28. OKTOBER 2009 – DIE FEUER DES HIMMELS
»Sag mir, dass es gut geht.«
»Es geht gut.«
»Jetzt sag mir, wo wir hingehen und wie wir unsere Ärsche hier heil rausbringen.«
»Allison, ich bringe deinen Arsch hier lebend raus«, antwortet Ned. Es klingt wie ein Versprechen.
»Ned?«, frage ich.
»Ja?«
»Ich weiß, du wirst ihr nie begegnen, aber bitte versprich mir, dass du meiner Mom nie erzählst, was ich getan habe, okay?«
»Ich versprech’s.«
Von dem Moment an, in dem wir unser Gefängnis hinter uns lassen, fühle ich, wie Ned mich beschirmt. Immer nah bei mir, wacht er über mich, als ob ich immer noch in akuter Todesgefahr schwebe. Wie ich fühlt er die Erschütterung in der Macht. Dies ist ein böser Ort, ein sehr böser Ort, und wir marschieren direkt auf sein Herz zu, ohne es zu kennen.
Wir haben jetzt die Taschenlampe, aber ich habe Angst, sie zu benutzen. Uns bleibt nicht viel Zeit. Bald wird jemand Helga vermissen. Ihr Blut klebt immer noch an meinen Fingern, geronnen in den Furchen meiner Handflächen. So leise wir können, schleichen wir uns durch die neblige Dunkelheit des Kellers. Ohne Axt, Gewehr oder irgendeine andere Waffe fühle ich mich nackt. Doch die einzigen Baseballschläger, auf die wir stoßen, sind aus Hartschaum, und auch sonst lässt sich keine respektable Waffe finden.
Ich stolpere über eine Stufe und entdecke eine Treppe, die aus dem Keller hinausführt. An ihrem oberen Ende befindet sich eine Tür, unter der ein dünner Lichtschein strahlt. Durch diesen Spalt sehe ich die Umrisse von zwei Füßen, die sich hin und her bewegen, hin und her. An die Rückseite der Tür gekauert, gönnen wir uns eine kleine Verschnaufpause. Wenn die Person hinter der Tür gerade wegsieht, haben wir eine Chance, die Oberhand zu gewinnen. Wenn sie die Tür beobachtet, sind wir vermutlich geliefert.
Ich halte den Atem an, strecke langsam die Hand aus und drücke die Tür auf. Wie durch ein Wunder machen die Scharniere kein Geräusch, und die Tür schwingt ein paar Zentimeter auf. Die Frau sieht in die andere Richtung, eine Getränkedose schaukelt in ihrer Hand, und eine Pistole steckt hinten im hohen Bund ihrer Jeans. Ich erkenne die Pistole. Die gleichen haben wir in der Arena bei den Schießübungen benutzt. Ich frage mich, wie lange sie diesen Exodus schon geplant hatten, seit wann sie Ausrüstung zusammengestohlen und konspiriert haben. An welchem Punkt haben sie wohl entschieden, dass Gebetskreise nicht länger ausreichen? An welchem Tag haben sie beschlossen, Zuversicht und Hilfsbereitschaft blankem Fanatismus zu opfern? Ich reiße ihr die Pistole aus dem Hosenbund. Sie stößt einen erschrockenen, mutlosen kleinen Hilfeschrei aus. Aber als sie herumfährt und den Lauf der Pistole auf ihr Gesicht gerichtet sieht, verstummt sie sofort. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie mich wahrnimmt: mein Haar verklebt von Schweiß und Blut, eine Laptoptasche vor die Brust gehängt, meine Hände und mein Gesicht gezeichnet vom letzten Keuchen eines anderen Menschen. Ich kann fast fühlen, wie die großen, tiefen Blutergüsse auf meinem Rücken und meiner Brust anschwellen. Ich bin realtiv sicher, dass eine meiner Rippen gebrochen ist, weil der Schmerz konstant in heißen Wellen bis in meinen Kopf hochstrahlt.
»Wo ist mein Hund?«, frage ich. Sie öffnet ein paar Mal ihren Mund und schließt ihn wieder. Um den Hals trägt sie eine Silberkette, an der ein Kreuz und ein paar kleine Figuren aus Zinn baumeln. Drei Menschenamulette, vielleicht eines für jedes Kind. Ich greife die Pistole am kalten Lauf und lasse sie fliegen. Der Griff trifft genau ihren Wangenknochen.
Gott, das wollte ich schon immer mal tun …
Während sie zurückweicht, ist Ned an meiner Seite. Ich spüre seine Konzentration, seine Aufmerksamkeit, die vollständig auf sie gerichtet ist, auf unser Angriffsziel.
»Ich frage dich noch einmal«, flüstere ich und ziehe den Schlitten der Waffe zurück, um meinen Standpunkt zu verdeutlichen. »Wo ist mein Hund?«
»Er – er ist in der Cafeteria am Ende des Flurs.«
»Bist du sicher?«
»Ja, hundertprozentig.«
»Und seine Kinder?«, frage ich und nicke dabei in Neds Richtung. Ihre grauen Augen wandern langsam in seine Richtung, und ihr Kinn zittert, als bekäme sie plötzlich Angst. Ich hebe den Lauf auf Höhe ihrer Nase. »Antworte mir, oder du wirst es bereuen. Da bin ich mir hundertprozentig sicher.«
»D-den Flur runter im Ostflügel«, sagt sie und zeigt nach rechts.
»Wie heißt du?«, frage ich.
»Molly, Molly Anderson.«
»Das hier tut mir leid, Molly.« Ich schlage sie noch mal, diesmal viel härter, und sie bricht an der Wand zusammen. Ned atmet lange und tief aus und ich auch, denn bis gerade habe ich die Luft angehalten. Er legt mir eine Hand auf die Schulter, und ich spüre meinen vor Anspannung schmerzenden Körper.
»Kannst du mit dem Ding umgehen?«, fragt er.
»Nein«, antworte ich, »nicht wirklich. Eine gute, solide Axt würde ich jederzeit vorziehen.«
»Dann gib sie mir, du großes Baby.«
Ned nimmt die Pistole, und schon aus der Art, wie sich seine Finger um den Griff schließen, erkenne ich, dass es das Beste ist, wenn er sie hat. Er prüft das Magazin und runzelt die Stirn.
»Voller Ladestreifen«, sagt er, »ich bezweifle, dass sie überhaupt wusste, wie man sie abfeuert.«
»Wir können später darüber plaudern. Erst die Kinder, als Zweites kommt der Hund, das Gewissen folgt mit weitem Abstand dahinter.«
Es ist schaurig an diesem Ort, der eine Zuflucht sein sollte. Dieser Friedhof von einem Gebäude sollte erfüllt sein von Lachen und Lernen. Glücklicherweise wimmeln die Flure nicht von Leuten wie Molly, aber ich frage mich, wo sie alle stecken. Das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, kehrt zurück. Ich balle die Fäuste, damit ich unter dem Schauer nicht zu zittern beginne. Wir ducken uns, als wir die Wände entlangschleichen. Warum? Wenn sie uns sehen, sehen sie uns eben, aber aus irgendeinem Grund fühle ich mich in dieser Haltung unsichtbarer. Wir huschen durch Klassenräume, offene Türen, stoßen geschlossene auf, jeder Raum in einer anderen Farbe gestrichen, mit eigenem Thema – Rot, Blau, Grün, Indigo, Butterblümchen, Rosen, Wolken … Überall finden sich Spuren des Kampfes, des Todes. Auf dem Boden einer Vorschule sollte niemals Blut sein, aber hier klebt es auch an Wänden und Decken, ist in jede Richtung verspritzt, als ob Jackson Pollock einen tagelangen Anfall gehabt hätte. Innenausstattung gestaltet von Ed Gein.
Seit Ned die Pistole hat, lasse ich ihn vorgehen. Jedes Mal, wenn wir einen Klassenraum betreten, bemächtigt sich meiner ein krank machender Schub von Angst. Ständig erwarte ich, dass hinter den umgekippten Schultischen und Ministühlen irgendwelche Schrecken hervorbrechen. Doch niemand fällt über uns her. Im Flur gibt es nichts, worauf man besonders achten müsste, aber weit weg, vom Ende des Flures, höre ich ein befremdliches Geräusch, das entfernt wie eine Trommel klingt.
»Kumbaya in der Klapsmühle«, murmelt Ned kopfschüttelnd vor sich hin. Wir haben das Ende des Korridors fast erreicht und beginnen jetzt, die Räume sorgfältiger zu durchsuchen, fahnden nach jeder kleinsten Spur von Mikey und Evan. Ich möchte so gern glauben, dass sie wohlauf sind, doch die leeren Flure und dieses merkwürdige, pulsierende Trommeln, das nicht aufhört, erfüllen mich mit Schrecken.
»Bist du okay?«, fragt Ned.
»Ich? Ja, schon. Warum?«
»Du … du atmest nur unglaublich schwer. Sonst nichts.«
»’tschuldigung. Lungenschmerzen.«
»Du bist schon ein richtiger Glückspinsel.«
»Glücksbürste, wenn schon.«
»Du weißt, was ich meine.«
Wir erreichen eine Gabelung, an der zwei Flure in entgegengesetzte Richtungen abzweigen. Es riecht, als ob etwas verbrennt, nicht der angenehme Holzrauchgeruch, dem man im Herbst begegnet, sondern ein scharfer, bitterer Geruch wie brennendes Plastik oder versengtes Haar. Es dringt vom Ende eines der Flure durch eine große stählerne Doppeltür, die aussieht, als ob sie zu einer Kantine oder einer Sporthalle führt. Das entfernte, hallende Wummern der Trommeln und die Leere des Flures machen mich nervös und panisch. Aufgeregt spähe ich in alle Richtungen, während wir uns leise darüber zu einigen versuchen, welchen Weg wir einschlagen sollen.
»Komm, lass uns da langgehen. Wenn wir hinter diesen Türen keine Kinder finden, kehren wir um«, sage ich. Ned schwitzt, ein dunkler Ring hat sich unter dem Kragen seines T-Shirts gebildet, sein messingfarbenes Haar klebt an den Schläfen.
Ich weiß nicht, was es mit Vorschulen auf sich hat, aber sie sind seltsam. Besonders wenn die verrückte Unruhe wütender Seelen um einen herumflackert. Warum sind kleine Kinder so ängstlich? Sie sind nur Kinder. Vielleicht liegt es an unserer Erwartung, sie müssten unschuldig und rein sein. Wird diese Erwartung korrumpiert, winden sich die Erwachsenen, als säßen sie auf einem Haufen Schlangen. Es gibt hier keine Teufelskinder, aber die unleugbare Präsenz von Augen, vielen Augen, die uns angespannt beobachten.
Wir prüfen weitere Türen, unsere Bewegungen werden schneller, fahriger, während unsere Verzweiflung wächst. Noch klammern wir uns an die Hoffnung, Evan und Mikey zu finden. Ich spüre, wie Ned immer nervöser wird, und weiß, dass er sich fragt, ob Molly uns nicht einen Haufen Dreck erzählt hat. Der Rauch und der Geruch verursachen Brechreiz, dunkler, äscherner Nebel liegt in der Luft. Wir durchsuchen einen leeren Raum nach dem anderen, Spinde und Gerätekammern. In einem Lehrerzimmer kurz vor den großen Stahltüren, die geschlossen sind und durch deren Ritzen an Decke und Boden der Rauch und der üble Geruch hervorquellen, finden wir Mikey und Evan.
»Daddy!«
Ein himmlischer Klang, so einfach, doch so voller Erlösung und Freude, dass einem das Herz hüpft. Die Jungs umarmen mich, nachdem sie sich ihrem Vater entwunden haben. Neds Gesicht ist nass, und er wendet sich ab, um die Tränen von seinen Wangen zu wischen. Die Jungs sind ein bisschen dreckig und haben Schürfwunden, sind aber ansonsten gesund. Es scheint so, als hätte Corie zu guter Letzt doch noch einen Rest Verstand bewahrt.
»Geht’s euch beiden gut?«, frage ich.
»Mama sagt, wir müssen hierbleiben«, erklärt uns Mikey. Er sagt das so voller Schuldgefühl und Zweifel, dass Ned sich fast wieder abwendet.
»Es ist alles in Ordnung. Wir bringen euch hier raus«, verspreche ich und wuschele Evan durch sein weiches Haar. »Dein Vater erlaubt es.«
»Aber Mama wird verrückt«, protestiert Evan und schlingt die Arme um die Knie seines Vaters.
»Das ist wahr. Aber nicht annähernd so verrückt, wie ich sonst werde.«
Früher oder später musste es passieren.
Ich erkenne sofort, wen ich vor mir habe. Es ist wie bei Hitler oder Dschingis Khan oder Imperator Palpatine … Man braucht nur einen Blick und weiß auf Anhieb, das ist die Figur, die hinter allem steht. Sie war eine der Wortführerinnen, eine der Frauen, die zielgerichtet darauf hingearbeitet haben, Collin in Misskredit zu bringen und ein neues Regime einzuführen. Ich glaube, ihr Name ist Sadie oder Sally, ich kann mich nicht erinnern, ich weiß nur, dass ich ihre kalten, berechnenden Augen und ihre verdreckte Dauerwelle schon oft gesehen habe. Sie ist nicht viel größer als ich und dürr, mit unschön eingefallenen Wangen dort, wo einst fröhliche Rundlichkeit herrschte. Ich kann Corie hinter ihr erkennen, die unter dem Türrahmen stehen geblieben ist. Die Tragödie ihres Lebens, all ihre Fehler sind ihr schmerzhaft in das traurige, schöne Gesicht geschrieben.
Sadie/Sally hat eine abgesägte Schrotflinte – unzweifelhaft ein weiteres gestohlenes Schmuckstück von Collin – und richtet sie genau auf den kleinen Evan.
Ich denke an Collin, an Ted, an Dapper, daran, wie nahe wir dem Weg nach draußen und zu ihnen zurück schon waren.
»Die Waffe runter«, sagt sie und starrt Ned an. Er blickt erst mich an, dann seine Kinder. In seinen Augen lodert Verzweiflung. Ich will nicht, dass er sie runternimmt, aber ich weiß, er muss und er wird.
Langsam kniet Ned nieder und legt die Waffe auf den Boden. Ebenso langsam steht er wieder auf und zeigt seine geöffneten, leeren Hände. Sadie oder Sally lächelt und macht kehrt. Sie bedeutet uns, ihr zu folgen, die Waffe immer noch auf Evan gerichtet. Ich weiß, dass die Frau wahrscheinlich nicht sehr stark ist, aber ich bin schwach. Ich weiß es. Immer noch spüre ich Helgas Schulterblätter, die meine Lungen zerdrücken. Wenn ich nur etwas mehr Kraft hätte …
»Sachte jetzt, ganz langsam«, sagt sie.
Als wir hinaustreten, stehen die Stahltüren offen, und eine dichte Wolke schwarzer Asche schlägt mir ins Gesicht. Der Gestank lässt mich würgen. Sadie oder Sally schwenkt den Lauf auf uns, und wir gehen in einen Raum, den ich jetzt als die frühere Cafeteria erkenne. Die langen, grauen Tische mit den daran befestigten blauen oder hellgrünen Stühlen liegen auf der Seite. Langsam werden in der Szenerie Figuren sichtbar, quellen aus der Wand aus Rauch hervor. Sie sind zu weit weg, um sie zu erkennen, aber sie bilden eine Art Wall, mit den Rücken zu uns.
Meine Augen folgen den wirbelnden Rauchschwaden in den hinteren Teil der Cafeteria, wo sie eine Feuerstelle gebastelt haben. Umrahmt von liegenden Tischen brennen einige aufgetürmte alte Schreitische und Schränke. Meine Sicht wird klarer, und ich erkenne Renny, die dicht an der Mauer aus Gemahlinnen steht. Eine Waffe ist auf ihren Rücken gerichtet.
»Bringt sie her!«
Corie zerrt Evan und Mikey davon, hört nicht auf ihren Protest, bringt sie von uns weg. Kein gutes Zeichen.
Renny kommt zu uns, ihre Lippen eine dünne Linie aus Verachtung.
»Was habt ihr gemacht?«, fragt sie mich mit einem blöden Lächeln.
»Lange Geschichte.«
»Halt den Mund«, sagt Sadie oder Sally und wedelt mit der Schrotflinte herum, als wäre sie ein Zepter. Es braucht kein kundiges Auge, um zu erkennen, dass sie nicht mit der Waffe umgehen kann. Zu ihrem Glück streut diese Kanone so, dass ein blinder Affe einen damit niederstrecken könnte. Auf diese Distanz gibt es für uns keine Hoffnung.
Renny, Ned und ich stehen Schulter an Schulter. Sadie oder Sally schreitet vor uns auf und ab, die Flinte fest in ihren knochigen Händen. Sie sieht schießwütig aus, bereit zu explodieren. Die unbeschreibliche Hitze rollt in dicken Wellen von der Feuerstelle heran. Ich kann nicht genau sagen, wonach es riecht, aber mit Sicherheit nicht nach Barbecue. Das Getrommel kommt von ein paar Frauen im Schneidersitz, die auf Plastikeimer einhämmern. In der Nähe tanzt eine Hand voll Frauen, sie werfen die Hände in die Luft und springen wie in religiöser Ekstase. Merkwürdigerweise sehe ich keinen Mann, nicht mal einen gefesselten oder sonst wie gezwungenen.
»Pläne geändert?«, frage ich, als ich das Fehlen eines Adams bemerke.
»Er war nicht hilfsbereit.«
»Braver Junge«, flüstert Ned.
»Ich nehme an, er ist der wundervolle Duft, den wir gerade wahrnehmen? L’air de’ infidèle?«
»Tatsächlich«, antwortet sie und klatscht mit dem Lauf der Flinte freudig in ihre Handfläche. »Das ist eine Warnung an euch alle, ein Hinweis darauf, was kommt, wenn ihr jetzt nicht bereut und vor uns niederkniet. Und du«, zischt sie und umrundet Ned, »wirst deinen Standpunkt überdenken.«
Er lacht bitter, seine Lippen stülpen sich zur Seite. »Ihr durchgeknallten Bräute habt es einfach nicht mitgekriegt, oder?« Sie hebt den Kolben der Flinte, augenscheinlich um Ned zu schlagen, also schiebe ich mich dazwischen, um ihm die Unannehmlichkeiten zu ersparen. »Hör zu, Schlampe, schmeiß uns einfach ins Feuer, bevor es ausgeht, und schütte Kerosin auf den ganzen Scheiß, denn es braucht mehr als dieses Weicheierfeuerchen, um uns zum Schweigen zu bringen.«
»Ihr Narren, ihr … ihr unwürdigen, ihr unerlösbaren Sünder!«, sagt Sadie oder Sally, seufzt und rollt die Augen. »Ihr wisst nicht, was ihr verpasst. Ihr könntet die Welt mit uns erneuern, diese unvollkommene, unmoralische Welt mit uns neu errichten und einen Ort der Wunder erschaffen, ein Paradies. Gott hat uns die Chance gegeben. Er hat unsere Gier gesehen, unsere Lüsternheit, unsere korrupten Herzen, und Er hat eine Plage gesandt, um die Ungläubigen zu vernichten. Es ist eine Prüfung, eine göttliche Prüfung, um die herauszusuchen, die wahre Krieger Gottes sein und die neuen heiligen Kinder beschützen wollen.«
»Die Antwort ist immer noch nein, Schlampe«, sagt Renny und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Ist das nicht gemütlich? Jetzt weiß ich, wie Han Solo sich gefühlt hat, bevor er in die Grube von Carkoon geworfen wurde«, sage ich. »Das kann ich also schon mal von der Liste der Dinge streichen, die ich vor meinem Tod noch herausbekommen will.«
»Ich glaube, hier riecht es tatsächlich noch schlimmer«, knurrt Ned. Vor lauter aufgestautem Zorn schwitzt er immer mehr. Ich spüre, wie nass seine harte Schulter ist, wo sie meine berührt. Aber vielleicht transpiriert er auch wegen des Infernos vor uns. Hinter uns höre ich, wie Evan einen Koller kriegt und Corie versucht, ihn zum Schweigen zu bringen.
»Kann ich eine Prise Knoblauchpulver bekommen, bevor der Hauptakt beginnt?«, frage ich in der Hoffnung, dass Sadie oder Sally sich ablenken lässt und näher an uns herankommt oder verwirrt genug ist, um die Flinte zu senken. Es braucht nur eine kleine Ablenkung, einen wohl gezielten Nadelstich …
»Oh«, sagt sie und lacht, dass ihr Busen unter ihrem fleckigen Sweater wippt. »Oh, ihr geht nicht ins Feuer. Nein, dieser Tod ist zu schnell, zu leicht für Abschaum wie euch. Die Zeit ist gekommen. Lasst die Verdammten die Verdammten fressen. Lasst sie frei!«
Ich hatte schon damit gerechnet, dass eine Herde wütender Mütter auf uns zustürmt, um uns zu teeren und zu federn, doch Sadie oder Sally schafft es, mich zu verblüffen. Genau gesagt, sie schockt mich bis ins Mark. Es gibt Irre, und es gibt gottverdammte Scheiß-Super-Irre.
»Himmel.«
Durch das Getrommel meines Herzens kann ich Ned kaum hören. Von einer Seitentür kommt ein Geräusch, ein Knirschen, als ob enorme Metallgetriebe sich trotzig verkeilen. Ich blinzle durch den Rauch und erkenne einen Pausentisch, der vorwärtsgezogen wird. Hinter ihm schwingen die Türen auf, die er versperrt hat. Eine enorme Flut von Zombies strömt herein. Stöhner, aber so schwach und ausgehungert, dass sie kaum mehr als Skelette sind, mit kleinen Haut- und Eingeweideresten, die an ihren Knochengestellen kleben. Sie kommen unverzüglich auf uns zu, humpeln grunzend und kreischend über den Linoleumboden. Ihre knochigen Füße erzeugen ein schreckliches Kratzen auf dem Boden. Ich nehme einige Leute wahr, die mit gebundenen Händen neben der Tür sitzen. Ungläubige, Sünder wie wir. Ned erstarrt vollständig. Seine Schultern sind so fest an mich gepresst, dass ich fühle, wie seine Muskeln zu einem einzigen harten Knoten der Angst werden. Ich habe keine Ahnung, wie Sadie oder Sally sich und die Ihren in Sicherheit bringen will. Sie hat die Flinte auf uns gerichtet und einen Ausdruck im Gesicht, als habe sie gerade einen Spurt aus dem Park bewältigt.
Dann sehe ich, dass die Gemahlinnen aus den Tischen fleißig ein kleines Spalier gebildet haben, der einem Durchlauf für Schweine oder Rinder ähnelt und dass die Untoten tatsächlich nur auf uns zuhalten. Auf Renny, Ned und mich.
»Scheiße«, flüstert Renny. »Verdammte Scheiße.«
Sie sind schnell mit den Tischen. Auf unserer Seite versammeln sich weitere Gemahlinnen und kreisen uns mit den Tischen ein. Sie bauen einen Pferch, der uns umgibt und in dem sie uns zum Feuer zurückdrängen. Ein paar von den Untoten haben schon die Barriere überwunden und sind ins Feuer gesprungen. Sie brüllen, als ihre Skalpe Feuer fangen. Ich weiß, ich sollte schnell eine Idee entwickeln, wie wir hier rauskommen, aber mein Geist rast sinnlos im Kreis, die Räder in meinem Hirn drehen allesamt durch. Alles, worauf ich mich konzentrieren kann, sind Neds müffelnde Achseln und wie die Augen der Gefangenen herausgerissen werden, ihre weißen Augen und ihre zerfetzten Körper. Die Untoten überrollen alles, was in ihren Weg kommt, zerfetzend und fressend wälzen sie sich vorwärts. Ich versuche, mich abzuwenden. Ich will das nicht mitbekommen, aber alles, was ich sehe, sind die Gemahlinnen, die ihren apokalyptischen Pferch verlagern, und uns, wie wir zurückweichen, so langsam wir können, um Sally oder Sadie nicht zu provozieren.
Ich konzentriere mich darauf, diese Frau mit dem ausdruckslosen Gesicht und den gemeinen, verkrampften Händen anzustarren, wie sie den Tisch umklammert, als sei es ihre heilige Pflicht. Und ich rieche Ned und höre Renny keuchend fluchen und sehe diese dumme Frau mit ihrem hässlichen, dummen Flanellhemd und muss an Matt denken … Unter allen Menschen, an die ich im Moment meines Todes denken könnte, hätte ich nie Matt vermutet, den Abteilungsleiter, den Verrückten mit seinen Verschwörungstheorien und seinen Flanellhemden und seinem nervtötenden Todesblick …
Matt.
Und dann trifft es mich. So einfach, so dämlich einfach …
»Du!«, rufe ich und zeige auf Sally oder Sadie. »Sag mir, sind das die Verdammten?«
»Ja, die Verdammten, natürlich sind sie das!«, schreit sie.
»Und wenn du eine von ihnen wärest, wärst du dann auch verdammt?«
»Du kannst dich nicht retten, Mädchen. Jetzt ist die Stunde des Gerichts.«
»Wirklich? Nun, gute Arbeit. Du hast das Gerichtsspiel gewonnen, nehm ich an.«
»Gewonnen? Das ist der Zorn Gottes und kein Spiel!«
Ich taumele ein paar Schritte auf sie zu, hoffe und hoffe auf eine letzte Chance. Es ist ein Schuss ins Blaue, aber alles ist einen Versuch wert, wenn du vor dem Fegefeuer stehst und eine Flut untoter Monster über dich und deine Freunde hereinbricht …
»Du hast uns alle umgebracht«, rufe ich und werfe die Hände in die Luft. Dann zeige ich auf den Rand des Feuers, wo noch ein paar Untote schmoren. »Die Asche.«
»Was? Was für Asche?«
»Na, ihre Asche, du Närrin. Die Asche der Verdammten. Hast du denn nicht die leiseste Ahnung von irgendwas? Sie einzuatmen, ihre Gewebereste in die Lungen zu kriegen, das reicht schon. Du hast nicht nur uns verdammt. Du hast dich selbst und euch alle verdammt.«
Es dauert einen Augenblick, bis sich die Erkenntnis in ihr Bahn bricht und auf ihrem Gesicht abzeichnet. Ihr Siegerlächeln fällt in sich zusammen.
»Ich glaube dir nicht«, sagt sie und hebt eine Augenbraue. Das Gewehr ist auf mein Gesicht gerichtet, und ich fühle, wie mir der Schweiß in Strömen die Schläfen herunterrinnt. Ned ist nah, so nah …
»Aua!«, schreit er. Der Fairness halber: Ja, ich bin ihm auf den Fuß getreten. Aber dann schaltet er schnell, begreift, was ich will, und krümmt sich zusammen. Er beginnt zu stöhnen, greift sich an den Kopf, hält sich die Ohren zu und versucht vorwärtszukriechen, während er den Boden vollspuckt. Er ist gar nicht schlecht. Renny schließt sich an, kluges Mädchen. Sie fasst sich an die Kehle, rollt die Augen zurück, bis nur noch das Weiße zu sehen ist, windet sich und grunzt zu ihren Spastiken.
»Sieh nur!«, belle ich und lasse meine Glieder vor Angst zittern. »Sieh nur, was du getan hast!«
»Nein!«, schreit sie, während sie mit offenem Mund Ned anstarrt, der so weit geht, sich sein hübsches Gesicht zu zerkratzen, und sich wild am Boden krümmt. Ich muss mir gedanklich eine Notiz machen, ihn für die beste Nebenrolle zu nominieren. Ich rieche einen Oscar, aber vielleicht ist es auch nur der Gestank verbrennender Zombies. »Das kann nicht sein! Nein! Oh Himmel, oh Herr, wie kannst du mich verlassen. Wie?«
Sie beginnt zu weinen und zu schluchzen, und ich weiß, dies ist meine Chance, wenn ich je eine gehabt habe.
»Nein«, sage ich und mache einen Schritt auf sie zu. »Du hast Ihn verlassen.«
Ich habe die Schrotflinte in meinen Händen, und das fühlt sich gut an. In einer heißen, rasenden Welle von Adrenalin fluten all die Stunden an Schießübungen durch meine Hände. Meine Finger wissen genau, was sie tun müssen, wissen, wie die Waffe zu halten ist, wie gezielt und abgedrückt und der Repetierkolben bedient wird. Sie hat einen Rückstoß wie ein Hengst auf Steroiden, aber ich bleibe aufrecht stehen. Meine wunde Brust schmerzt so sehr, dass nach jedem Schuss die Versuchung stärker wird, die Waffe fallen zu lassen. Der Klang ist beeindruckend, wie Raketen, die direkt aus meinen Ohren starten …
Ihr Gesicht ist weg, jedenfalls das meiste davon, doch der Ausdruck von Verblüffung und Schrecken zeichnet sich immer noch in den Resten ab. Ned ist schnell da, entwendet mir das Gewehr und fängt an zu feuern. Nicht zufällig, sondern sorgfältig gezielt, erledigt er die jeweils nächsten Untoten und feuert dann Warnschüsse für jede Gemahlin ab, die uns zu nahe kommt. Die miserable Sicht infolge des dichten Rauches verhindert, dass sie auf uns schießen können.
Neben mir steht kein Männermode-Modell mehr, sondern ein Soldat. Renny und ich werfen uns über die Tische, rennen zu Evan und Mikey und heben sie auf unsere Arme. Die Türen stehen immer noch offen, und wir rennen in den Flur, keuchen nach frischer Luft. Ich wende mich um und sehe, wie Ned versucht, Corie von den Untoten wegzuziehen. Weg von dem Gewehrfeuer und dem Rauch. Aber sie will nicht, sie bohrt die Absätze in den Boden und wehrt sich. Ich erkenne es in ihrem Gesicht, an ihrer Haltung.
Sie hat ihre Entscheidung getroffen.
Die weiteren Erinnerungen verschwimmen. Ich weiß, wir sind gerannt. Ich weiß, wir hörten die Untoten, die uns auf den Fersen blieben, uns jagten, durch die Flure folgten. Ich weiß, dass der pure Rausch der Erlösung mich trug, mich davor bewahrte, vor Schmerz und Erschöpfung zusammenzubrechen. Und ich weiß, dass Renny mir die Laptoptasche abnahm, sie trug und beschützte, während wir durch die Schule rannten. Wir fanden Dapper in einem Kunstraum auf der anderen Seite des Gebäudes, hungrig, verängstigt, aber mit wedelndem Schwanz, bereit für uns.
Als wir rauskamen, stiegen wir sofort in den gestohlenen Lieferwagen. Ich erinnere mich, dass ich auf der Rückbank lag und Dapper mir Hände und Gesicht leckte. Mikey und Evan saßen in stillem Schock auf den Sitzen. Schließlich erinnere ich mich an den Ausruf, den Schrei des Entsetzens, als Ned um die Kurve bog, die uns heimführen sollte, in die Arena, zu Collin und Ted und Finn. Der Klang, von dem ich hochfuhr, ließ mich für einen Augenblick den Schmerz vergessen.
Wir starrten gemeinsam hin, keiner sagte ein Wort. Stumm blickten wir auf den Campus, die Arena stand in Flammen.
KOMMENTARE
Isaac:
28. Oktober 2009 19:23 Uhr
Es ist gut, endlich die ganze Geschichte zu kennen. Und ich kenne dieses Gefühl, Allison, dieses »was jetzt?«-Gefühl. Wir mussten letzte Nacht unsere Scheune abbrennen. Eine ganze Horde Stöhner ist aufgetaucht. Ich glaube, die Kälte treibt sie zur Verzweiflung. Wir haben sie in der Scheune eingekreist, und dann gab es keinen anderen Weg … Wir haben sie niedergebrannt. Es fühlt sich an wie ein Verlust. Es waren eine ganze Menge Lebensmittel darin, und nun ist alles etwas härter geworden. Du bist also nicht allein. Und nicht die Einzige, die fragt: »Was jetzt?«
steveinchicago:
28. Oktober 2009 19:55 Uhr
das ist hart. du hast es raus geschafft und die arena war weg? bist du sonst in ordnung?
Allison:
28 Oktober 2009 20:04 Uhr
Hey, danke euch. Es ist hart, aber was ist das nicht? Wir schaffen es. Wir werden uns wieder formieren und einen Weg finden, vorwärtszukommen. Was soll’s, es ist ein guter Zeitpunkt, um Colorado auszukundschaften.