19. SEPTEMBER 2009 – KRIEGSBEIL
Die meisten von uns sind nicht gerade das, was man Athleten nennen würde. Insofern habe ich Zweifel, ob das Prinzip »survival of the fittest« auf uns anwendbar ist. Ich schätze, das wird die Zeit zeigen.
Zunächst ist da Phil Horst. Einer jener Typen, die auf gediegene Hausmannskost stehen, ein unglaublich bodenständiger Kerl. Er ist nicht einfach nur Geschäftsführer, oh nein, er ist Einzelhändler mit Leib und Seele. Die meisten von uns hier arbeiten, ohne zu murren, und erledigen ihre untergeordneten Aufgaben kompetent. Doch Phil ist der Einzige, der das Ganze regelrecht zu genießen scheint. Er liebt diesen Laden. Sein Enthusiasmus für geistlose Schmöker und Bestseller kennt keine Grenzen. Er verschlingt alles, was man ihm vorsetzt, und kann es gar nicht erwarten, Leseproben zu verteilen.
Phil, Philsky, ist ein massiger Kerl, groß und solide, aber weder besonders schnell noch beweglich. Denkt mal an den typischen Kapitän einer Baseballmannschaft. Stellt ihn euch dann rund fünfzehn Jahre älter vor, inzwischen Vater, in die Breite gegangen von einer ständigen Diät aus Cheeseburgern und Cola. Und nun malt euch aus, er sei überzeugt, der liebenswerte Papa Bär zu sein und der beste Kumpel von jedem, der für ihn arbeitet. Dann habt ihr unseren Phil.
Er hat die Angewohnheit, sich die Hosen am Gürtel hochzuziehen und dann den Bund unter seinen Bauch zu schütteln, während er sich in die Höhe reckt wie ein Grizzly, der sich zum Angriff aufrichtet. In erster Linie tut er das, wenn er mit einer unangenehmen Forderung oder einem ungemütlichen Kunden konfrontiert wird.
Phil ist unser pummeliger Vorredner in Sachen mittelständische Lebensart. Die Sorte Mann, die beharrlich jedes Wochenende im Ausflüglerstau steckt. Ein Typ, der gerne ›klaro‹ sagt und ›gutsky‹ statt gut. Das trug ihm seinen heimlichen Spitznamen Philsky ein.
Manchmal habe ich das deutliche Gefühl, dass er und ich nicht dieselbe Sprache sprechen. Unterweise mich in deinen Bräuchen und Traditionen, großer Philsky, weih mich ein in die Geheimnisse der lokalen Bierkultur.
Ob ihr’s glaubt oder nicht, dieser Mann hat Philosophie im Hauptfach studiert.
Es ist doch beruhigend, dass der gesamte Führungsstab von Brooks & Peabody noch lebt, falls sich die Dinge je wieder normalisieren. Denn die beiden Abteilungsleiter sind auch hier. Sie verbringen die meiste Zeit gemeinsam über einer Ausgabe von Newsweek, die wir alle schon mehrfach durchgelesen haben. Diesen beiden fiel es nicht schwer, sich auf unsere bizarre Ernährungsweise aus Junkfood und Diätlimonade umzustellen. Sie kennen es nämlich nicht anders.
Janette dürfte wohl meine Lieblingskollegin sein. Sie ist entspannt, schwimmt mit dem Strom, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie und der andere Abteilungsleiter, Matt, sind ein Herz und eine Seele und die einzigen Angestellten hier, die sich tatsächlich außerhalb der Arbeit treffen. Zwar sind beide verheiratet, aber ich habe seit jeher den leisen Verdacht, dass sie andernfalls längst ein Paar geworden wären. Sie dünsten diese Mischung aus, dieses »Oh Mann, du nervst – los, nimm mich«, das so viele ungleiche Pärchen verströmen wie ein peinliches, unbeholfen sexuell aufgeladenes Moschusparfüm.
Matt ist unser beinharter Snob, wenn es um Bücher geht. Komischerweise hat er nie bemerkt, dass Expertentum in nur einer einzigen Literatursparte für solch eine Position denkbar ungeeignet ist. Er hat sich selbst für diese Rolle nominiert und gewählt, und keiner von uns besitzt genügend Energie oder Ausdauer, sich mit ihm anzulegen. Niemals demonstriert er offene Verachtung für den Buchgeschmack anderer Leute. Allerdings arbeitet da diese Sehne an seinem Kinn und zeigt, dass er dich für einen Proleten hält und er insgeheim auf jedes Buch spucken möchte, das du erwähnst.
Weder Matt noch Janette sind besonders aus der Form geraten, aber ich vermute, dass sie die meisten ihrer Abenteuer in der Sicherheit ihres Geistes erleben. Ich weiß nicht, ob zu Janettes teuren Outfits auch ein paar japanische Langschwerter gehören, aber falls ja, könnten wir die jetzt gut brauchen.
Holly und Ted sind auch hier, aber sie gehören nicht zum Personal. Sie hängen so oft im Laden herum, dass sogar ich sie auf Anhieb erkenne. Ich habe ihnen oft genug Lesestoff bestellt, sodass mir ihre Namen geläufig sind und ich weiß, was sie gern lesen, aber ansonsten sind wir Fremde. Holly ist ein kleiner Rotschopf, ein stilles Mäuschen mit einem Tattoo aus kleinen Sternchen auf ihrem Handrücken. Sie sieht aus wie viele Mädchen, mit denen ich aufgewachsen bin, die braven Mädels von nebenan. Auch wenn Holly sich eindeutig in der studentischen Rebellionsphase befindet. Sie und Ted kleiden sich fast identisch, und beide haben harmlose Tätowierungen, die einfach nicht heftig genug sind, um die beiden zu Draufgängern zu machen.
Sie gehen miteinander, oder genauer ausgedrückt, leben im Zustand der Symbiose. Deshalb haben Janette und ich uns angewöhnt, sie Hollianted zu nennen. Sie sind nie getrennt. Sie sind eins. Mittlerweile sprechen wir sie direkt so an, was sie ein bisschen vor den Kopf stößt, wohl weil sie verzweifelt danach streben, Individuen mit einer bedeutungsvollen Persönlichkeit zu sein. Ich habe ihnen erklärt, erst wenn sie sich für zehn Minuten voneinander losreißen könnten, würden wir ihnen separate Namen zugestehen.
»Bis dahin«, teile ich ihnen bei einem mageren Mittagessen aus Salzerdnüssen und Doseneistee mit, »seid ihr Hollianted.«
Ich finde das nicht gemein. Es klingt doch nett, wie ein religiöser Feiertag. Janette meint das auch. Wir necken sie ein bisschen, indem wir einander fragen: »Was besorgst du deinem Vater dieses Jahr zu Hollianted?« oder »Was sind denn deine guten Vorsätze für Hollianted? Ich glaube, ich werde mit Schokoladeessen aufhören.«
Ted ist chinesischer Austauschstudent. Ich konnte mir ums Verrecken nicht vorstellen, warum er sich als amerikanischen Namen ausgerechnet Ted ausgesucht hat. Dann erzählte er mir, seine Mutter habe ihm jedes Jahr zum Geburtstag einen Teddy geschenkt, und im Haus seiner Eltern in Hongkong habe er eine große Sammlung Teddys aus aller Welt. Da verstand ich es. Allein in den Staaten, neu am College und gezwungen, sich mit einem völlig Fremden ein Zehnquadratmeterwohnklo zu teilen – da würde ich mir auch einen Namen mit einer wärmenden Geborgenheitskonnotation suchen.
Puh, ich fürchte, ich wäre wohl bei Emma oder Hermione gelandet.
Ted studiert Biochemie an der Universität. Er hat diesen Blick, diesen erschreckend intelligenten Naturwissenschaftlerblick, den wir Literaturabsolventen auch mit höchsten Abschlüssen fürchten. Wie Phil kommt Ted mir vor, als stamme er von einem anderen Planeten. Er murmelt Formeln im Schlaf. Angeblich hilft es ihm, das Klopfen und Knurren vor der Tür zu verdrängen.
C-sechs, H-sechs Benzol, A-G-zwei-O Silberoxyd, C-U-Fe-S-zwei Kupfereisensulfit …
Eisen. Dabei fällt mir ein: Wir haben nur zwei Waffen.
Das klingt nach wenig, aber ich bin ehrlich überrascht, dass wir in diesem Laden überhaupt welche auftreiben konnten. Wir lassen ja nicht mal die Kartonschneider griffbereit herumliegen. Letztes Jahr wurde eine Bäckerei in unserer Straße mit einer Heckenschere überfallen, seitdem ist Phil völlig paranoid und besteht darauf, scharfe Gegenstände zu verstecken. Diese Paranoia dürfte vor kurzem ein paar Leute das Leben gekostet haben.
Glücklicherweise habe ich im hinteren Lagerraum einen kleinen Schatz entdeckt, an dem ich monatelang vorbeimarschiert war, ohne ihn je zu bemerken. Ein roter Knopf und ein Glaskasten mit einer knallroten Axt können sich nahezu unsichtbar in die Szenerie einfügen. Man nimmt solche Dinge einfach gar nicht wahr, so lange, bis aus allen Richtungen Schreie gellen, Fenster platzen und sich Blutlachen über die grün-beige gefliesten Gänge zwischen den Regalen ausbreiten …
Jedenfalls habe ich sie entdeckt. Und zwar gerade noch rechtzeitig. Phil hatte mich mit einer der unangenehmsten Aufgaben von allen betraut: die Regale im hinteren Lagerraum säubern. Sie reichen bis zur Decke hinauf, mit ungefähr vierzig Zentimeter Abstand zwischen den Borden, und verstauben innerhalb weniger Wochen in unfassbarer Weise. Ich habe keine Ahnung, woher all dieser Staub überhaupt kommt, aber er landet zu etwa neunzig Prozent in diesen verdammten Regalen. Phil stört es nicht, dass ich unter Stauballergie leide, er würde niemals einen Abteilungsleiter mit Putzarbeit betrauen, also bin ich dran, immer ich.
Dass er mich nach hinten schickte, hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Es brachte mich zu dem Feueralarm und damit in unmittelbare Nähe einer alten, vergessenen Axt.
Als ich nämlich dasitze und auf den Monitor starre, fällt mir eine infizierte Kreatur auf, und zwar aus drei Gründen:
1) Weil sie eine Stammkundin war – ist. Sie heißt Susan und hat sechs Ausgaben von Die Hütte – Ein Wochenende mit Gott gekauft. Sechs Stück. Kein Scheiß. Sie hat die Figur einer alten, matschigen Birne und trägt die hässlichste Brille, die ich je gesehen habe. Diese Linsen sehen aus, als gehörten sie auf ein Weltraumteleskop und nicht in ein menschliches Gesicht.
2) Das Ding, das früher Susan hieß, war im Gang für christliche Literatur, als es losging. Die wandhohe Schaufensterscheibe hinter ihr zerbarst und ließ Scherben von Stalaktitengröße auf den Boden hageln. Ich sah, wie sie durch Biographien und Heim & Garten in meine Richtung zu fliehen versuchte. Sie kam nicht sehr weit. Eine Scherbe hatte sie am Knöchel getroffen, sie blutete stark und hinkte. Ein knorriges, triefendes graues Etwas kam durchs Fenster und holte sie ein. Es humpelte stärker als Susan, aber irgendeine erschreckende, hungrige Gier trieb es zu größerer Geschwindigkeit an. Es hängte sich an ihren Hals, und sie fielen zu Boden. Ich sah Büschel ihres Haares zwischen die Bücherborde fliegen und ihr Blut, das über die Fugen der Fliesen schnell auf mich zufloss. Das Blut schwemmte über das Buch, das ihr aus den Händen geglitten war und mit dem Rücken nach oben offen auf dem Boden lag. The Longest Trip Home.
3) Susan hätte tot sein müssen. Man verliert nicht so viel Blut und so viel von seinem Hals und spaziert dann los. Aber genau das tat sie. Irgendwie schüttelte sie sich die verwesende Person vom Rücken und rappelte sich auf die Füße. Zitternd pumpte sie sich auf, ein bisschen wie ein Akkordeon, das man am Griff vom Boden aufhebt. Ihre Beine streckten sich unnatürlich, dann sackte sie wieder in sich zusammen, krümmte sich, und an der Seite ihres Halses war nichts als ein rohes, riesiges Loch.
Es ist schwer, sich an Einzelheiten zu erinnern, aber ich weiß noch, ich roch den kupfernen, zu süßen Verwesungsgeruch der Gestalt hinter ihrem Rücken. Plötzlich störte es mich gar nicht mehr, dass sie so viele Ausgaben von Die Hütte gekauft hatte. Ich wollte ihr aufhelfen, mit ihr zur Kasse gehen und ihr noch sechs weitere verkaufen. Aber sie schlurfte an dem Buch vorbei, das sie fallen gelassen hatte, und verschmierte mit unnatürlich verdrehten Füßen ihr eigenes Blut auf dem Boden. Sie bewegte sich wie eine Spielzeugente, die ein Zweijähriger falsch zusammengebaut hat. Susan ging auf mich los. Nicht schnell, aber mein Gehirn versuchte immer noch zu verarbeiten, was ich gerade beobachtet hatte. Da sah ich im Augenwinkel etwas rot aufblitzen. Es war die Axt, die gute, wunderschöne Axt mit ihrem polierten, schimmernden Stiel und ihrem roten, geschwungenen Blatt. Sie leuchtete in einem vollkommenen Rot, wie frisch aufgetragener Lippenstift, bevor man ausgeht. Ein kleiner, harter Hammer hing an dem Glaskasten – im Notfall Scheibe einschlagen. Verdammte Scheiße, dachte ich, na wenn das kein Notfall ist. Wie ich schon sagte, in der Panik verschwimmen die Erinnerungen, aber ich glaube, meine Faust schlug mehr von der Scheibe ein als der Hammer. Meine Hand fühlte jedoch nichts, bis ich die Axt packte. Dann hielt ich den Stiel in beiden Händen und rannte nach vorne in den Laden, doch Susan, die arme, hässliche Susan stand im Weg. Ich holte ganz weit aus und schwang die Axt, und sie sauste in ihre Schulter. Ich hackte ihren rechten Arm am Gelenk ab. Es war leichter als erwartet. Susan wirkte weich, hohl und knochenlos.
Ich blieb nicht stehen, um zu sehen, ob sie das endgültig erledigt hatte. Erneut hob ich die Axt und sprintete in den vorderen Teil des Ladens, wo Phil dabei war, Matt, Janette und Hollianted in Richtung Pausenraum zu dirigieren. Ich erinnere mich jetzt, dass Phil einen Baseballschläger gepackt hielt. Ich hatte nie gewusst, dass wir einen im Laden hatten. Wie ich später erfuhr, hatte Phil ihn unter einem losen Bord im Aktenschrank neben der Registrierkasse versteckt.
Als er mich sah, schwang Phil seinen Schläger wie wild und winkte mich mit einer blutigen Hand heran. Ich hätte nie gedacht, dass es mich mal so glücklich machen würde, von diesem Spinner herangewunken zu werden. Er brüllte mich an, nein, er schrie. Ich wusste, was er hinter mir sah, wusste, dass Susan nicht erledigt war.
Jetzt sehe ich sie manchmal auf dem Monitor. Wir nennen sie nicht mehr Susan, sondern Lefty.
Morgen werde ich mich Lefty wieder stellen müssen. Unsere Nahrung geht zur Neige, wir müssen eine Expedition zu den Kühlschränken an der Kasse unternehmen. Es könnte auch nötig sein, das Café zu plündern, falls wir so weit kommen. Wir müssen die Sicherheit hinter dieser Tür aufgeben. Uns bleibt keine Wahl.