23. SEPTEMBER 2009 – PANDORA

»Gute Nacht, ihr Überlebenden, Isaac, D.J. und Mel. Gute Nacht, Sonne, gute Nacht, Mond, gute Nacht, Laptop, ich schätze, wir werden bald alle vergangen sein.«

Nichts, gar nichts, kein erlahmendes Augenlid, nicht die leiseste Andeutung eines Schnarchens. Nichts scheint zu funktionieren, nicht einmal ein zärtliches kleines Schlaflied bringt mich zum Einschlafen. Ich kann nicht mehr schlafen.

Es begann ganz unschuldig, mit einem merkwürdigen Zufall. Nachdem Ted und ich mit der Beute zurück waren, nahmen wir die Zuteilung vor. Ich fühlte, dass sich zwischen mir und Ted etwas veränderte, etwas wie Freundschaft oder Solidarität war entstanden. Mit keinem Wort erwähnte er meinen Aussetzer, dieses völlige Versagen meines Urteilsvermögens, das uns fast zu Zombiefutter gemacht hätte. Keine Ahnung, warum er das für sich behielt, aber die Erleichterung wärmte mich innerlich.

Wir erarbeiteten einen groben Rationierungsplan:

• zwei Tüten Chips pro Person und Tag

• zwei Getränke (Säfte zuerst wegen des Verfallsdatums) pro Person und Tag

• drei oder vier Snackriegel pro Person und Tag

• zwei Kekse für jeden, zu verzehren nach Ermessen des Besitzers

Das ist wirklich nicht üppig, aber es ist das Beste, was wir hinkriegen können. Es gibt noch ein paar Päckchen Beef Jerky im Kühlschrank und auch ein altes, klebrig eingewickeltes Muffin unbekannter Herkunft, das zu essen bisher niemand tapfer genug (oder blöd genug) war.

Nachdem wir die Zuteilung vorgenommen hatten, ließen wir uns zum Essen nieder. Ted und ich hielten weitgehend den Mund. Janette wirkt dieser Tage extrem zerbrechlich. Sie konnte noch nie gut mit blutrünstigen Ereignissen umgehen, weder in Büchern noch in Filmen, also ersparten wir ihr lieber die Details unserer Expedition. Der arme Phil aß in seinem Büro, immer noch auf dem Boden zusammengerollt wie ein Kind, das still eine Auszeit durchsteht. Er murmelte ein leises Danke, als ich ihm eine Tüte Doritos und eine Limonade brachte.

Der Rest von uns aß am Tisch unter dem fahlen, leicht flackernden Schein der Notbeleuchtung. Knuspernd und kauend rang jeder von uns mit seinen eigenen verwickelten Gedanken. Matt war viel freundlicher geworden. Ich hatte den Eindruck, dass er es bedauerte, anfangs so heftig gegen die Mission vorgegangen zu sein, weshalb er nun so etwas wie Begeisterung zu zeigen versuchte, jedenfalls soweit sein hängendes Basset-Gesicht das vermochte.

Es war wohl irgendwann kurz nach dem Essen, als mir etwas Seltsames auf dem Fußboden auffiel. Es klemmte halb unter dem Tresen gegenüber der Tür. Im ersten Moment dachte ich, es könnte ein Bündel Zeitungen sein oder ein Stapel uralter Motivations-Pamphlete, vor langer Zeit dort fallen gelassen und seitdem völlig vergessen. Ich wartete, bis die anderen vom Tisch aufstanden und sich in verschiedene Ecken des Raumes verdrückten. Hollianted suchten immer etwas Abstand, damit sie in Ruhe fummeln und schmusen konnten. Janette und Matt eröffneten mit einem alten Kartendeck, das sie gefunden hatten, eine Runde Poker. Matt hatte sein eines Hemd jetzt offiziell abgeschrieben, denn es war über und über voll Dreck und Zombieschleim. Ich tat so, als würde ich es versehentlich auf den Boden stoßen, und beugte mich runter, um es wieder aufzuheben. Dabei packte ich rasch das Ding unter dem Tresen und stopfte es in meine Jeans. Matt sah zufällig herüber, als ich das Hemd gerade wieder auf den Tresen drapierte, und starrte mich an, als wäre ich eine Fliege, die er gerade über seinem Kopf bemerkt hatte. Ich murmelte so etwas wie: »’tschuldige, bin ungeschickt.«

Matt richtete seine Aufmerksamkeit und seinen siedenden Todesblick wieder auf das Kartenspiel, und ich schnappte mir mein Laptop und schlurfte in den Tresorraum.

Und da sitze ich jetzt, mein Bildschirm direkt neben dem Überwachungsmonitor. Im Laden ist es inzwischen deutlich ruhiger geworden. Was für ein Chaos Ted und ich auch immer aufgewühlt haben, es hat sich inzwischen wieder gesetzt, und immer weniger schwankende Gestalten drücken sich vor den Kameras herum.

Ich bin ohnehin zu abgelenkt, um ihnen viel Aufmerksamkeit zu schenken – denn was habe ich soeben aus meiner Jeans zutage gefördert? Ein Buch. Wie durch ein Wunder hat es doch noch seinen Weg in den Pausenraum gefunden. Es muss wohl bei der Rangelei an der Tür hineingeschleudert worden sein. Vielleicht habe ich es fallen gelassen, kurz bevor Matt uns endlich hereinließ, und es dann irgendwie fertiggebracht, es unbemerkt nach drinnen zu kicken. Das verdammte Ding hat es tatsächlich geschafft, der einsame Überlebende, der verschollene Schiffbrüchige. Das allein erscheint für sich betrachtet vielleicht noch nicht besonders aufregend oder bemerkenswert, aber als ich das Buch im Tresorraum hervorholte und sah, was es war, konnte ich es schier nicht fassen. Das Erwachen – das Lieblingsbuch meiner Mutter.

Begeisterung … Freude … vollständige Ungläubigkeit. Hier kommt der nackte Wahnsinn auf Schienen und fährt in die Station ein. Tut, tuut!

Ich glaube nicht an eine höhere Macht und habe es nie getan. Aber ich muss doch zugeben, dass ich für eine kurze, aufblitzende Sekunde die Gegenwart oder gar das Eingreifen von etwas Übernatürlichem zu spüren meinte. Es war einfach ein zu grandioser Zufall, zu vollkommen, um wahr zu sein. Ich setzte mich hin, das Buch auf meinen Handflächen, und starrte den Umschlag an, als wäre er eine Opfergabe, eine Schale gesegneten Weihrauches. Und seit diesem Augenblick, seit dem Moment, in dem das Buch in meinen Besitz kam, habe ich nicht mehr schlafen können.

Versteht mich bitte nicht falsch, ich weiß durchaus, das ist keinesfalls die Hand Gottes, die mir ein Zeichen oder Ähnliches herunterreicht. Als ich zur Schule ging, haben meine Freunde und ich in durchwachten Nächten mit dem Ouijabrett gespielt. Wir fürchteten uns schier zu Tode und starrten mit vor Schreck geöffnetem Mund auf den kleinen Zeiger, als er D-O-D buchstabierte. Das war für uns nah genug dran, um uns die ganze Nacht zu fragen, wer von uns jetzt sterben würde. Jahre später hat mir ein Freund erklärt, warum solche Hexenbretter funktionieren. Winzige, minutiöse Vibrationen der Fingerspitzen übertragen das gewünschte Ergebnis. Natürlich denkt dein Bewusstsein nicht G-E-I-S-T, aber dein Unbewusstes tut es. Das ist alles, was es braucht, um den Zeiger Zentimeter für Zentimeter auf dem Brett zu bewegen.

Vielleicht war auch hier mein Unbewusstes am Werk gewesen. Vielleicht hatte ich, ohne zu denken, Das Erwachen gegriffen, in meine Achselhöhle geschoben und es an mich gedrückt, fest entschlossen, es um keinen Preis mehr loszulassen. Egal wie, göttliches Eingreifen oder ein Kniff des Unbewussten, das Buch war jetzt jedenfalls meins. Keine Ahnung, warum ich es erst so eifersüchtig bewachte und vor den anderen geheim hielt, dass ich es gefunden hatte. Das ist jetzt vorbei, in den letzten paar Tagen haben wir es herumgehen lassen, und alle haben abwechselnd wieder und wieder darin gelesen.

Nachdem wir die Beute geteilt und gegessen hatten, zog ich mich in der ersten Nacht, in der ich es hatte, in den Tresorraum zurück, um mit dem Buch alleine zu sein. Ich las es von vorne bis hinten durch und fing wieder von vorn an. Dann wurde ich müde und beschloss schlafen zu gehen. Langsam döste ich ein, das kühle Licht des Monitors fiel auf mein Gesicht und meine Hände, die ich zu einer Wiege für meinen Kopf faltete.

Vielleicht war es gar nicht das Buch, was die Schlaflosigkeit ausgelöst hat, sondern der Traum. Aber das Buch löste den Traum aus, insofern spielt der ursprüngliche Täter gar keine Rolle. Der Traum ging so: Ich war draußen im Laden mit Ted, schwang meine Axt und sammelte Nahrung ein. Plötzlich erhebt sich etwas hinter mir, kreischt und krächzt wie eine Banshee. Ich drehe mich um, und es ist einer von denen, von den Untoten, und zunächst scheint es Susan zu sein, aber sie ist es nicht. Es ist meine Mom, und sie trägt das verdammte T-Shirt mit der kitschigen Kleinkinderhandschrift …

Beste Mutti der Welt

Ich kann mich nicht rühren, nicht aufhören, ihr ins Gesicht zu starren, dabei will ich nur wegrennen. Weg von diesen hohlen, schreienden Augen, die nicht länger die Augen meiner Mutter sind. Ihre Hände krallen nach mir, das Fleisch schon flüchtig, die Knochen schimmern darunter. Durch die wabbeligen Löcher in ihrem Gesicht ist ihr Schädel zu sehen. Sie hat eine Glatze, natürlich, bei der Chemo hat sie vor Monaten ihr Haar verloren, und überall auf ihrem Kopf sitzen abstoßende, purpurne Flecken. Ihre Finger schlitzen mein Hemd auf. Schon reißt sie an meiner Haut, aber ich kann nichts machen. Ich kann sie nicht töten, ihr nicht die Axt in den Hals schlagen, ich halte einfach still und warte und lasse sie mich in Stücke reißen.

Ich erwache in kalten, schauderhaften Schweiß gebadet. Überall auf dem Tisch glänzen kleine Perlen von Feuchtigkeit, und meine Handrücken sind feucht und schlüpfrig. Der Monitor flackert und fällt für eine Minute aus, dann fixiert die Kamera wieder Susans kopflosen Körper, immer noch da, immer noch in dem T-Shirt.

Seit dieser Traum endete, kann ich nicht mehr schlafen.

Und jetzt, während ich dies schreibe, zittern meine Hände, denn ich kann meine Nerven nicht mehr kontrollieren. Meine Augen schmerzen und fühlen sich sandig an, verschwommen und verklebt von Stunden um Stunden, die ich in dieser dunklen, durchwachten Nacht zugebracht habe. Ich bin durch und durch klamm vom Schweiß, und ich weiß, das alles würde vorübergehen, wenn ich mich nur ausruhen könnte. Bloß eine Stunde schlafen, oder vielleicht zwei, aber ich kann nicht. Irgendetwas in meinem Gehirn lässt mich nicht. Ich denke permanent an Schlaf und versuche zu lesen, um mich weiter abzulenken, meinen Geist von der Tatsache abzuschirmen, dass sich nichts ändern wird, wenn der Abend kommt. Ich schließe meine müden Augen und fühle mich entsetzlich wach.

Das muss aufhören. Wenn ich noch länger so weitermache, werde ich unbrauchbar, schwach, dumpf und krank.

Es muss aufhören.

210294.jpgKOMMENTARE

Isaac:

23. September 2009 22:33 Uhr

Du bist nicht verrückt. Bleib wachsam, versuch, dir eine Routine zu schaffen, und halte dich an sie. Es wird leichter für deinen Körper, wenn du einen Rhythmus findest. Lass dein Immunsystem nicht zu schwach werden.

Mel:

23. September 2009 23:20 Uhr

Das Boot läuft heute aus, und ich bin drauf. Wir haben ein paar der Kreaturen im Wasser gesehen, aber sie wirkten langsam. Ich glaube, wir können es schaffen. Du wirst von mir nichts mehr hören, Allison, aber ich werde an dich denken. Auf Wiedersehen.

Allison:

23. September 2009 23:55 Uhr

Viel Glück auf den Wellen, Mel. Schick uns eine Postkarte von Kuba und etwas Rum. Jede Menge Rum.