19. OKTOBER 2009 – DAS ERWACHEN
»Lass uns gehen, heute, jetzt!«
»Ich kann nicht gehen, das weißt du. Ich habe Verantwortung für diese Leute, Allison.«
Es kommt mir schon so vor, als ob wir dieses Gespräch jeden Morgen führen. Collin weicht nicht von seinem Standpunkt, aber manchmal habe ich das Gefühl, er stellt sich unsere Flucht vor, wir beide zusammen unterwegs. Dann werden seine harten Züge für einen Moment ganz weich. Sobald jemand nach ihm ruft, verschwindet dieser Ausdruck.
»Ich bin wirklich eine gute Reisegefährtin«, sage ich und versüße ihm die Pille noch mit einem Arm um seine Hüfte. »Bist du kein bisschen interessiert?«
»Du weißt, es ist verlockend, und du weißt, ich kann nicht.«
Ich erkenne, dass meine Hoffnung auf Flucht, idiotisch ist.
Alles, was wir getan haben, all das Knausern, Kämpfen und Fluchen war völlig umsonst, ein Kampf gegen Windmühlen, Schädelschlagen gegen eine massive Eisenwand. Ganz gleich, was wir tun, was wir versuchen, etwas untergräbt unsere Anstrengungen. Dann verdoppeln wir unsere Anstrengungen, wir schwören uns von früh bis spät, dass wir tun werden, was immer nötig ist, was auch immer wir möglicherweise schaffen können, bevor wir zu erschöpft sind, um weiterzumachen. Vielleicht sollten wir einfach aufhören, um die unvermeidlichen Verluste zu beenden. Vielleicht sollten wir einfach die Türen aufstoßen und unser unvermeidliches Schicksal hereinmarschieren lassen.
Wir haben versucht, die Leute von Regenwasser zu überzeugen, aber nun bleibt der Regen aus. Dicke, stille Wolken hängen über uns, piesacken uns, indem sie über unsere Köpfe halten, was wir am meisten brauchen. Keine Chance auf Schlaf, seit die Arena zu jeder Stunde von Husten und Stöhnen erfüllt ist. Die Kranken werden kränker, die wenigen Starken werden stärker. Unser einst friedliches, hoffnungsvolles Village hat sich in ein Flüchtlingslager mit schwindender Gesundheit und sterbender Zuversicht verwandelt. Wir sind viel zu beschäftigt damit, den Zusammenbruch zu verhindern, sodass keiner mehr die Zeit oder die Kraft hat, Nachrichten zu senden. Unsere einzige verlässliche Quelle der Unterhaltung ist verloren, ersetzt durch ständige Plackerei. Es gibt keine Ersatzzelte mehr, die Leute schlafen draußen in Schlafsäcken, auf Haufen mottenzerfressener Decken. Unsere Nahrungsversorgung stößt endgültig an ihre Grenzen, und viele von uns essen weniger, damit die sehr Kranken etwas zu Kräften kommen.
Der Gipfel des Ganzen ist, dass die Gemahlinnen der Schwarzen Erde Collins Führung in Frage stellen. Sie werfen ihm vor, er würde das Lager zu Grunde richten, zu viele Regeln aufstellen und Menschen Nahrung verwehren, die ihnen gerechterweise zustehe, Gesindel hereinlassen, anstatt die Dörfler zu beschützen. Jede vernünftige Diskussion kann ihre Rufe nach neuer Führung, einem neuen Regime, nicht übertönen. Collin versucht die Ordnung auf die einzige Art, die er kennt, aufrechtzuerhalten: die Barrikaden verstärken, uns im sicheren Raum halten, sich die Probleme anhören und vermitteln, die Gemahlinnen so weit wie möglich beruhigen. Das ist keine Unterdrückung, es ist nur gutes Management.
Der Zorn der Gemahlinnen scheint sich durch meine Verbindung zu Collin gesteigert zu haben. Sie wissen natürlich, dass er und ich uns sehr nahe gekommen sind, und ich bin sicher, sie wissen, dass ich fast jede Nacht in Collins Zelt verbringe. Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen, wie ich reagieren soll. Einerseits haben sie ein Recht, sich über die Überfüllung der Arena, über die Grenzen ihres Aufnahmevermögens zu empören. Andererseits aber sollten sie sich mit funktionierenden Lösungen beschäftigen, statt herumzujammern und Gerüchte zu verbreiten.
Ich habe Collin mehr als einmal vorgeschlagen, unsere Sachen zu packen und zu verschwinden. »Wenn sie unbedingt die Macht übernehmen wollen, dann lass sie doch«, habe ich gesagt. »Lass sie rausfinden, was für ein erschöpfender, undankbarer Job das ist.«
Aber er will uns nicht aufgeben, noch nicht mal jetzt, wo alles aus dem Ruder läuft.
Heute sollten Ned und ich das sanitäre Problem lösen, keine beneidenswerte Herausforderung. Bei all der Kotzerei und dem Durchfall sind die wenigen Toiletten völlig unbrauchbar geworden. Mit Finn als Leibwächter zerrten Ned und ich Dixiklos von den Tennisplätzen herbei und stellten sie außerhalb der Arena in einer Reihe auf. Zwar ist es gefährlicher, wenn sie sich dort draußen befinden, aber wir haben entschieden, das sei besser, als den Geruch und die Keime drinnen zu haben. Neds brutales Training muss sich ausgezahlt haben, denn es bereitet mir wenig Mühe, die schweren Klos herüberzuziehen. Ned wird zusehends blasser. Er verbringt viel Zeit drinnen unter künstlichem Licht, lebt zu viel im Düsteren.
Seit unserem Gespräch meidet mich Corie verbissen. Ich hege den Verdacht, sie glaubt, keine Chance zu haben, mich für ihre Seite einzunehmen, so eng, wie ich mit Ned verbunden bin – ein Trugschluss. Ich bin mehr als offen dafür, mir ihre Sicht der Dinge anzuhören – wenn sie nur bereit wäre, sie kundzutun. Aber sie hat ihre Wahl getroffen. Obwohl sie nicht so bösartig gegen Collin wettert wie die anderen Gemahlinnen, erkenne ich an ihrer elenden Haltung, an ihrem leeren Blick, dass sie sich den Gemahlinnen mit Haut und Haaren verschrieben hat. Ich weiß nicht mal, warum. Vermutlich wirkt die Gegenwart so vieler Frauen wie ein Schild. In ihrem engen Kreis kann sie sich vor uns allen verstecken, besonders vor Ned.
Ned verhält sich die ganz Zeit über beängstigend still. Er weigert sich, über ihre Verbindung mit den Gemahlinnen zu sprechen, aber ich erwische ihn oft dabei, wie er seine Frau anstarrt. Ich frage mich, ob sie darüber gesprochen haben oder ob sie ihm wortlos signalisiert hat, dass ihr gemeinsames Leben vorbei ist.
Portable Toiletten herumzuzerren, war nur der Beginn meines Tages. Ned und ich assistierten Ted bei einigen schweren Fällen unter den Patienten. Sie scheinen eine Art schrecklicher Grippe zu haben oder eine Magen-Darm-Infektion. Sie behalten das Essen nicht bei sich, und wenn doch, scheint es ihnen Schmerzen zu bereiten. Später habe ich mit Evan und Mikey an ihren Halloweenkostümen gebastelt.
Halloween ist Mikeys Lieblingsfest, und der Junge hat darauf bestanden, dass wir beizeiten ihre Kostüme anfertigen. Anscheinend hat Ned eine Tradition von kunstvoll gearbeiteten Outfits begründet. Letztes Jahr war Mikey ein Transformer, und die Augen der Maske haben tatsächlich geleuchtet. Ich bringe es nicht übers Herz, ihnen zu sagen, dass es nicht viele Süßigkeiten geben wird und sich außer ihnen keiner darum schert, sich zu verkleiden. Ich hoffe, ich kann ein Kostüm liefern, das die Illusion von Normalität für ein bis zwei Minuten aufrechterhält.
Mikey will Zorro sein. Also basteln wir ihm ein Cape und eine Maske aus einer alten Plane und einigen Basketballtrikots, die wir in den Kellern gefunden haben. Dapper wird sein treues Ross. Evan kann sich nicht festlegen, er schwankt zwischen einem Piratenmotiv und etwas aus Wall-E und wirkt völlig verzweifelt bei der Vorstellung, sich für eines entscheiden zu müssen. Ungeachtet des Spottes seines Bruders haben wir daher beschlossen, beides zu verbinden, und machen einen Wall-E-Piraten aus ihm. Sein Kostüm besteht hauptsächlich aus Pappkarton, Getränkedosen und Gummischläuchen sowie einem Stückchen Trikot für die Augenklappe.
Es ist zwar kein blinkender Transformer, aber es muss reichen.
Nachdem ich die Jungs bei Phase eins der Kostümkonstruktion unterstützt hatte, verbrachte ich etwas Zeit bei der Eingangskontrolle mit der Untersuchung von Neuankömmlingen. Die Leute, die jetzt kommen, sind die schlimmsten, die wir bisher gesehen haben. So verhungert und verängstigt stammeln sie nur wirres Zeug, wenn wir sie auffordern, hinter einen Vorhang zu treten und sich auszuziehen.
Vermutlich durch die viele Zeit, die ich mit Evan und Mikey verbracht habe, fällt mir ein weiterer alarmierender Trend auf: Es gibt kaum sehr junge oder sehr alte Leute. Fast alle scheinen zwischen achtzehn und sechzig zu sein. Evan und Mikey sind zwei von nur einer Hand voll Kindern, und ich erinnere mich an höchstens sieben oder acht wirklich alte Leute erinnern, die hier noch herumlaufen. Es macht mir Angst, dass keine Generation mehr nach uns kommt, niemand, der gut genug ausgebildet sein wird, um sich unseren Problemen mit neuen, frischen Ideen stellen zu können. Was soll aus uns werden?
Da ich seit dem Morgen nichts zu mir genommen hatte, machten Collin und ich eine Pause vom Grenzdienst und aßen zusammen in seinem Zelt. Selbst dort, getröstet von seiner Gegenwart und der Intimität des Zeltes, dringt die äußere Welt dräuend zu uns durch. Der Lärm aus Husten, Röcheln und Keuchen folgt einem überallhin und erinnert an die vielen Menschen im Todeskampf. Nach einer geteilten Dosensuppe und ein paar Müsliriegeln gingen wir zum Zielschießen. In der kühlen Oktoberbrise erzählt er mir, wie sehr er das Unterrichten vermisst, seine Schüler und die Notenkonferenzen. Er vermisst sogar die Auseinandersetzungen mit den unausstehlichsten Mitgliedern der Fakultät.
»Ich würde alles geben für einen letzten Tag als Lehrer«, sagt er, während er ein Magazin für mich bestückt. »Einen Tag, von dem ich weiß, dass ich ihn genießen und jeder verrückten Einzelheit Aufmerksamkeit schenken muss.«
Ich erwarte jetzt diesen sehnsüchtigen Blick in die Ferne in seinen Augen, aber er erscheint nicht. Er wirkt entspannt in meiner Nähe, sein zerfurchtes Gesicht strahlt etwas Friedvolles aus. Nach kurzem Schweigen fährt er fort: »Aber andererseits wäre ich dir dann nie begegnet. Das Leben wäre weitergegangen wie immer – ruhig, kompliziert, wie wir eben auf menschliche Art alles komplizieren. Wir würden uns nie getroffen haben. Verrückt, nicht wahr? Ich kann mir nicht vorstellen, ohne dich zu leben.«
»Das ist nicht verrückt«, entgegne ich. »Das ist toll.«
Es gibt keinen Grund mehr, beim Üben Ziele zu verwenden. Stattdessen führt Collin mich an den Rand des Zauns, und ich feuere auf die Dümpler, die im Nebel herumwandern. Ich werde besser beim Treffen beweglicher Ziele, aber Neds und Collins Professionalität beschämt mich nach wie vor. Ich schieße einem Stöhner ein Ohr ab, der die brillante Idee hatte, sich an unserem Zaun zu versuchen.
»Oh Liebling«, sagt Collin mit seinem geradezu schnittigen Akzent, »ich könnte dir den ganzen Tag beim Zombieschießen zusehen.« Er legt den Arm um mich und drückt mich an seine Seite. Durch die kugelsichere Weste spüre ich seine Wärme. »Du machst Fortschritte«, fügt er hinzu, »und zwar große. Du wirst – darf ich wagen, es zu sagen? – eine Kunstschützin. Ich werde dich bald am Sturmgewehr ausbilden müssen.«
»Du bis so süß«, antworte ich errötend. »Süß, aber total auf dem Holzweg.«
»Der Rest kommt schon noch«, meint er. »Wenn du erst gelernt hast, sie nicht mehr als Menschen zu sehen, sondern als das, was sie wirklich sind.«
»Tut mir leid, aber eine Axt fühlt sich irgendwie humaner an. Wenigstens kann ich ihnen auf diese Art Frieden geben und ihnen in die Augen sehen, wenn ich sie töte.«
»Entschuldige dich nicht dafür«, sagt er und küsst mich auf die Stirn.
Ich weiß nicht, wie lange wir in der Stille stehen und nur die Schatten beobachten, die außerhalb der Grenze unserer Verteidigungsanlagen herumschleichen. »Glaubst du«, frage ich leise, »dass jemand für all das verantwortlich ist?«
»Wie meinst du das?«
»Glaubst du, dass es vielleicht irgendwo einen Wissenschaftler gibt, der dies alles in Gang gesetzt hat? Wenn es kein Experiment war und kein Waffentest, was sonst könnte das ausgelöst haben?« Ich gestikuliere wild. Es ist zu kalt für eine lange philosophische Debatte, aber meine Glieder ertragen noch eine Minute oder zwei.
»Wenn es 1982 wäre, hätte ich die Russen im Verdacht«, erwidert er. Er scheint noch mehr sagen zu wollen und überdenkt seine nächste Äußerung, während seine grünen Augen mein Gesicht fixieren. Sie brennen sich regelrecht durch mich hindurch. »Wer immer dafür verantwortlich ist«, sagt er schließlich, »ist wahrscheinlich längst tot.«
Ich nicke. »Ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen.«
»Sicher?«
»Sicher. Ich weiß nicht, ob ich weiter so hart kämpfen könnte, in dem Bewusstsein, dass ein einziger Mensch an all dem schuld ist. Das wäre zu viel konzentriert Böses, um es noch verstehen zu können.«
Collin küsst mich wieder auf den Kopf und lächelt ein wenig traurig. Unmöglich zu sagen, aber aus dem merkwürdigen Schimmer in seinen Augen schließe ich, dass ich in diesem Moment in seiner Achtung gestiegen bin. »Komm, deine Ohren frieren ab. Lass uns reingehen.«
Es klingt vielleicht wie ein Klischee, aber dies ist, mit aller Aufrichtigkeit, der glücklichste Moment, den ich in vielen, vielen elenden Tagen hatte. Alles scheint sich in Richtung Frieden zu entwickeln. Und dies ist der Tag, an dem ich mich ihm am nächsten fühle, an dem es wirklich aufhört, sich schräg anzufühlen, und es anfängt, normal zu scheinen, so natürlich und so verdammt schön. Und dies ist der Tag, an dem ich sicher bin, dass ich etwas haben werde, was es zu retten lohnt, etwas Greifbares, um daran festzuhalten, selbst wenn die Gemahlinnen ihren Willen bekommen und unser Village aus den Nähten platzt. Und dies ist der Tag, an dem Ted ein Stück vorankommt und endlich glaubt, dass es einen Weg gibt, die Krankheit zu heilen, einen Weg für uns, ein bisschen länger durchzuhalten.
Und dies ist der Tag, an dem – ohne Vorwarnung, gleichsam wie ein Zwanzigtonner, der ungebremst über eine rote Ampel donnert – eine weitere Gruppe von Überlebenden eintrifft, und mit ihnen, humpelnd und hungrig, aber unverkennbar lebendig, Collins Frau Lydia.
KOMMENTARE
Elizabeth:
19. Oktober 2009 16:46 Uhr
Auf dem Ozean schläft fast alles. Gelegentlich laufen wir einen Hafen an. Avalon hat sich als brauchbar erwiesen, dank seiner geringen Bevölkerung und der daraus resultierenden niedrigen Zahl an Untoten. Einmal sind wir nach Norden zum Luftwaffenstützpunkt Vandenberg gesegelt, er sah völlig verlassen aus. In Camp Pendelton in San Diego gab es Aktivitäten, aber um ganz ehrlich zu sein, das Boot schien sicherer.
Wir sind einigen anderen Überlebenden begegnet, die auf den abgelegeneren Inseln kampieren, darunter auch Wissenschaftler, die dort forschen.
Ich würde dir raten weiterzuziehen, Allison. Nimm alle mit, die leben wollen und bereit sind, dafür zu kämpfen, und setzt euch ab. Viel Glück, bleib am Leben, und lass uns hoffen, dass irgendwo irgendwas für uns arbeitet (wie die guten Leute von der Wetter- und Ozeanografiebehörde hartnäckig behaupten).
Amy:
19. Oktober 2009 17:02 Uhr
Allison! Sie ist zurück? Wie hat sie das nur geschafft?
Allison:
19. Oktober 2009 17:46 Uhr
Mit Hilfe von Voodoo? Oder der großen und schrecklichen Ironie des Schicksals? Was immer es war, ich wünsche ihm tausend feurige Tode.
j. witt:
19. Oktober 2009 20:08 Uhr
omg – Allison, es tut mir so leid, was ist passiert?