18. SEPTEMBER 2009 –

HERZ DER FINSTERNIS

Sie kommen.

Sie kommen, und ich glaube nicht, dass wir es jemals hier rausschaffen. Wenn ihr dies hier lest, ruft die Polizei. Ruft die Polizei, falls es noch Polizei gibt, die man anfordern kann. Sagt ihr, sie soll kommen und uns retten. Ich kann nicht versprechen, dass wir morgen noch hier sind oder übermorgen oder am Tag danach, aber sagt ihr, dass sie uns retten muss, bevor es zu spät ist. Bittet sie, es wenigstens zu versuchen.

Wenn sie nach einem Namen fragt, sagt ihr, mein Name ist Allison Hewitt, und teilt ihr mit, dass ich hier in der Falle hocke. Allison Hewitt und fünf weitere vermisste Seelen sitzen im Pausenraum von Brooks & Peabody fest. Langdon Street, Ecke Park Avenue. Wir sind alle bei relativ guter Gesundheit. Noch wichtiger: Keiner von uns ist infiziert.

Sollte man euch fragen, was genau vorgefallen ist, dann sagt ihnen bitte Folgendes: Am Abend des 15. September 2009, kurz vor Ladenschluss, wurde die Buchhandlung Brooks & Peabody von Infizierten überfallen. Ich weiß nicht, wie ich sie sonst nennen soll. Die Infizierten? Die Verdammten? Eigentlich bin ich nicht sicher, ob es ein Virus oder eine Seuche ist, aber ich weiß, dass es sich ausbreitet, und ich weiß, welche Art von Verwüstung es mit sich bringt.

Unsere Telefone hier funktionieren nicht, weder die Festnetzleitungen noch das Fax, und unsere Handys geben seit gestern allmählich den Geist auf – leere Akkus. Keiner ist je auf die Idee gekommen, ein Aufladegerät mit zur Arbeit zu bringen oder eins im Pausenraum aufzustellen. Phil, mein Geschäftsführer, schwört, dass es irgendwo im Lagerraum hinter uns eins gibt, aber der ist nur zu erreichen, indem man den ganzen Laden durchquert, und keiner von uns ist so tollkühn, das zu versuchen. Ich nehme an, irgendwann werden wir verzweifelt genug sein, um in den Laden zu gehen. Die Nahrung hier drin wird nicht ewig reichen. Ich hätte nie gedacht, dass mir von Beef Jerky so übel werden könnte. Den einzigen Strom, den wir haben, liefern Notgeneratoren, die Phil letztes Jahr gekauft hat, als die Überflutungen schlimmer wurden und alle fürchteten, noch vor Ende des Schlussverkaufs ohne Energie dazusitzen. Ich weiß nicht, wo genau die drahtlose Verbindung herkommt – sie nennt sich SNet. Ich habe sie vorher noch nie benutzt. Vielleicht aus der kleinen Reihe Wohnungen, die über dem Laden liegen. Womöglich lebt dort noch jemand. Vielleicht versuchen sie auch, mit euch Kontakt aufzunehmen.

Wir leben hinter einer soliden, sicheren Tür. Das Schloss ist Industriestandard. Hier hinten sind die Safes untergebracht, deshalb wurde die Tür verstärkt und gesichert. Es war der naheliegendste Ort, um sich zu verstecken – keine Fenster, ein Kühlschrank mit Essen und vor allen Dingen die schwere gepanzerte Stahltür. Ich kann nicht genug betonen, wie sehr wir von dieser Tür abhängig sind. Diese eine Stahltür wurde innerhalb weniger Tager zum Symbol unseres Überlebens.

Nun könnten Sie fragen: Wenn es keine Fenster gibt und nur eine Tür, woher sollen wir dann wissen, dass sie kommen?

Ich weiß es wegen der Überwachungskameras. Offenbar werden sie von den Notfallgeneratoren versorgt, denn sie funktionieren noch, und der Monitor, auf dem man alles beobachten kann, steht im Tresorraum. Dieser ist eine Seitenkammer des Pausenraums mit den Tischen, Stühlen und dem Kühlschrank. Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, setze ich mich dorthin und beobachte den Monitor. (Der Safe ist nicht mehr verschlossen, ich glaube nicht, dass Geld noch viel bedeutet, und keiner von uns hat je versucht, etwas davon zu stehlen.) Danke, Brooks & Peabody, für die Installation dieser Kameras. Mit ihrer Hilfe können wir fast den gesamten Laden im Auge behalten. Das Bild ist schwarzweiß und nicht sehr scharf, aber ich kann sie sehen. Ich beobachte, wie sie im Laden herumschlurfen, sich um die Bücherregale drücken, an den Krimis und Science-Fiction-Romanen vorbei, und bei den Lesezeichen und Leselampen herumlungern. Sie werden sich nicht verziehen, nicht mal, wenn wir alle längst weg oder tot oder welche von ihnen geworden sind.

Wonach suchen sie? Was wollen sie?

Manchmal sehe ich sie seitlich vom Schirm verschwinden und weiß, jetzt sind sie genau vor der Tür des Pausenraums, stöhnen dieses Hindernis an und hämmern ihre Köpfe und ihre verrotteten Fäuste gegen den Stahl. Es erscheint mir unfair, denn die anderen versuchen zu schlafen. Was wollen die bloß? Denken sie, wir beantworten das Gestöhne und Geklopfe? Verfügen sie überhaupt noch über Denkvermögen, oder ist es etwas anderes, das sie an der Tür kratzen lässt?

Einer der Studenten in meinem Wohnblock hatte mal einen Greyhound. Er hieß Joey und war der hübscheste Hund, den ich je kannte. Der Windhund wurde von einer Rennbahn gerettet – von einem Ort, an dem Hunde niemals sein wollen, einem Ort, wo sie missbraucht und wie Objekte behandelt werden. Ein Auto kann man Tag und Nacht um die Bahn jagen, es wird sich nicht beklagen. Greyhounds sind genauso. Sie klagen nicht, niemals, sie sehen einen lediglich mit ihren großen, unendlich tiefen Augen an und bitten darum, freundlich zu sein, ein bisschen Gnade zu zeigen, wenn es beliebt.

Joey war von jener Sorte, die nicht mal einer verletzten Fliege was antun würde. Eines Tages schoss er aus der Haustür an mir vorbei. Ich glaube, da waren keine zwanzig Zentimeter Platz, aber er schlüpfte in Windeseile durch und auf den Hof. Bevor ich seinen Namen zweimal rufen konnte, hatte er einen Hasen gerissen. Joey war so schnell, so effizient, so völlig anders als das Kuschelhündchen, das ich bis dahin kannte.

Es war nicht Joey, der den Hasen getötet hatte, nicht wirklich, sondern sein Instinkt, sein Jagdtrieb.

Jagdtrieb.

Das ist es, was vor unserer Tür wartet. Wahnsinnig vor Hunger, getrieben von einem blinden, verzehrenden Bedürfnis nach etwas, was wir haben.

Ich versuche, extrem ruhig zu bleiben, und hoffe, dass mir das halbwegs gelingt. Seltsamerweise hilft mir das Schreiben dabei, es tut gut, alles loszuwerden. Irgendwie macht es alles weniger real. Es wird zu einer Story, die ich aufschreibe. Es kommt mir vor, als würde ich mir ein Märchen für Sie ausdenken, als wäre es nicht die kalte, bösartige Wirklichkeit, die alles unterlegt, was ich tue und sage und denke. Es ist schön, zur Abwechslung etwas zu tun, was ich möchte. Und ich glaube, das vermisse ich am meisten: eine Wahl zu haben.

Es gibt nicht mehr viele Wahlmöglichkeiten. Es gibt nur Überleben, tun, was getan werden muss. Bald werden wir durch diese Tür rausgehen müssen, um Essen zu besorgen. Vorne bei den Registrierkassen gibt es noch größere Kühlschränke und etwa ein Dutzend Tüten Kartoffelchips. Da müssen wir bald hin. Uns bleibt keine Wahl. Ich habe es mir nicht ausgesucht, in der Falle zu sitzen, mit diesen Kollegen und Fremden, die ich über die Verbindung zu meinem Teilzeitjob hinaus nie näher kennenlernen wollte. Ich habe es mir nicht ausgesucht, von meiner Mutter getrennt zu werden, das Einzige an Familie, was mir noch geblieben ist. Sie kränkelt, und ich werde nicht mal bis zum Ende bei ihr sein.

Ich habe studiert, wollte etwas Tolles werden, aber das ist vorbei. Jetzt gibt es nur noch diese Leute, die ich nicht wirklich kenne, die permanente, lähmende Angst und den Trieb der Infizierten – ich glaube, ich verstehe es, ich verstehe den Grund, warum diese Dinger grunzen und vor der Tür herumschlurfen, den Grund, warum Joey den Hasen ermordet hat. Es liegt in unserem Blut, in unseren Herzen, der Hunger, der Ehrgeiz, der absolute Drang zu überleben. Ich wollte hier bloß arbeiten, um ein bisschen Geld zu verdienen, und nun werde ich hier sterben.

Vielleicht schreibe ich bald wieder … Wenigstens ist das ein kleiner Trost, etwas, worauf ich mich freuen kann. Ich sollte meinen Laptop zuklappen und etwas schlafen. Aufhören, auf den flimmernden Bildschirm zu starren. Es ist hypnotisierend, und ich kann nicht wegsehen. Aber ich werde mich jetzt zwingen, mich hinzulegen, meine Augen zu schließen und meine Ohren zu bedecken.

Sie kommen.

Sie kommen, und ich glaube nicht, dass wir es jemals hier rausschaffen.

210292.jpgKOMMENTARE

Anonymus:

18. September 2009

Die Stadt ist überrannt, Chicago ist auch verloren. Verschwindet aus der Stadt. Verschwindet, so schnell ihr könnt.

Allison:

18. September 2009

Überrannt? Sie meinen vollständig? Wie sind Sie rausgekommen? Sagen Sie es uns, wenn Sie irgendwo einen sicheren Ort gefunden haben.

Luis Wu:

18. September 2009

Hallo, Allison,

seid ihr noch da draußen?

Wir haben deinen Blog bisher im Stillen verfolgt. Ich kann unseren Aufenthalt nicht preisgeben – tut mir leid, aber in unserer Gegend sind plündernde Überlebende unterwegs. Passt gut auf. Benutzt du das SNet? Es scheint das einzige Netzwerk zu sein, das noch stabil läuft. Hoffe, ihr haltet weiter durch.

Allison:

18. September 2009

Ich verstehe. Schreibt nicht, wo ihr seid. Bleibt in Sicherheit, seid klug und wachsam. Das SNet hat eine stabile Verbindung. Lasst uns hoffen, dass das nicht plötzlich aufhört! Haltet mich auf dem Laufenden, wenn ihr könnt.