7. OKTOBER 2009 –
ALLES BRICHT ZUSAMMEN, TEIL II
Wir halten uns östlich auf der Suche nach Zack und joggen die rechte Spur der Langdon Street hinunter.
»Was glaubst du, wie viel Vorsprung hat er? Zehn Minuten? Fünfzehn Minuten?«, fragt mich Ted.
»Zehn«, antworte ich. »Ich schätze, zehn.«
Er hat nur zehn Minuten, aber die können den Unterschied machen. Wenn er schlau ist, lässt er nicht nach, trotz der Vorsorge, die er wohlweislich getroffen hat. Ich hoffe, er unterschätzt uns und ist in gemächlichen Schritt verfallen, sobald die Apartments außer Sicht waren. Hinter uns brennt es immer noch, der schwarze Rauch verdunkelt den Himmel.
»Wie lautet der Plan, wenn wir ihn erwischen?«, flüstert Ted. Wir versuchen unauffällig zu sein, das bedeutet leise reden und leise gehen. Es sind nicht viele Stöhner unterwegs, nur ein paar Dümpler, die sich durch die Alleen treiben lassen. Sobald wir uns etwas vom Stadtzentrum entfernt haben, werden die Straßen zunehmend freier, sind weniger verstopft mit Autowracks, Vespas und Fahrrädern.
»Das Essen ist mir scheißegal, Ted. Ich möchte diesem Arschloch nur eine Lektion erteilen. Aber Sicherheit geht vor, in Ordnung? Wir wissen nicht, ob er es geschafft hat, sich eine Waffe zu besorgen. Tu so, als wollten wir nur das Essen zurück, das ist alles, was uns interessiert.«
»Denkst du wirklich, er glaubt das?«
»Nein, aber es könnte reichen, um ihm nahe zu kommen – nah genug.«
Wir sind gerade dabei, einen verkohlten Allradwagen zu umgehen, als mir etwas auffällt. Es ist glänzend, braun und klemmt von Ruß bedeckt halb unter dem geschwärzten Reifen. Ted stolpert und bleibt stehen, als er sieht, wie ich zu dem Wagen gehe und mich hinknie. Ich hebe das Ding auf, eine Lederhandtasche. Kühl und weich liegt sie in meiner Hand. Es ist die Tasche meiner Mutter.
»Das kann gar nicht sein«, sagt Ted, der in meinem Gesicht liest. »Sie wäre doch nie so weit von der Hauptstraße abgekommen.«
»Vermutlich nicht. Aber wenn sie gejagt wurden …«
Rund um den Allradwagen, die Handtasche und das Rad gibt es nichts, nur die zerfurchte Straße und Asche. Ich erwarte, Blut zu finden oder ein anderes Zeichen von meiner Mutter, aber da ist nur die Handtasche, zurückgelassen, scheinbar ohne Kampf. Ich sehe, dass Ted ungeduldig wird, wartet, aber ich muss es wissen. In der Handtasche fehlt das Portemonnaie. Da sind eine Haarsträhne, ein Päckchen Kaugummi, ein paar Münzen, und in der Naht des Futters steckt ein blauer Notizzettel. Ich ziehe ihn vorsichtig heraus und erkenne sofort ihre Handschrift.
Tante Tammy
Fort Morgan
Liberty Village
Liberty Village ist doppelt unterstrichen, und die Handschrift wirkt krakelig und gehetzt. Das Wort Tammy ist verwischt und zerlaufen.
»Was bedeutet das?«, fragt Ted, der mir über die Schulter späht.
»Tante Tammy lebt in Fort Morgan, keine Ahnung, was Liberty Village sein soll«, antworte ich und muss mich anstrengen, den kalten Knoten in meinem Hals niederzuhalten. Wenn ich jetzt tief atme oder schlucke, fange ich an zu heulen. Da stehe ich, mit der Handtasche und dem Zettel in der Hand. »Sie muss etwas von Tammy gehört haben. Vielleicht waren sie dahin unterwegs.«
»Ich dachte, sie wären unterwegs zu den Apartments.«
»Das dachte ich auch«, antworte ich mit gerunzelter Stirn. »Oder vielleicht wollten sie uns nach Fort Morgan mitnehmen. Vielleicht gehen sie jetzt dorthin. Himmel, sie war so nah. Nur ein paar Blocks, und …«
»Allison.«
»Ich weiß«, sage ich und blicke auf. Ted befindet sich halb in Spurtstellung, die Arme gespannt und leicht zitternd. Ich stecke den Zettel in meine Tasche und schultere die Handtasche. Es gibt keine Spur meiner Mutter oder ihrer Begleiter, keinen Hinweis darauf, in welche Richtung sie gegangen sind. Ich muss eine Entscheidung treffen. Ted würde mir da nie vorgreifen.
»Zack zuerst«, sage ich zu ihm. »Dann der Campus. Sie könnten dorthin geflohen sein, wenn sie in einen Hinterhalt geraten sind.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ich bin sicher. Los jetzt.«
Wir spähen in jede Seitenstraße, um sicher zu gehen, dass Zack die Hauptstraße nicht verlassen hat. Die Gebäude hier wirken verfallen, hohl und lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass er hier Halt macht. Wenn doch, würden wir ihn durch die geborstenen Fenster sehen. Ted und ich werden wieder schneller, wir weigern uns zu ermüden.
Als wir von den Apartments aus gerechnet etwa elf Blocks zurückgelegt haben, erreichen wir eine Sackgasse: Dead End im wahrsten Sinne des Wortes. Direkt vor uns liegt ein Friedhof. Ein stiller kleiner Platz mit etwa sechzig Grabsteinen. In völliger Stille werden wir langsamer und bleiben schließlich vor einem niedrigen schmiedeeisernen Zaun stehen. Es wäre leicht, hinüberzuspringen, aber keiner von uns beiden rührt sich.
»Es ist nicht wie in ›Die Nacht der lebenden Toten‹, sie kommen nicht aus den Gräbern gesprungen«, sage ich, aber ohne jede Zuversicht und Souveränität. Ted nickt und lüpft die Beine über den Zaun, landet auf der anderen Seite.
»Allison«, murmelt er, aber das muss er nicht. Ich habe es auch schon gesehen. Ein Stück entfernt, hinter dem Totenacker mit seinen gesprenkelten Steinen und den Bäumen mit traurigen, tief hängenden Ästen, blitzt etwas Braun-Gelbes auf. Zack, sein Afghane und die Kisten. Er macht eine Pause unter einem Baum, steht vornübergebeugt da, wahrscheinlich um Atem zu schöpfen. Glück für uns, dass das Rennen mit zwanzig Pfund schweren Kisten anstrengende Arbeit ist. Ich hebe einen Finger an die Lippen, und wir schleichen zusammen über den Friedhof, lautlose Schatten, die über den schwammigen Boden gleiten. Die Axt fühlt sich jetzt schwerer in meinen Händen an, als wollte sie mich auffordern, einen Moment innezuhalten und meine Aktivitäten zu überdenken. Ich bin mir jedes Ästchens und jedes trockenen Blattes bewusst, meine Sinne geschärft von der Befürchtung: Ein Zweig könnte schnappen, und Zack ist auf und davon.
Der Baum, an dem er lehnt, ist noch etwa zehn Meter entfernt. Ted und ich halten uns links und versuchen, den Stamm des Baumes zwischen uns und Zack zu halten. Das Problem einer Axt besteht darin, dass es sich um eine Waffe mit geringer Reichweite handelt. Man muss nah ran an sein Ziel, sehr nah. Plötzlich wünsche ich mir, ich hätte Janette nicht den letzten Molotowcocktail gelassen. Ich kann mir nichts Befriedigenderes vorstellen, als Zack in einem Schwall lodernder Flammen aufgehen zu sehen.
Natürlich hätte ich es fast verpfuscht. Nur wenige Schritte vor dem Baum trete ich auf einen Zweig. Zacks Kopf schnellt hoch und herum. Die Kisten fallen ihm aus den Armen, sobald er uns sieht, und er rennt davon. Jeder Sinn für Tarnung ist verschwunden. Ted und ich jagen hinterher, verleiben uns die Meter ein, verkleinern den Abstand, bis Ted mit einem Sprung aus dem Lauf Zack in die Füße tritt. Seine Beine verheddern sich, er strauchelt, rollt vorwärts, ein paar Drehungen auf dem Boden, bevor er versucht, wieder hochzukommen und weiterzurennen. Aber es ist zu spät. Wir haben ihn.
Ted stoppt ihn mit einem vorsorglichen Schlag in die Rippen. Vor unseren Füßen bricht Zack zusammen, keucht und hält abwehrend die Arme hoch. Er starrt zu uns hoch, seine Augen flackern vor Schrecken. Er sieht die Dinge jetzt klarer, erkennt, wer wir sind und wozu wir bereit sind.
»Bitte!«, schreit er und versucht, von uns wegzukriechen. Schnell und hart tritt Ted ihm aufs Knie, um ihn zu bremsen. »Gott! Nicht! Ich mache, was immer ihr wollt, nehmt das Essen! Nehmt es, Himmel – es tut mir leid, okay? Es tut mir so leid.«
»Nein, das tut es nicht. Noch nicht.«
Sein rechter Fuß wird am Gelenk abgetrennt. Das braucht nur einen Streich mit der Axt. Da ist so viel Blut, mehr als ich erwartet habe, und es rauscht in spritzenden Schüben, schwer gepumpt von seinem rasenden Herzen. Er kann kaum schreien, aber er fängt an zu schnattern, spinnt irgendeinen Unsinn zusammen, während er versucht, aus unserer Reichweite zu kriechen. Wir lassen ihn ein paar Zentimeter vorwärtskommen und beobachten, wie er sich windet wie ein Hundertfüßler, der den Schwanz verloren hat.
»Es hat sich herausgestellt, dass du ein Star bist, Zack, oder Jack, wie war das? Wir haben alles über dich im Radio gehört, darüber, wie du die Universität bestohlen hast, eine Hilfsstation«, sage ich und hole zu ihm auf. Es gibt nichts mehr, was er tun könnte, kein Platz zu fliehen. »Was, Scheiße noch mal, stimmt mit dir nicht? Wir stecken alle zusammen drin, du Scheißkerl.« Ich unterstreiche das letzte Wort mit dem Abtrennen seines anderen Fußes. Ich sehe, dass er drauf und dran ist, ohnmächtig zu werden, und senke die Axt. Ted tippt ihm mit dem Ende seines Baseballschlägers auf die Wange.
»Wir verlassen dich jetzt, Zack. Ich hoffe, dass du dich an mein Gesicht erinnerst, wenn sie dich holen kommen.«
Ted und ich wenden uns ab. Wir gehen schweigend, erfüllt von einem tiefen Ekel für das, was ich gerade eben getan habe. Aber sosehr ich mich bemühe, ich empfinde keine Reue. Ich höre Zack stammeln: »Bitte, bitte«, wieder und wieder, während er im hohen toten Gras liegt.
Wir sind noch keine sechs Meter weit gekommen, als wir unseren fundamentalen Fehler bemerken. Erst langsam fange ich an zu begreifen, wie diese Dinger ticken. Frisches Blut scheint offensichtlich eine Wirkung zu haben, als würde man laut die Kirchenglocken läuten. Der Geruch von Zacks Leiden ruft sie zusammen, zieht sie an wie ein Magnet, treibt sie aus ihren Verstecken. Dagegen war die Feuerschlacht im Apartment wie ein Ausflug zum Eisessen. Jetzt kommen sie in riesigen Scharen aus jedem Block der Umgebung in unsere Richtung. Es gibt keine Deckung und keinen Fluchtweg, nur ein gewaltiges Meer von diesen Viechern, die allesamt auf uns zutorkeln. Selbst wenn wir es schaffen, uns durch die ersten Linien zu hacken, bekommen wir nicht die Deckung, die wir benötigen, um sicher die Straße zu erreichen.
Hinter uns stirbt Zack und wird einer von ihnen. Er wird nicht weit kommen ohne Füße, aber deshalb fühle ich mich auch nicht besser. Der Friedhof riecht plötzlich wie von einem Friedhof gewohnt, nass und sandig und süßlich, nach zu viel Verfall. Ted und ich stehen Rücken an Rücken. Wir warten, lassen sie kommen. Die Wolken öffnen sich, und es fängt an zu regnen.
Ich denke kurz darüber nach, auf einen Baum zu klettern und auf Hilfe zu warten, aber ich weiß, dass es immer noch leichter ist, ihnen hier entgegenzutreten, als in einem Baum zu hocken und wie ein Idiot auf einen Rettungstrupp zu warten, den es nie geben wird. Ich sehe die Handtasche meiner Mom an und drücke sie fest an die Brust.
»Ich meine es ernst, Ted«, sage ich. »Ich schwöre, wenn du als Erster dran bist, gebe ich dir den Rest.«
»Danke. Es war mir ein Vergnügen, Allie.«
Ich bin ganz ruhig, aufgehoben in dem Gefühl, wenigstens axtschwingend unterzugehen, kämpfend. Ich werde nicht in einem Pausenraum verhungern oder in der Turnhalle der Universität an Skorbut eingehen. Ich werde aufrecht sterben, zusammen mit Ted. Und vielleicht ist meine Mutter auch längst tot.
Ich fühle, dass ich wieder atmen kann, sehe das Ende, und es ist nicht das schlechteste. Ich hätte mir nur gewünscht, meine Mom noch ein letztes Mal zu sehen.
Während ich dabei bin, mich mit dieser Vorstellung abzufinden, und das Grunzen und Kratzen seinen Höhepunkt erreicht, höre ich einen ohrenbetäubenden Krach von der Straße. Schüsse, eine Garbe nach der anderen, Tonnen von Projektilen prasseln in die Umgebung. Ich halte mir die tauben Ohren zu. Körper und Köpfe implodieren rings um uns und verwandeln sich unter der unglaublichen Feuerkraft in allen Richtungen in flüssigen Matsch. Durch den Schleier vaporisierten Schleims und Gewebes sehe ich einen großen schwarzen Umriss, einen Geländewagen, und auf seiner Ladefläche eine Gestalt. Der Wagen rast durch die nächste Linie Stöhner und zermanscht sie – es spritzt bis auf unsere Füße. Es ist ein Geländewagen, ein Landrover mit ordentlich PS und einer Ladefläche, an deren Bügeln sich eine Plane befestigen lässt. Ich kann mir nicht vorstellen, wer hinter dem Lenkrad sitzt, bin aber sicher, es herauszufinden, als der Mann von der Ladefläche zu uns herunterspringt. Er feuert ein paar Stöße in die Stöhner, die hinter mir und Ted herankriechen. Ich bin zu erstaunt, um mich zu bewegen. In Ehrfurcht erstarrt ob der wundersamen Ankunft dieser beiden Engel.
»Seid ihr in Ordnung?«, schreit der Fahrer und schwingt sich heraus.
»Scheint so«, ruft der andere und reißt sich eine Maske vom Gesicht. Sie stecken beide in schwarzen Militäroveralls und kugelsicheren Westen. Der näher stehende Mann trägt auf dem rechten Ärmel ein blaurotes Abzeichen, das eine Krone und einen Vogel zeigt. Er hat flammenrotes Haar, einen ebensolchen Bart und extrem blasse, blaue Augen. Mit zusammengezogen Augenbrauen mustert er uns beide.
»Darf ich fragen, was ihr zwei Kinder hier draußen macht?«
Ich öffne meinen Mund, um eine Antwort zu krächzen, aber von hinten kommt ein schrecklicher Schrei dazwischen. Es ist Zack, immer noch lebendig. Er zieht sich auf seinen Ellenbogen in unsere Richtung. Der rothaarige Mann wirft einen Blick auf die Axt in meiner Hand, dann einen auf Zacks fehlende Füße. Schließlich packt er mich unsanft am Handgelenk und stößt mich auf den Truck zu. Es fühlt sich an, als ob mein Arm aus dem Gelenk reißt.
»Verfluchte Hölle – ist es das, wonach es aussieht, ist es so?«, fragt er. Er hat einen Akzent, britisch, aber ganz schwach. Der Fahrer richtet seine Waffe auf Ted und nickt in Richtung Wagen.
»Sir? Sir! Es ist nicht so, wie es aussieht«, sage ich zu ihm und ringe nach Luft. Der Schmerz, der durch meinen verdrehten Arm schießt, bringt mich fast um.
»Ja, das hab ich schon oft gehört«, sagt er humorlos lachend, während er Ted und mich auf die Ladefläche schubst. »Ein bisschen verrückt geworden, was? Ich würde es vorziehen, euch gleich hier zu erschießen und euch bei diesem armen Bastard liegen zu lassen, aber ich denke, ich sperr euch besser ein und lass euch ein paar Tage darüber nachdenken.«
»Nein! Sie verstehen das nicht, Sir. Er hat uns bestohlen! Diese Kisten, gehen Sie und sehen Sie hinein, ich schwöre, er hat all unser Essen genommen«, schreie ich und kämpfe gegen seinen eisernen Griff. Ted setzt ebenfalls zu einer Erklärung an, aber der Mann schlägt ihm ins Gesicht. »Hört auf, ihn zu schlagen! Was stimmt mit euch nicht? Wir sind auf eurer Seite! Himmel noch mal, lasst uns gehen! Wir sind keine Verbrecher. Warum hört ihr mir nicht zu? Hör mir zu, du verdammter Idiot!«
Er hebt die Hand, und ich verstumme, weiche zurück gegen das harte Metall des Wagens. Das Fahrzeug erwacht zum Leben. Die Kisten bleiben offen und durcheinandergewürfelt am Boden liegen wie in einem unaufgeräumten Kinderzimmer. Zack sieht zu, wie der Truck wegfährt, und hebt eine Hand, als wollte er uns festhalten.
Sie verbinden uns die Augen und fesseln unsere Hände. Es fühlt sich nicht nach Stricken oder Handschellen an, vielleicht sind es Plastikfesseln. Wir werden mehr oder weniger vom Truck gestoßen und auf den Boden geschubst, herumgezerrt, bis wir stehen. Sie führen uns einen steilen Hügel hinauf, keine Treppe, den Lauf einer Waffe fest zwischen meine Schulterblätter gedrückt. Sie haben mein Laptop genommen und unsere Waffen. Alles, woran ich denken kann, ist, wie ich die Axt zurückbekomme, um diesen Wichser damit zu überzeugen, dass ich nicht irre bin. Überzeugungsarbeit mit der Axt würde wohl eher das Gegenteil beweisen, aber ich bin zu wütend und zu verwirrt, um mich darum zu kümmern.
Eine Tür schwingt auf. Anhand des Klangs der Angeln und der Summe der umgebenden Geräusche beschleicht mich eine Ahnung, wo wir uns befinden: in der Sporthalle der Universität. Ich schließe es aus diesem Hall, der Art, wie alle Geräusche von der hohen Decke und dem Holzfußboden reflektiert werden, der Art, wie die Sohlen auf dem glatten Boden quietschen. Die Soldatenstiefel klacken rhythmisch, als sie uns durch die Halle schubsen. Wir gehen durch ein paar weitere Türen in einen kühlen, feuchten Flur und dann zwei kurze Treppen hinunter. Es fühlt sich an wie ein Keller. Klaustrophobisch und nach Moder riechend.
Sie nehmen uns die Augenbinden ab und lassen uns in zwei verschiedenen Räumen in der Dunkelheit zurück. Ich werde in ein kleines Büro mit einem Fenster gestoßen. Der rothaarige Soldat, der mir die Augenbinde abnimmt, lässt meine Hände gefesselt. Er riecht nach Feuerwerk und Scotch. Ein Tisch in der Ecke ist von einer dicken Staubschicht bedeckt und hat ein paar blanke Stellen. Abdrücke, wo wahrscheinlich ein Computer und eine Tastatur standen. Alles riecht durchgehend feucht, vermodert, als wäre der Keller einmal voll Wasser gelaufen und nie mehr ganz getrocknet. Wahrscheinlich war hier das Büro eines Trainers, aber sie lassen keinen Zweifel daran, dass es sich jetzt um eine Gefängniszelle handelt.
Sie bringen mir nichts zu essen. Ich kann nicht schlafen. Ich weiß nicht, ob ich hier je wieder rauskomme.
HEUTE
Jemand kam in aller Frühe nach mir sehen, bevor ich mich so recht erinnern konnte, wer ich bin und was ich tun sollte. Sie haben meine Waffe genommen und die Handtasche meiner Mutter, aber sie haben den kleinen blauen Zettel nicht. Ich fummele ihn, so vorsichtig ich kann, aus meiner Tasche und streiche mit den Fingern über die Schrift. Sie würde nicht aufgeben. Ich weiß es genau, sie würde nicht aufgeben.
In den letzten ein, zwei Stunden bin ich zwischen träumen und halbwach hin und her gewechselt. So erschöpft und verängstigt, wie ich mich fühle, habe ich mich nicht erholt, aber mein Gehirn hat aufgehört, aktiv Fluchtpläne zu ersinnen. Als der Schlüssel sich im Schloss bewegt und ich das Klicken höre, erwarte ich den rothaarigen Soldaten mit dem lustigen Bart und dem breiten schiefen Grinsen wieder. Aber er ist es nicht. Es ist jemand ganz anderes.
»Hallo, da drin.«
Schnell lasse ich den Zettel in der Faust verschwinden und blicke zu ihm hoch, die Knie fest an die Brust gezogen. Die Plastikfessel um meine Handgelenke schmerzt wie Hölle, und ich spüre, dass die Haut schon roh und blasig ist. Der Schmerz ist flüchtig, denn ich kenne diese Person, irgendwie kenne ich sie. Der Soldat wirkt nicht bedrohlich. Einschüchternd vielleicht, aber nicht bedrohlich. Obwohl auch er ein riesiges Scheiß-Sturmgewehr trägt, wirkt er nicht besonders aggressiv. Er ist ebenfalls in einen schwarzen Militäroverall gekleidet, allerdings kommt es mir vor, als hätte er ihn vorne zu hastig geknöpft, denn er sitzt ein bisschen schief. Ich blicke auf seinen rechten Ärmel und finde das Abzeichen mit der Krone und dem Vogel auch dort.
»Ich bin Collin, Collin Crane«, sagt er und fügt nach einer Pause hinzu: »Ich weiß, dass Sie sprechen können. Finn sagt, Sie haben eine flinke, stachelige Zunge. Seien Sie nicht dumm«, fügt er weich hinzu und geht in die Hocke. »Ich bin nicht hier, um Ihnen weh zu tun.«
Da trifft es mich.
Es war das Zeitalter der Weisheit, es war das Zeitalter der Dummheit …
»Sie sind es.«
»Wie bitte?«
»Die Stimme, Sie sind es! Der Mann aus dem Radio! Heilige Scheiße, ich kann es nicht glauben! Sie sind es.«
Da er jetzt auf meiner Augenhöhe hockt, kann ich sein Gesicht deutlich sehen. Er ist älter als die beiden anderen Krieger, wahrscheinlich Anfang fünfzig, mit dunklen, ganz kurz geschnittenen welligen Haaren, die an den Schläfen ergrauen, und einem Paar beeindruckender grüner Augen. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, wie sein Haar aussähe, wenn es etwas länger wäre, freier. Eine tiefe Furche prägt sein Kinn, seine Augenbrauen sind dunkel und sehr gerade. Die Augen lächeln in jenen Winkeln, die gefurcht sind von Alter und Erfahrung. Auch seine Lippen lächeln mich an.
»Sie haben mich also im Radio gehört, ja?«, fragt er und lacht.
»Er ist knapp eins achtzig, blond, grüne Augen, etwa achtzig Kilo«, wiederhole ich. »Das ist er, darum bin ich hier. Ich habe versucht, es Ihren Leuten zu erklären, aber sie hörten nicht zu.« Ich merke, wie mein Mund mir davonläuft, die Worte zu schnell herausprasseln.
Er hebt abwehrend die Hand und dreht den Kopf weg. »Ich weiß davon.«
»So? Das ist großartig, ich – warten Sie – Sie wissen es? Warum bin ich dann noch hier drin?«
»Ich wollte Sie selber sehen«, sagt er. Seine Stimme klingt rauer als im Radio, aber immer noch beeindruckend, ein Opal, der mit Sandpapier geglättet wurde. Auch er hat einen Akzent wie der rothaarige Soldat, aber ausgeprägter. »Dieser Mistkerl war seit Wochen die Geißel unserer Versorgung. Wir waren kurz davor, eine Belohnung auszusetzen, als Sie und Ihr Freund aufgetaucht sind.«
»Woher wussten Sie, wo Sie uns finden?«, frage ich und stelle demonstrativ meine schmerzenden Handgelenke zur Schau.
»Tatsächlich wegen dem Hund.«
»Dem Hund – Dapper? Also haben sie es geschafft! Gott sei Dank.« Die Erleichterung kommt plötzlich, und der Knoten in meinem Magen löst sich ein bisschen. Doch das Gesicht des Mannes bleibt gespannt, besorgt und in Falten.
»Sie? Nein, da war nur der Hund, ganz allein. Wir dachten, er wäre vielleicht tollwütig. Er hat meinen Neffen gebissen. Ich glaube, den haben Sie schon kennengelernt. Wie auch immer, wir dachten uns jedenfalls, es sind schon seltsamere Dinge passiert, vielleicht ist der Hund aus einem bestimmten Grund so aufgeregt. Also hab ich eine Patrouille ausgeschickt, und die hat euch gefunden. Was ist mit Ihrem Hund passiert? Sein Schwanz war versengt, halb abgebrannt.«
»Nein. Nein, nein, Gott verdammt, Janette.«
Ich kann es mir ganz leicht vorstellen, und das tut weh.
»Haben Sie jemanden erwartet?«, fragt er sanft. Nun zieht er ein schimmerndes Bowiemesser aus seinem Gürtel und schlitzt meine Plastikfesseln auf. Ich reibe meine wunden Handgelenke, wobei ich abwechselnd zusammenzucke und seufze. Ich bemühe mich, den Zettel zu verbergen, aber er hat einen Blick darauf erhascht. Als er versucht, danach zu greifen, ziehe ich meine Hand weg.
»Meine Freunde. Sie wollten herkommen.«
»Aus welcher Richtung?«, fragt er, plötzlich wieder ganz im Dienst.
»Osten, also, hmm, wahrscheinlich durch Dayton.«
Er steht auf und entfernt sich ein paar Schritte. Das ist mehr als genug. Er braucht mir nicht zu sagen, dass Dayton gefährlich oder überrannt oder was auch immer ist. Ich bin sicher, das Nächste, was er sagt, wird mich treffen, und bereite mich darauf vor. Das ist etwas, das ich mittlerweile gelernt habe, wie Schuhe zubinden oder ein Sandwich machen.
»Dayton. Nein, es tut mir sehr leid, Dayton ist nicht passierbar. Da sind so viele Autos. Die Polizei hat dort versucht, eine Barrikade zu errichten, das hat es noch schlimmer gemacht.«
Janette muss in Panik geraten sein und den Cocktail geworfen haben. Armer Dapper.
»Bin ich in Schwierigkeiten?«, frage ich und starre auf den Boden. Es hilft, sich auf die Löcher im Beton zu konzentrieren, auf die Rillen und Kratzer, auf einen Stuhl oder ein Schreibtischbein. Was ist, wenn ich auf ihre Familien treffe? Was, wenn ich der Unglücksbote sein muss?
»Nein, nein, nichts dergleichen«, sagt er und lacht wieder. Es ist ein stürmisches, ausgelassenes, volles Lachen, das den kleinen Raum ausfüllt und seine Grenzen in Frage stellt. »Ich werde ein Wort mit meinem Neffen reden. Ich entschuldige mich für sein Benehmen. Er kann manchmal ein bisschen – übereifrig werden.«
»Das hab ich gemerkt.«
»Entschuldigung wegen der Handfesseln«, sagt er und reicht mir seine Hand. Ich nehme sie, ziehe mich daran hoch und stelle fest, dass ich am Verhungern und schwach bin. Er sieht, wie ich schwanke und torkele. »Wir besorgen Ihnen etwas zu essen und einen Platz zum Ausruhen.«
»Und Ted, mein Kamerad?«
»Er kann mitkommen. Wie soll ich Sie anreden?«
»Allison. Mein Name ist Allison.«
Ich bleibe an der Tür stehen. Meine bleischweren Füße schmerzen, und ich fühle jedes Ziehen und Reißen meiner Sehnen in Knöcheln und Handgelenken. Ich will einfach nur umfallen und tagelang schlafen. Collin hat Geduld mit mir, wirft einen festen Blick auf mich herab. Aus irgendeinem Grund kann ich diesen nicht erwidern. Ich will es nicht. Ich will nicht, dass er sieht, wie enttäuscht und wütend ich gerade bin. Das ist keine gute Einführung. So bin ich eigentlich nicht.
»Haben Sie … ist hier jemand mit dem Namen Hewitt aufgetaucht? Lynn Hewitt? Sie ist ungefähr so groß wie ich, in den Fünfzigern, hübsch?«
»Ich glaube nicht«, sagt er, »aber ich kenne nicht jeden, der hier durchkommt. Ist sie Ihre Mutter?«
»Ja.« Ich kann meine eigene Stimme kaum hören, etwas übertönt sie. Meine Kehle ist so fest zugeschnürt, dass es große Anstrengung erfordert, genug Luft zum Atmen hindurchzupressen. Meine Knie zittern, aber ich halte mich auf den Füßen, den Kopf zu Boden gebeugt, die Augen abgewandt.
»Das ist keine Schuld«, murmelt er, und ich nehme den sanften Rhythmus seiner Stimme wahr, denselben Klang, der aus dem Lautsprecher des Radios floss wie ein Geist der Kindheit.
»Was?«
»Es ist nicht Schuld, was Sie da gerade fühlen. Es ist nur ein Schock.«
»Oh.«
»Es gibt einen wichtigen Unterschied: Schock verschwindet wieder. Schuld, fürchte ich, nicht.«
»Und Sie wissen das woher?«
»Lassen Sie es uns persönliche Erfahrungen nennen, ja?«
Ich lächle nicht, wie er es gerne hätte. Sein Gesicht von der Ausdruckskraft einer funkelnden, antiken Gürtelschnalle verwandelt sich schnell in eine freundliche Grimasse.
»Sie haben einen Mann umgebracht«, sagt er, »das rührt die Seele zu Tränen. Aber es sind nur Tränen, Allison, und Tränen können trocknen.«
»Bleiben Sie doch bei den Klassikern, ich komm schon mit mir klar.«
»Ich sehe, Finn hat nicht übertrieben, was Ihren gewinnenden Charme angeht«, antwortet er. In seiner Stimme liegt eine Schwingung, die Andeutung eines Lachens. »Aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie mich nicht ins Bockshorn jagen können. Ich habe über viele Jahre Alleswisser und Genies wie auch Idioten ihres Alters unterrichtet. Nichts kann diesen alten Mann noch überraschen.«
»Sie sind Professor?«, frage ich und bewege mich zentimeterweise auf die Tür zu.
»War Professor, ja, für Astronomie.«
»Ein Professor für Astronomie mit Wagenladungen voll Waffen?«
»Wir haben alle unsere Hobbys.«
Ted ist jetzt bei mir. Sie haben uns warmes Essen und Kamillentee und altbackene Kekse gegeben. Um seine Brille steht es schlecht – das eine Glas fällt fast heraus –, aber ansonsten ist er unverletzt. Es ist gut, meinen Freund wiederzuhaben, seine Augen leuchten zu sehen unter dem Mopp aus schwarzen Fransen.
Wir befinden uns in einem Dorf aus Zelten auf dem Sportplatz. Collin hat es fertiggebracht, uns eins davon zu sichern. Collin schätzt, dass etwa hundert bis hundertfünfzig Leute hier sind, und sagt, es träfen täglich mehr ein. Dapper könnte nicht glücklicher sein. Er scheint die andere Hälfte seines Schwanzes nicht zu vermissen, und ich genieße seinen ungebrochenen Enthusiasmus. Er riecht ein bisschen nach Holzhohle und Chemikalien, aber wir haben Erlaubnis, ihn morgen zu baden. Die Generatoren hier erzeugen so viel Strom, dass sie es geschafft haben, ein paar Durchlauferhitzer zu betreiben und Duschen mit Handpumpen aufzuhängen.
Ted schläft fast. Seine Formelrezitationen sind zu einem unzusammenhängenden Gemurmel degeneriert. Ich will auch schlafen, ich will mich so verzweifelt ausruhen und vergessen, aber jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich Janette vor mir. Ich sehe Phil, Matt und sogar Zack. Ich will nicht bereuen oder hassen, sondern einfach jene Person sein, die ich war, bevor das alles losging: Allison Hewitt, graduierte Studentin der Literatur, Faulkner-Liebhaberin, Feldhockeyspielerin, Tochter, ein ganz normaler Mensch.
Diese Titel existieren nicht mehr. Collin ist kein Professor mehr, Ted kein Biochemiker mehr, und ich bin nur eine Überlebende. Ich weiß nicht mal, wer Zack war, was er geliebt hat, wer er in seinem früheren Leben gewesen ist. Er hat mir erzählt, er habe als Koch gearbeitet, sei Ski gelaufen, habe Golf gemocht und sich um ein Referendariat bei einem Umweltmagazin beworben. All dies kann wahr und genauso gut gelogen sein.
Collin sagt, ich sollte nicht bereuen, was ich getan habe. Er meint, es werde nur ein paar Tage weh tun, ein paar Wochen. Ich glaube, er irrt sich. Es wird für immer weh tun. Dieser Stachel wird alles Mitgefühl und alles Verständnis überdauern und bei mir bleiben, bis ich entweder jemand anderes geworden oder gestorben bin.
Doch das Schlimmste von allem: Meine Mutter ist nicht hier. Ich habe sie gesucht, aber ich hätte es nicht gemusst: Ich kann es fühlen. Sie ist da draußen, irgendwo in der Welt, und kämpft ums Überleben, und ich bin hier, in Sicherheit, unfähig, sie zu beschützen.
KOMMENTARE
Isaac:
7. Oktober 2009 15:55 Uhr
Ich bin so froh, dass du überlebt hast. Wenn deine Mom noch da draußen ist, wirst du sie finden, oder sie findet dich. Hier schwinden die Nahrungsvorräte wie auch die Kampfmoral. Ich bin nicht sicher, wie lange wir noch ausharren können. Auf eigene Faust weiterziehen klingt jetzt gerade gut, aber ich weiß, das ist nur Selbstüberschätzung. Gib nicht auf, Allison, du trägst uns alle mit dir.
Brooklyn Girl:
7. Oktober 2009 17:25 Uhr
Das ist das letzte Mal, dass ihr von mir hört, aber ich wollte noch auf Wiedersehen und viel Glück sagen. Du wirst es schaffen, Allison, ich weiß es. Diesen Morgen ist unser Block in Brand geraten, und es wird immer schlimmer. Wir müssen flüchten. Ich habe keine Ahnung, wo wir hinsollen, aber uns bleibt keine Wahl. Es ist Zeit, weiterzuziehen.
amanda:
7. Oktober 2009 18:23 Uhr
Bitte … ich kann nicht warten. ich weiß, dass ich nicht mehr länger habe, bevor mich die kälte erwischt, oder sie. bis jetzt war ich von deiner gruppe abhängig, um gesellschaft zu haben, ich war hier eingesperrt, alleine und habe als einzigen kontakt mit »echten« menschen deinen blog gefunden, ich werde mit euch um holly trauern … solange ich kann … aber bitte schreib weiter.
ich kann nicht warten.