3. OKTOBER 2009 – PARADISE LOST
»Wer zur Hölle braucht so viel Christbaumschmuck? Hat sie für jeden der zwölf Weihnachtstage einen eigenen Baum? Das ist doch ein Zeichen mentaler Instabilität, oder? Ich meine, das ist schon jenseits von zwanghaft«, sage ich und halte eine der Fantastillarden von gläsernen Christbaumkugeln hoch. »Und jenseits von kitschig.«
»Sie sind scheußlich«, bestätigt Holly und schüttelt sich.
»Meinst du, wir könnten sie irgendwie umbauen? Vielleicht Bomben draus basteln? Stell dir bloß vor, wie sie aus dem Fenster regnen und ganze Legionen dieser Viecher auslöschen!«
»Das ist einen Versuch wert«, sagt sie.
Heute arbeiten wir weiter an der Aufgabe, Ms Weathers’ Habe durchzugehen und alles sinnvoll zu verstauen. Sie hat wirklich eine Menge Zeug. Es füllt ihre zahllosen Schränke und noch die Hälfte des Flurs. Der meiste Kram, den sie aufbewahrt und weggebunkert hat, fällt in die Kategorie sentimentaler Müll. Nichts ist beschriftet, also hilft Holly mir, die Kartons zu sichten und auszusortieren, welche brauchbaren Inhalt haben und für spätere Verwendung in Frage kommen.
Es ist schwer, bei der Sache zu bleiben. Ich habe noch nichts von meiner Mom gehört und nun einen Stapel alter Tuschbilder in der Hand, fraglos von Ms Weathers’ Enkeln, und muss mich fürchterlich konzentrieren, um mich zu erinnern, aus welcher Kiste sie stammen. Ich habe noch niemandem von dem Radio erzählt. Ich weiß, das klingt selbstsüchtig, aber es gibt einen guten Grund für diese Unterlassung.
Holly gurrt wie eine Taube über einem Fund. Es handelt sich um ein altes Farbfoto, verblichen und orange und voller Wasserflecken. Der Rahmen ist noch gut erhalten. Das Foto zeigt Ms Weathers und wahrscheinlich ihren Ehemann oder einen alten Freund. Er trägt eine Seemannsuniform, komplett mit allen Klischees, und sie sehen beide fröhlich und unbeschwert aus. Ich nehme es Holly weg, bevor sie sich zu sehr darin verguckt.
»Ich weiß, es ist schwer, all das Zeug zu entsorgen«, sage ich ihr und begrabe das Foto am Boden eines Kartons. »Es fühlt sich nicht richtig an, fast als würden wir sie berauben. Ich hoffe, sie würde es verstehen … Wir sind alle noch jung, wir haben es nicht verdient, so um unser Überleben kämpfen zu müssen.«
»Schon klar«, sagt Holly leise. Ihr kurzes rotes Haar steht in jede Richtung zu Berge. Sie sieht wirklich ganz rührend aus.
»Hier«, sage ich und schiebe ihr eine weitere Kiste hin. »Versuch’s mal mit der hier. Hoffentlich sind es nicht wieder nur abgelaufene Rabattmarken.«
Ich kann nicht sagen, ob Holly merkt, dass ich abgelenkt bin, oder ob sie selber von etwas abgelenkt ist. Sie weiß natürlich, dass ich mir Sorgen um meine Mutter mache, aber sie hat bisher noch keine Ahnung von dem Radio. In meinem Magen nagt eine fiese, schmerzhafte Spannung. Ich öffne einen weiteren Karton: Kerzen und Raumduftspender, nicht schlecht. Ich habe immer noch vor, den Wartungsraum unten zu durchsuchen, und ein solider Vorrat an Kerzen wird mich daran erinnern. Vielleicht könnte ich tatsächlich mal etwas Nützliches tun, wenn nur die Stimme in meinem Kopf verstummen und verschwinden würde.
Sie müssen irgendwohin, müssen sich irgendeine Zuflucht suchen …
Ich sollte es ihr einfach sagen. Ich sollte es allen sagen. Doch etwas hält mich zurück, eine Frage. Es ist dieses Wort ›suchen‹. Was, wenn ich nicht suchen will? Wenn ich die Schnauze voll habe vom Suchen? Selbst wenn wir es bis zur Universität schaffen, was dann? Bleiben wir für immer da, oder gibt es von dort aus andere Ziele, und wieder andere, und noch andere? Wir haben hier einen guten Ort gefunden. Er ist nicht perfekt und auch nicht luxuriös, aber er scheint beständig haltbar. Phil, Janette und Matt sind schon in die früheren Alltagsmuster zurückgefallen – sie ignorieren uns, und wir ignorieren sie. Vielleicht sollte dieses Symptom genug sein, mich zu überzeugen, dass wir zu einem Stück scheinbarer Normalität gefunden haben – warum sollten wir das riskieren? Selbst wenn es nur um eine Entfernung von zehn Blocks geht, warum sollten wir uns wieder entwurzeln, um in einer überfüllten Sporthalle mit einer neuen Front von Fremden klarzukommen? Aber wenn ich es ihnen nicht erzähle, fühlt sich das wie lügen an, wie Verrat.
»Allison?«
»Hm? Ja?«
»Geht’s dir gut? Du starrst jetzt schon seit fünf Minuten diesen Duftstecker an.«
Scheiße.
»Oh, oh ja. Mir geht’s gut. Entschuldige, ich war nur in Gedanken, das ist alles.«
»Geht es um deine Mutter? Willst du drüber reden?«
Sicher, denke ich, und sehe in Hollys offene Züge, warum nicht? Sie ist nicht dumm, nur sehr vertrauensselig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie angetan wäre von meinen Hintergedanken.
»Holly«, setze ich an und räuspere mich. »Gefällt es dir hier? Ich meine, wenn du die Wahl hättest zwischen hierbleiben und woandershin gehen, was würdest du machen?«
Sie wechselt aus dem Schneidersitz auf die Seite und ruht nun auf ihren seitlich angewinkelten Beinen. Die kleine Schneekugel in ihrer Hand beginnt auf und ab zu wandern, von Handfläche zu Handfläche, dann steckt sie ein kleines Stück die Zunge heraus und wägt meine Frage ab. Immerhin, denke ich, hat auch sie nicht augenblicklich eine Antwort parat. Vielleicht ist mein Zögern gar nicht so falsch, alles in allem.
»Das hängt wohl davon ab«, sagt sie schließlich achselzuckend.
»Wovon?«
»Wo es hingehen sollte.«
»Ja, das ist ein wichtiger Punkt.«
»Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht, ich bin wohl nur neugierig. Ich meine, hier ist es gar nicht so schlecht, oder? Ich glaube, wir haben uns hier eine kleine Nische errichtet, meinst du nicht?«
Sie sieht weg, während ich die Frage stelle, schließt ihre Hände um die Schneekugel und presst sie zusammen, bis es aussieht, als müsste sie gleich unter ihren Händen zerspringen.
»Holly?«
»Es ist gut hier … Ich … ich mag es.«
Damit wendet sie sich wieder den Schachteln zu, Gespräch beendet. Ich sehe ihr zu, wie sie auf die Beine kommt und sich nach einer großen, schweren, ungeöffneten Kiste reckt. Sie packt sie an den Deckelklappen, doch sie ist zu schwer, entgleitet ihr und kippt. Eine Kaskade klingelnder Weihnachtsdekorationen ergießt sich über ihre Füße, rot und grün und gold. Es riecht nach Staub und Kiefer. Eine der grünen Kugeln ist zerbrochen, an einem Ende aufgeplatzt wie ein Ei.
Ohne Zögern mache ich mich ans Aufräumen, aber plötzlich bricht Holly in Tränen aus. Sie bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen und schluchzt heftig. Ihr ganzer Körper vibriert vor Anstrengung, als sie versucht, aufzuhören und sich zu beruhigen. Ich lege ihr sanft eine Hand aufs Knie und frage mich, ob meine Frage zu viel für sie war, ob ich zu weit gegangen bin.
»Hey, ist schon gut. Es ist nur eine kaputtgegangen, wir räumen das einfach weg, ist doch nichts passiert.«
»Das … Da–das ist es nicht!«, stammelt sie, presst die Worte zwischen Schluchzern heraus.
»Himmel, hey, beruhige dich. Was ist denn los?«
Ich fege das zerbrochene Glas beiseite, rücke näher an sie heran und hoffe, sie braucht nur etwas menschliche Nähe und eine Schulter, um sich auszuweinen. Holly hält ganz still und versteckt ihr Gesicht eine Weile, dann wischen ihre Finger langsam über ihre Wangen, trocknen die Tränen.
»Es ist wegen Ted«, sagt sie und stockt über seinem Namen. Mein erster Gedanke ist, dass er mit ihr Schluss gemacht hat, und mein zweiter, dass ich ihm dann den Schädel einschlagen muss. »Er – er hat mir einen Antrag gemacht. Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will.«
»Das ist doch toll!«, rufe ich, vielleicht ein bisschen zu enthusiastisch. Holly starrt mich verwirrt an.
»Findest du?«
»Ich denke schon, ja – oder etwa nicht? Ich dachte, ihr zwei wärt … du weißt schon, langfristig verbandelt.«
»Darum geht es doch gar nicht. Ich liebe ihn, das tu ich wirklich, aber ich mag es einfach nicht … Ich hab einfach das Gefühl, dass er das nur wegen alledem hier tut, weißt du, wegen allem, was passiert ist«, sagt sie. Die Tränen sind nun versiegt und trocknen langsam auf der Rundung ihrer Wangenknochen. Sie schnieft und wischt sich die Nase mit ihrem bleichen Handrücken. »Also hab ich ihn gefragt, ob er das auch tun würde, wenn wir nicht hier zusammen eingesperrt wären? Und er sagte nein!«
Ich weiß, dass Ted kein Frauenheld ist, aber das war unverzeihlich. »Also, ich nehme an, er meint, dass die Umstände nun mal so sind, wie sie sind, nicht? Alles ist unsicher. Ganz bestimmt hätte er dich irgendwann gefragt, also was ist so schlimm daran, dass er es jetzt tut?«
»Ich weiß nicht – verstehst du? Ich weiß es einfach nicht! Ich sollte glücklich sein, ein Teil von mir ist es ja auch. Ich dachte schon, er würde nie den Mut aufbringen. Er war so schüchtern, als wir zusammenkamen, und ich weiß, dass seine Eltern uns niemals ihren Segen geben würden – aber das ist es ja gerade! Es bedeutet, er glaubt nicht, dass wir seine Eltern je wiedersehen. Ich schätze, er hat aufgegeben.«
»Nein«, versichere ich ihr in ruhigem, festem Ton und drücke ihr Knie. Ich meine es aufrichtig. »Das ist nicht wahr. Er hätte dich nicht gebeten, ihn zu heiraten, wenn er die Hoffnung aufgegeben hätte. Er hat Hoffnung für euch beide, auf ein gemeinsames Leben. Das ist keine Erniedrigung, Holly. Ich wünschte, dir wäre klar, wie glücklich du dich schätzen kannst.«
Sie legt ihre warme Hand auf meine und nickt. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen, während ihr noch die letzten Tränen vom Kinn tropfen. Vorsichtig nimmt sie eine zackige Scherbe der Christbaumkugel hoch und dreht sie, lässt sie das Licht einfangen und Funken sprühen.
»Du wirst ihm doch nichts davon erzählen, oder? Dass ich verrückt gespielt habe?«, fragt sie und lässt das Glasstück fallen. Ich kann nicht aufhören hineinzustarren.
»Nein, natürlich nicht«, sage ich und lache, »es ist unser Geheimnis.«
Bevor ich heute ins Bett gehe, habe ich einen Besucher. Zack kommt zum Schwatzen. Ich habe an diesem Tag nicht viel gesehen von ihm und Ted. Während Holly und ich damit befasst waren, Ms Weathers’ gehortete Besitztümer zu sortieren, haben sich Zack und Ted auf einen freiwilligen Streifzug durch die anderen Apartments begeben, um noch einmal gründlicher nach brauchbaren Sachen zu stöbern und alle denkbaren Verstecke zu überprüfen und noch mal zu überprüfen.
Allmählich kriecht die Kälte durch die Fenster herein. Zack kommt hereingestrolcht, in einen mächtigen Afghanenmantel gehüllt.
»Beschäftigt?«, fragt er mit Blick auf das Laptop auf meinen Knien. Dapper sieht voraus, dass er genötigt werden wird, Platz zu machen, und rollt ein Stück zur Seite.
»Nicht wirklich«, antworte ich und klappe den Monitor zu. »Was gibt’s?«
»Ist mit Ted alles in Ordnung? Er wirkte heute leicht befremdlich.«
»Inwiefern?«
»Ich weiß nicht – sprunghaft, abgelenkt«, sagt er und setzt sich an das Fußende des Bettes. »Ich weiß ja, er ist nicht mein größter Fan, aber es war merkwürdig.«
»Ich glaub schon, dass er dich mag«, sage ich. »Das ist nur der Stress. Vermutlich haben er und Holly untereinander etwas zu regeln. Am besten, man lässt sie in Ruhe.«
»Ah«, sagt er, »ich verstehe … Ärger im Paradies.«
»So, du würdest das hier Paradies nennen?«
Er blickt mich an, blinzelt, als wäre ich Kilometer entfernt. Ich versuche verzweifelt, einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren und meine Wangen daran zu hindern, leuchtend zu erröten. Meine heikle Frage unauffällig anzubringen wird bei ihm schwer, viel schwerer als bei Holly.
»Was treibt dich um?«, fragt er und rückt ein Stück näher heran.
Schön, dann also.
»Ich hab letzte Nacht jemanden im Radio gehört«, erzähle ich ihm. Seine Augen werden doppelt so groß. »Es war ein Mann in der Universität. Sie haben da so eine Art Hilfsstation organisiert, und außerdem hat er mich in den Schlaf gelesen.«
»Ach ja?« Mit einem blöden Lächeln zieht Zack eine Augenbraue hoch.
»Doch nicht so. Nein, es war – nett, aber irgendwie schräg, weißt du? Jemanden von da draußen zu hören, jemanden mit einer gewissen Autorität. Er sagte, sie hätten Nahrung und Unterschlupf.«
»Ist er ein Bulle?«
»Glaub ich nicht, er hat jedenfalls nichts Derartiges gesagt«, antworte ich.
Zack blickt auf seine Fingernägel.
»Und?«
»Was, und?«
»Meinst du, wir sollten hingehen?«, dränge ich.
»Hier ist es nicht so schlecht.«
»Das habe ich mir auch überlegt. Das Letzte, was ich will, ist mit hundert schwitzenden College-Studenten eingepfercht sein, oder womöglich sogar noch mit meinen verdammten Professoren«, sage ich kopfschüttelnd. »Aber uns könnte hier das Essen ausgehen, besonders, wenn meine Mom kommt und noch Leute mitbringt. Und die Kälte … Man müsste mal drüber reden.«
»Hör mal«, sagt er und nimmt meine Hand. »Essen lässt sich auftreiben. Was wir hier haben – das ist wie ein Zuhause, unser eigenes Heim. Wenn wir zur Universität gehen, wer weiß, was wir da vorfinden. Es scheint sich jetzt gut anzuhören, aber es wird vielleicht schwer, wieder wegzukommen, wenn wir erst einmal da sind.«
»Ich weiß«, sage ich. »Aber ich bin nicht gut in Geheimniskrämerei. Ich glaube, ich sollte es den anderen erzählen.«
»Tu das«, sagt er und nickt so energisch, dass seine Locken fliegen. »Aber ich garantiere dir, dass sie dasselbe sagen werden.«
»Danke«, sage ich ihm, »fürs Zuhören.«
»Macht’s dir was aus, wenn ich noch bleibe? Ich könnte eine Gutenachtgeschichte vertragen.«
Wir drehen das Radio an und blasen die Kerze aus. Die Stimme ist da, der Fremde. Wir liegen absolut still in der Dunkelheit, beide auf dem Rücken, und lauschen Dappers Atem und der tiefen, rhythmischen Stimme, die aus dem Radio kommt. Ich kann nicht umhin, über das Rätsel solcher Dinge nachzugrübeln, solcher Technologie, um die ich mich nie gekümmert, über die ich nie auch nur nachgedacht habe. Es ist, als ob ein vollständig neuer Mensch hier bei uns wäre. Ein Mann, dem ich noch nie begegnet bin, von dem ich weiß, dass er mir in absehbarer Zeit völlig vertraut sein wird. Er ist da, liest vor, seine Stimme wird als Millionen kleiner Schwingungen verbreitet, die eine Geschichte transportieren, Wörter, Wärme. Wir liegen ruhig und leise da, und ich spüre meinen Atem aus meinen Lungen entweichen, zum Radio treiben und durch den Lautsprecher eindringen, um über unsichtbare Luftströme den Fremden mit der hypnotisierenden Stimme zu besuchen.
Die Stimme liest aus Das Erwachen, und ich kann nicht umhin, an meine Mom zu denken. Ich wünschte, sie wäre hier, um zuzuhören, mich zu beruhigen. Es wäre viel leichter, sich einfach zu entspannen und das Radio zu genießen, wenn ich wüsste, dass sie noch am Leben ist, wenn ich wüsste, sie schafft es bis hierher und liest mir noch mal so vor, wie sie es früher getan hat. Sie ist da draußen, ich weiß es. Ich hoffe, meine eindringlichen Gedanken schaffen es, sie sicher zu geleiten.
KOMMENTARE
Isaac:
3. Oktober 2009 21:08 Uhr
Hast du immer noch nichts von deiner Mom gehört?
Allison:
3. Oktober 2009 21:29 Uhr
Bis jetzt nicht. Ich geb mir Mühe, nicht in Panik zu geraten, aber sie darf nicht mehr lange brauchen. An einem normalen Tag geht man zu Fuß fünfundvierzig Minuten von hier zu ihrem Haus. Ich fürchte nur, solche Zeitspannen bedeuten jetzt nichts mehr.
Brooklyn Girl:
3. Oktober 2009 22:09 Uhr
Hey, wenn sogar wir noch hier rumhängen, wird sie es schon schaffen. Gib die Hoffnung nicht auf, Allison.