1. OKTOBER 2009 – ANDERE STIMMEN,
ANDERE RÄUME
»Hei-li-ge Scheiße. Heilige Scheiße, heilige Scheiße, heilige Scheiße!«
»Wow. Das ist fast wörtlich dasselbe, was ich gesagt habe.«
Als er die Neuigkeit erfuhr, beglückte uns Ted mit einer hinreißenden Darbietung seines Glückstanzes (das darf man nicht verpassen, glaubt mir, wie ein Maibaum beim Breakdance). Dass meine Mutter nicht nur computermächtig ist, sondern auch zäh und hart im Nehmen, begeistert ihn bis zur völligen Euphorie. Die anderen zeigen zurückhaltendere Reaktionen, insbesondere Zack. Ich glaube, er weiß, wie knallhart es da draußen zugeht, und möchte nicht, dass ich mir zu große Hoffnungen mache. Aber sie sind groß und schrumpfen nicht: Meine Mutter lebt, und sie kommt zu mir. Aber das ist nicht alles, noch längst nicht alles.
Es gibt Stimmen, die du nie vergisst.
Du hörst sie nicht oft, aber wenn, dann implantieren sie sich in dein Gedächtnis wie ein weicher, unsichtbarer Krake. Du magst sie Jahre über Jahre nicht vernehmen, aber wenn du sie wieder hörst, dann sprüht dein Geist vor Leben, die Erinnerung erwacht, und die Stimme wird so wirklich wie ein warmer Stein in deiner Hand.
Deine Mutter, dein Vater, Frank Sinatra, Billie Holiday, Dick Clark, Bono …
Mein Vater starb, als ich noch klein war, richtig klein. Ich dürfte mich an seine Stimme gar nicht erinnern können, ich habe ihn ja nicht mal richtig kennengelernt. Aber ich kann den Klang seines Lachens heraufbeschwören und die Art, wie er ein weiches Summen von sich gab, wenn er heiter und unbesorgt war. Dazu muss ich nur etwas tiefer in mein Gedächtnis greifen. Ich kann ihn hören, ich erinnere mich an ihn. Er wird immer bei mir sein.
Jetzt gibt es eine neue Stimme, eine Stimme, von der ich weiß, dass ich sie nie mehr vergessen werde. Es könnte genauso gut Gott sein oder Buddha oder sonst irgendeine große, unbegreifbare Gottheit, zu gütig und vollkommen, um sie ganz zu erfassen.
Das Radio funktioniert. Und da draußen ist jemand.
Das Licht des Herrn wird dich aus der Qual geleiten.
Vielleicht haben Sie ja recht, Reverend Brown. Alles in allem finden die Gläubigen die Hand Gottes, sein Werk, in jedem noch so winzigen Geschehen. Und nun gibt es ein neues Licht für uns, das uns leitet, etwas, wonach wir streben können, was uns als Schild gegen die täglichen Zweifel, den Pessimismus, die Angst dient. Das ist vielleicht keine Religion, und es muss auch gar nicht Gott sein, aber es ist etwas Gutes und Schönes, woran man glauben kann.
91,7 heißt die magische Zahl. Ich habe sie in der dunklen, zähen Zeit der Nacht gefunden, wenn man weiß, der Morgen ist noch weit, und sich nach Ruhe sehnt und trotzdem nicht wieder einschlafen kann. Es ist die Art einsamer, leerer Zeit, in der man etwas braucht, das den Geist beschäftigt, irgendwas, um sich abzulenken. Ich fange also an, am Radio herumzufummeln, drehe es sehr leise, um die anderen nicht zu stören. Dapper gerät bei dem Gezirpe des statischen Rauschens in Erregung und schlängelt sich durch das Tal der unentwirrbar verknoteten Bettdecken. Sein Kopf ruht auf meinen Waden, während der kleine Frequenzsucher auf und ab fährt und wieder auf und ab, beharrlich auf der Suche durch die leeren Frequenzbänder. Und dann schließlich, nach fast einer Stunde müßigem Tunen und Hin- und Herschalten zwischen Kurz- und Mittelwelle sowie beharrlichem Antennengedrehe in verschiedene Richtungen, erwacht krächzend eine Stimme zum Leben.
»… zu uns runter, wenn Sie es schaffen können, wir haben Nahrung, Unterschlupf und begrenzte medizinische Versorgung. Sanitäter und Hilfskräfte stehen bereit, um zu helfen, wenn Sie verletzt sind. Ich wiederhole: Der Campus steht Ihnen offen. Wir haben uns in der Sporthalle eingerichtet. Stoßen Sie zu uns, wenn Sie können, wir haben Nahrung, Unterschlupf und begrenzte medizinische Versorgung.«
Ich rücke hastig näher ans Fenster, atemlos, euphorisch, halte die Antenne so nah wie möglich an die Scheibe. Die Nachricht wird wiederholt, dieses Mal langsamer. Kurz frage ich mich, ob es sich vielleicht um eine automatisch wiedergegebene Aufnahme handelt, aber dann, als hätte jemand meine Gedanken gelesen, sagt die Stimme plötzlich etwas anderes:
»Ich weiß nicht, wie viele zuhören oder wie viele da draußen immer noch verzweifelt versuchen zu überleben, aber ich möchte, dass Sie alle Folgendes erfahren: Es ist noch nicht alle Hoffnung verloren. Sie müssen irgendwohin, sich eine Zuflucht suchen. Es mag spät sein, und Sie fürchten sich, haben vielleicht schon die Hoffnung aufgegeben, aber verzweifeln Sie nicht. Gerade heute ist eine Frau zu uns gekommen. Sie war am Verhungern, verwundet und geschockt, aber sie hat sechzehn Kilometer hinter sich gebracht, um hierherzugelangen. Sie hat uns gehört, sich nicht beirren lassen, und sie hat uns erreicht. Ihr Name ist Melissa. Sie kam mit ihrer zwei Monate alten Tochter und sagte mir, dass das Radio ihr die Kraft verliehen hätte, weiterzumachen. Und deshalb, Melissa und ihrem Mut zu Ehren, habe ich beschlossen, heute Abend aus ihrem Lieblingsbuch vorzulesen. Also, liebe Hörer, schließen Sie die Augen, lassen Sie Ihre Sorgen los und hören Sie zu.«
Ich konnte es nicht glauben. Ich halluzinierte, ich musste einfach halluzinieren. Das war nicht möglich. Ich höre von meiner Mutter und erhalte die Bestätigung, dass noch andere da draußen sind – ganz in der Nähe –, und alles innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Die Universität liegt nur zehn Blocks entfernt, in gemächlichem Schritt ein zehn bis fünfzehn Minuten langer Gang. Aber da rausgehen – es überhaupt zu riskieren … Diese zehn Blocks könnten hochgradig gefährlich sein, vielleicht ist alles voll mit Untoten. Die Universität liegt im Herzen der Stadt, ein bevölkerter Ort, es könnte von diesen Dingern wimmeln.
Himmel, beschütze meine Mom.
Sie ist wahrscheinlich schon unterwegs und wird dies nicht lesen können, aber ich kann nicht aufhören, an sie zu denken, denn sie ist irgendwo da draußen und gibt alles, um herzukommen.
Es wird in den kommenden Tagen noch genug Zeit sein, sich einen Kopf darüber zu machen, Diskussionen vom Zaun zu brechen, Argumente abzuwägen. Aber für den Augenblick will ich aufhören, mich damit zu befassen, mich zu sorgen, und mich einfach nur auf diese Botschaft einlassen. Und so tue ich, was die Stimme mir gesagt hat: Ich lehne mich an mein Kissen, lege meine Hand auf Dappers Kopf, schließe die Augen, spreche ein Stoßgebet für meine Mom und höre zu.
»Es war die beste und die schönste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis. Es war der Frühling der Hoffnung und der Winter des Verzweifelns. Wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung …«
Es gibt Stimmen, die man nie vergisst.
Schlaft gut, Isaac, Brooklyn Girl, Reverend, Mom. Es gibt Stimmen in der Dunkelheit, süße Leuchtfeuer voll strahlender Möglichkeiten, und sie schenken jedem von uns eine Perspektive zu überleben.
KOMMENTARE
Isaac:
1. Oktober 2009 22:08 Uhr
Herzlichen Glückwunsch zum Wiederfinden deiner Mutter, Allison. Wenn nur alle von uns so glücklich sein könnten. Ich drücke ihr ganz fest die Daumen für ihre Reise.
Brooklyn Girl:
1. Oktober 2009 22:34 Uhr
Zähl ein weiteres Paar gedrückte Daumen! Lass uns sofort wissen, wenn sie da ist.
Allison:
1. Oktober 2009 22:48 Uhr
Danke für eure Unterstützung, Leute. Ich bin sicher, wo immer sie jetzt ist, meine Mom weiß das zu schätzen!