5. NOVEMBER 2009 – ON THE ROAD
»Jetzt, wo wir wissen, dass es jenseits des Grabes Leben gibt …«
»Eine Art Leben.«
»Richtig, eine Art Leben. Interessiert sich deshalb jemand ein bisschen mehr für diesen ganze Himmel-und-Hölle-Krams?«
Julian und ich halten vor dem Verbrauchermarkt an der 235. Straße Wache. Des Moines ist eine Geisterstadt, ein unheimliches, stilles Gegenstück zu dem Chaos in Iowa City. Renny füllt drinnen ein paar Einkaufstüten mit Chips und Getränken. Hier wurde schon geplündert, aber wir haben gelernt, die Lagerräume solcher Orte zu durchsuchen und die verschlossenen Türen aufzubrechen, hinter denen sich oft noch ein paar Kisten Wasser, Cola oder Saft verbergen. An solchen Orten kann man die Panik förmlich spüren. Genau aus diesem Grund bat uns Renny, draußen zu bleiben. Julian und ich haben an der letzten Tankstelle wohl ein bisschen zu viel CSI: Des Moines gespielt.
Aus den Blutspuren zu schließen, die zum Pausenraum der Angestellten führen, muss sie hier die volle Wucht des Angriffs getroffen haben.
Was siehst du noch, Greg?
Nun, Grissom, da sind Fingerabdrücke an der Tür, als hätte jemand versucht, sich hindurchzukrallen. Sie muss verschlossen gewesen sein. Ich werde dieses Zahnfragment der Spurensicherung übergeben. Es könnten Maischips sein, die in der Krone stecken.
Oh Greg, du bist so herrlich scharfsinnig und deiner Zeit so weit voraus. Du bist der liebenswerte Padawan dieses bunt gemischten und emotional verkrüppelten Eliteteams von Wissenschaftlern. Und du wirst nie die Liebe erfahren, denn niemand verabredet sich mit einem Kerl, der sein Haar so trägt.
Danke, Griss! Du bist ein harter, aber wohlmeinender Papa Bär in meinem Leben.
Keine Ursache, Greg. Jetzt hör auf zu quatschen, und nimm einen Schluck aus dieser Urinpfütze.
Tja. Ihr versteht jetzt wohl, warum Julian und ich mit dem Wachdienst betraut wurden.
»Ich bin nicht neugierig auf den Himmel«, erkläre ich. »Ich bin auf überhaupt nichts neugierig außer auf Nahrung. Gib mir nur etwas zu essen, dann sehen wir weiter.«
Julian lässt mich auf der Bordsteinkante sitzen (mit ›er lässt mich‹ meine ich natürlich, dass er so lange herumquengelt, bis ich mich füge), damit er Erste Hilfe an mir exerzieren kann. Im ersten Verbrauchermarkt gab es keine Pflaster und keine antibiotische Salbe mehr. Dafür war der Laden – warum auch immer – zugestopft mit Werbetafeln voller geschmackloser Wortspiele, die Julian voll in Anspruch nahmen. Dankenswerterweise hat sich die kindliche Freude an Werbe-Wortspielen seit etwa fünfundvierzig Minuten endlich abgenutzt. Nun ist Julian wieder dabei, sich über meinen Gesundheitszustand aufzuregen. Sicher, die Schnitte stechen, und mein Knöchel fühlt sich an, als hätte eine Elefantenherde Polka darauf getanzt, aber es könnte schlimmer sein. Es könnte mir gehen wie Ted.
»Werden wir jemals seine Verbände wechseln?«, frage ich. Mein Blick wandert zur Limousine, in der Ted immer noch schläft. Wir haben seine Binden seit der Operation nicht mehr erneuert.
»Sicher. Ich kann das machen, wenn du Angst hast, dir das anzusehen«, antwortet Julian.
Die Sonne scheint und nimmt dem steifen Novemberwind seine Schärfe. Julian sieht warm genug aus. Er hat sich an der letzten Tankstelle eine scheußliche Windjacke geschnappt. Es überrascht nicht, dass sie beim Plündern zurückgeblieben ist. Sie ist kotzgrün mit einem kleinen heulenden Wolf auf die linke Seite gestickt. Über den kleinen und baumlosen Parkplatz pfeift es, als befänden wir uns inmitten der Prärie. Gras wächst in unmöglichen Winkeln aus den Rissen im Pflaster, braun und kurz, als habe es erst nicht erwarten können, durch das Pflaster zu brechen, sich bei der heraufziehenden Kälte aber eines Besseren besonnen. Ich kann mir fast vorstellen, wie der Platz aussieht, wenn er vollständig vom Gras überwuchert ist und die Erde ihn zurückerobert hat. Ein Teil von mir wäre nicht überrascht, einen Stegosaurus oder eine Herde Büffel von der Interstate herunterwandern zu sehen.
»Warum glaubst du eigentlich die ganze Zeit, dass ich Angst habe? Muss ich ein gottverdammtes Feuerschwert schlucken, damit du das mal lässt, oder was? Autsch! Scheiße, Jules.«
»Halt still«, sagt er. »Generell gesagt, glaube ich gar nicht, dass du Angst hast. Aber ich glaube, dass es dir gar nicht gefällt, mit Teds Sterblichkeit konfrontiert zu werden.«
»Du wirst immer gleich philosophisch. Ich nehme es zurück, ich brauche kein Essen. Und um deine Frage zu beantworten: Nein, die dritte Möglichkeit – nämlich untot zu sein – überzeugt mich nicht davon, dass Himmel und Hölle Wirklichkeit sind. Wenn überhaupt, überzeugt es mich davon, dass es sie nicht gibt.«
»Und wenn sie doch existieren?«, fragt er.
»Tun sie nicht.«
»Komm schon, sei nachsichtig mit mir.«
»Also, wenn sie existieren, hoffe ich, dass der Himmel eine Reise ist. Ich hoffe, er ist du und ich und Renny und Ted mit nichts als Zeit zu unserer Verfügung. Und ich hoffe, er überbrückt die unmessbare Distanz zu deinen engsten Freunden.«
Julian zieht seine Hand und den Baumwolltupfer von meiner Stirn weg. Unter der Sonne spiegelt sich mein Gesicht in seinen leuchtend blaugrünen Augen. Seine Schläfen treten hervor und umarmen sein plötzliches Lächeln. Seiner Kehle entweicht ein kleiner Laut der Verwirrung oder vielleicht auch der Freude, und er drückt den Baumwolltupfer an meine Stirn. Für einen Moment fühlt es sich kühl an, dann beginnt es zu stechen.
»Über die Hölle brauche ich nicht nachzudenken«, schließe ich. »Ich weiß schon, wie sie ist.«
Renny kommt mit gefüllten Armen aus dem Verbrauchermarkt und stellt die Tüten neben uns auf den Bordstein. »Erster Gang. Da ist noch so viel Scheiß im Hinterzimmer, wir sind für den Rest der Reise versorgt.«
»Schön, lass dir Zeit«, sage ich.
Renny geht wieder rein und summt dabei vor sich hin.
»Du siehst müde aus«, sagt Julian.
»Ja, ich habe nicht gut geschlafen. Ich konnte noch nie gut im Auto schlafen.«
»Wir könnten ein oder zwei Häuser durchstöbern«, schlägt er vor, »und nach ein paar Schlaftabletten suchen.«
»Nein«, entgegne ich schnell, denke an die Arena und den Wodka und den furchteinflößenden großen König von Ithaka, der mir sagt, ich solle meinem Herzen nach Hause folgen. Es schüttelt mich.
»Was von Bedeutung?«
»Ich habe solchen Medikamenten abgeschworen«, antworte ich. »Das letzte Mal, dass ich etwas genommen habe, das stärker als Tylenol war, bin ich halluzinierend am Strand von Troja gelandet, und Odysseus war mein geistiger Führer. Der Kerl ist hardcore.«
Er lacht schallend, bis er merkt, dass ich es ernst meine, und stellt dann fest: »Schön, das ist ein hervorragender geistiger Führer. Meiner wäre wahrscheinlich ein Elch.«
»Oder Diana Ross.«
Renny kommt wieder, eine weitere Ladung vollgepackter Tüten in den Armen. Ich erhebe mich vom Kantstein und nehme ihr eine ab, um sie zu entlasten. Sie deutet auf die Tüte.
»Guck mal rein, ist ’ne Überraschung drin.«
Ich linse in die Tüte und erspähe sogleich ein Stück metallisches Grau.
»Eine neue Axt!«, sage ich strahlend. Für mich die beste Neuigkeit des Tages.
»Hab sie ganz hinten gefunden. Ich kann echt kaum glauben, in wie vielen Läden immer noch solche Dinger auf Halde liegen. Ich meine, das ist doch ein ernst zu nehmendes Sicherheitsrisiko«, kommentiert sie.
»Danke dafür«, sage ich. Ich prüfe den Stiel der Axt. Sie ist schwerer als meine erste, und das Blatt könnte einen Schliff vertragen … Ach, man vergisst seine erste nie. »Ohne habe ich mich richtig nackt gefühlt.«
»Hey!«
Gleichzeitig wenden wir drei uns der Limousine zu. Ein Mopp wirrer schwarzer Haare taucht auf, und ein Paar verstörter brauner Augen starrt uns an, die gesprungene Brille zur Seite gestülpt. »Gott sei Dank, ich dachte schon, ihr habt mich auf einem Parkplatz zurückgelassen.«
»Wie kannst du das denken?«, rufe ich. Ich renne zum Wagen, wo Ted aufrecht auf der Rückbank sitzt, immer noch bleich, aber wach und lächelnd. »Wir würden doch nie Dapper zurücklassen.«
»Arschloch.«
»Schön, dass du wieder da bist«, sage ich und täusche vor, ihn auf die gesunde Schulter zu boxen. Renny und Julian schließen auf, halten eine geöffnete Wasserflasche für Ted bereit.
»Willkommen zurück«, sagt Renny. »Das ist Julian, er ist Arzt.«
»Dann bist du der, dem ich danken sollte?«, fragt Ted und blinzelt Julian an.
»Ja und nein«, antwortet der und streicht sich mit der Hand über sein zottiges Haar. »Es war eine gemeinsame Anstrengung. Wie fühlst du dich?«
»Wund … und ziemlich groggy, aber ich kann meine Hand bewegen, das ist gut, nicht?«
»Dank Renny haben wir jede Menge zu mampfen für die Reise«, sage ich. »Und Julian wird deine Verbände wechseln, bevor wir losfahren.«
»Ist da auch etwas Beef Jerky für mich drin?« Renny verlädt bereits die Einkaufstüten und stellt sie neben Ted auf die Rückbank.
»So viel du essen kannst«, antwortet sie. »Ich hoffe, du magst Teriyaki. Ich konnte keine mit schwarzem Pfeffer finden.«
»Mal gewinnt man, mal verliert man«, erwidert er.
Es ist gut, ihn lächeln, trinken und Beef Jerky runterschlingen zu sehen. Er lässt Dapper abbeißen und isst vom selben Stück weiter. Typisch. Unser Ted ist wieder da.
»Es ist so einiges passiert«, sage ich und drücke meine Brust. »Ich denke … tja … mein gefrorenes Herz taut ein wenig auf. Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, Teddy.«
»Ich habe mir Sorgen um mich gemacht«, sagt er. »Ich hatte ein paar verrückte Träume. Riesen und gigantische Käfer, Meerjungfrauen und so’n Scheiß.«
»Ich wette, sie wären noch besser gewesen, wenn wir etwas Morphium gefunden hätten«, sagt Julian.
»Dann müsste ich dich jetzt küssen«, entgegnet Ted.
»Ich bezahl was, wenn ich das sehen darf«, fügt Renny hinzu und klopft Julian auf den Rücken. Er zuckt zusammen und verzieht das Gesicht.
»Ich glaube, wir würden alle viel lieber zusehen, wie Allison und du es machen«, antwortet Julian. »Und mit alle meine ich Ted und mich selbst.«
»Unwahrscheinlich«, sage ich und lege die Stirn in Falten. »Renny ist nicht in meiner Liga.«
»Amen«, sagt Renny. »Woll’n wir?«
Wir quetschen uns ins Auto. Diesmal nehme ich mit Ted hinten Platz. Dann steigen wir noch mal aus. Während Ted seine neuen Verbände bekommt, breitet Renny auf der Rückbank ein paar Plastiktüten aus, um den getrockneten Blutfleck abzudecken. Ich ergreife die Gelegenheit und wandere mit meinem Laptop auf dem Parkplatz herum, wobei ich den fein abgestuften Parameter für drahtlosen Empfang genau beobachte. Es kommt mir vor wie ein Wunder, dass ich immer wieder irgendein Signal finde, und ich frage mich, wo es eigentlich herkommt. Entweder gibt es immer noch verstreute Bastionen der Zivilisation oder es ist mir gelungen, das einzige magische Laptop im Laden zu erwischen. Auf der entgegengesetzten Seite des Parkplatzes macht es blib, ein dünner grüner Streifen, und ich hocke mich auf den Zement, um das Portal hochzuladen. Möchten sie mit SNet verbunden werden? Ja, tatsächlich, sicher will ich das. Nur dieser kleine blinkende grüne Streifen macht mir Hoffnung. Er erinnert mich daran, dass ein Splitter der Zivilisation überdauert, irgendwo, vielleicht ganz nah.
Durch die dünne Linie von Bäumen am Rand des Platzes kann ich eine Gestalt erkennen, ahne ein Schlurfen auf zerfetzten Füßen.
Ich schließe das Laptop und packe meine Axt. Das ist mir zur zweiten Natur geworden. So muss sich eine Mutter fühlen, die ihr Neugeborenes in den Armen hält, so fühlt ein Missionar, wenn er das Banner aufnimmt, das Kreuz, die heilige Sache. Es knackt, als sich die Zweige teilen, und ich erkenne einen Schimmer von Hunger oder Hoffnung in den Augen des Schleichers. Egal, was das ist, ich hebe die Axt hoch und schwinge sie mit einer Drehung.
Als der Kopf des Stöhners zu meinen Füßen auf dem Boden liegt, sehe ich, dass es sich um eine Frau mittleren Alters handelt, die Kehle herausgerissen, beide Ohren fehlen. Es scheint, als habe sie eine Dauerwelle gehabt, und sie trägt einen blumigen Morgenmantel. Sie war jemandes Mutter, jemandes Geliebte, und jetzt fehlen ihr Geist und Kopf. Das ist nicht meine Mutter, denke ich, das ist nicht das Schicksal meiner Mutter. Wir sind jetzt so nah an unserem Ziel, und ich weiß, wenn wir es erreicht haben, werde ich sie sehen. Liberty Village ragt an meinem gedanklichen Horizont auf wie Disneyland, der Ort, wo alle Träume wahr werden. Ich kann nicht anders. Ich fühle mich wie ein Kind – die Begeisterung, die Vorfreude werden jede Minute stärker.
KOMMENTARE
Isaac:
5. November 2009 16:37 Uhr
Die Gegend ist zu gefährlich geworden, wir ziehen weiter. Ich wollte nur auf Wiedersehen und viel Glück sagen. Du hast unsere Moral aufrechterhalten, und nun, wo du deinem Ziel so nahe bist, ist es auch für mich Zeit zu reisen. Wir werden versuchen, nach Norden zu kommen, vielleicht bis nach Kanada. Wenn wir einen sicheren und guten Ort gefunden haben, schicke ich Nachricht, aber es klingt so, als wärst du selbst dicht am Ziel, Allison. Alle besten Wünsche und guten Weg.
Allison:
5. November 2009 17:01 Uhr
Danke, Isaac. Tatsächlich bin ich irgendwie … geschockt. Es fühlt sich an, als verlöre ich einen Freund. Nicht verlieren, aber – du weißt schon. Ich hoffe, du findest deinen Weg nach Kanada. Es war eine schräge, schreckliche Reise, aber ich glaube, du hast sie mir ein bisschen leichter gemacht, uns allen. Vergiss nicht, die Augen offen zu halten und vor allem auf Krankenwagen und Lebensmittelläden zu achten.