhr

Du konntest updaten. Das heißt, du hast es da raus geschafft. Das ist eine Erleichterung. Beinchirurgie? Ich kann nicht sagen, dass ich überrascht wäre, aber ich bin auf jeden Fall zutiefst beeindruckt!