4. OKTOBER – SINN UND SINNLICHKEIT
»Gibt’s was Neues?«
»Nichts. Keinen Piep. Da draußen wanken ein paar Dümpler herum, aber keine Spur von ihr.« Ted legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt mich leicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich weine, ist es, als akzeptierte ich, dass sie nicht kommt. Ich werde nicht weinen. Auf keinen Fall. Ich muss mich konzentrieren, konzentrieren und führen.
Und so ging das Treffen vonstatten, wie ich es erwartet hatte.
Niemand brach in besondere Begeisterung aus bei der Idee, die Apartments jetzt wieder zu verlassen. Phil erwähnte die Möglichkeit, unter den Versammelten in der Turnhalle der Universität verlorene Familienmitglieder wiederzufinden. Janette fand diese Vorstellung vielversprechend und spannend. Matt führte aus, dass eine einzelne Mutter, die ein Kind trägt und sechzehn Kilometer durch gefährliches Gelände marschiert, eine Ausnahmeerscheinung sei und nicht als normal betrachtet werden könne. Natürlich war das sein unbeholfener Versuch, Phil beizubringen, wie absolut unwahrscheinlich es war, dass seine dicke, gutmütige Frau (oder auch ihre beiden Kinder) die weit über zwanzig Kilometer von ihrem beigen Bungalow bis zur Universität hat überwinden können. Phil machte einen ziemlichen Aufstand deswegen, aber etwas sagte mir, dass er insgeheim fühlte, wie recht Matt hatte.
Ted, der die meiste Zeit des Meetings damit verbracht hat, mich aus einer Ecke des Wohnzimmers durch seine immer noch schief nach rechts hängende Brille finster anzustieren, fängt mich ab, als die anderen zum Abendessen gehen. Wir stehen alleine im Wohnzimmer, zwischen uns die niedrige Glasplatte des Kaffeetischs. Ich erkenne, dass er auf Krawall gebürstet ist, sich aber zusammenreißt, um nicht zu hitzig aufzutreten.
»Schon in Ordnung«, sage ich, »du kannst es ruhig sagen. Mach nur. Ich weiß, was du denkst.«
Ted versagt die Stimme, seine Lippen pressen sich so fest zusammen, dass sie aussehen wie ein verkrampfter Seestern kurz vor dem Ersticken. Ich kann die Gedanken in seinen Augen flackern sehen, die Entscheidungen, das vorsichtige Erwägen der Möglichkeiten. Er stößt seine Brille die Nase hoch und wirft sein Haar herum wie ein ungeduldiger Hengst.
»Ich will nicht streiten«, sagt er.
»Doch, das willst du, und das ist auch in Ordnung. Fang einfach an, bevor ich zu hungrig werde.«
»Schön«, schnaubt er. »Warum hast du mir nichts erzählt? Ich weiß, dass du dir beschissene Sorgen um deine Mutter machst, aber ich dachte, wir hätten ein Einvernehmen, weißt du? Wir bequatschen Sachen erst unter uns, und dann tragen wir es der Gruppe vor. Was ist daraus geworden?«
Irgendwie habe ich gewusst, dass das kommt, aber das Wissen macht es nicht weniger unangenehm.
»Das ist doch keine Entscheidung, die ich allein treffen könnte, oder wir beide, verstehst du? Das ist eine Gruppenentscheidung, jeder ist davon gleichermaßen betroffen.«
»Jeder?«, fragt er.
Er hat seine Stimme gesenkt, um seriöser zu klingen. Wenn er sich sehr aufregt, wird sein Akzent deutlich stärker und seine Schultern wandern in die Höhe, als ob er sich auf einen Boxkampf vorbereite. Ich glaube nicht, dass es zu Schlägen kommt, aber er sieht tatsächlich aus wie ein erbostes Warzenschwein, das im Dreck stampft, keucht, sich anspannt – ein weiß glühender kleiner Energieball vor dem goldgerahmten Druck eines Heile-Welt-Gemäldes von Thomas Kinkade.
»Richtig. Jeder. Jeder bedeutet im Klartext du und Zack, richtig?«
Das habe ich nicht direkt kommen sehen, aber geahnt, dass es passieren könnte. Ich verschränke die Arme und strecke die Brust raus, um seine lächerliche Dominanzpose zu kontern. Im Stillen hämmere ich mir ein, dass hier kein Drama vorliegt. Ich versuche, mich selbst davon zu überzeugen, dass es hier schlicht um die Dynamik von Machtverhältnissen geht und nicht um Ted, diesen eifersüchtigen, weinerlichen kleinen Sack.
»Weiß Zack davon?«, fragt er jetzt ganz direkt.
»Vermutlich ja. Aber zu meiner Verteidigung: Er hat es mir Stück für Stück aus der Nase gezogen.«
»Ach, so nennt man das heute.«
»Pass auf, Arschloch«, grolle ich und mache einen drohenden Schritt auf ihn zu. »Ich schlag dich noch mal, wenn ich muss. Führe mich nicht in Versuchung.«
Ich spüre, wie die Spannung steigt, der bevorstehende Zusammenprall der Titanen, heiß, wütend, voll siedender Leidenschaft, die sich danach verzehrt, auszubrechen, durch meine Kehle und durch Kontakt meiner Handfläche mit seinem Gesicht. Ich weiß immer noch nicht, woher dieser Jähzorn kommt. Soll ich raten? Teds Scheiß-Gehabe und dazu der Umstand, dass meine Mutter, die wunderbarste Frau der Welt, verschollen und vielleicht, nur vielleicht, längst tot ist.
»Scheiß drauf«, sage ich und lasse die Luft raus. »Das ist Zeitverschwendung.«
»Yeah.«
»Meinst du nicht, wir sollten fortgehen? Ich meine, wenn meine Mom herkommt. Denkst du, dass wir gehen sollten?«
Ted braucht einen Moment, um zu antworten. In der Zwischenzeit setzen wir uns beide auf die große Couch, die so üppig mit handgewebten Afghanenteppichen bedeckt ist, dass sie unter all den Handarbeiten kaum noch zu sehen ist. Alles hier riecht nach Zimt, vermischt mit Schweiß und Scheiße, dem Geruch, den wir überall mit hinzutragen scheinen. Wir werden ihn nicht los. Egal, wie gründlich wir das Klo reinigen, scheinen wir immer ein wenig zu stinken.
Ted stützt seinen rechten Knöchel auf sein Knie und schiebt seine Hände tief in seine Taschen. Ich bin kurz in Versuchung, die Ruhe nach dem Sturm zu nutzen und ein kleines vertrauliches Gespräch über Holly vom Zaun zu brechen, aber ich halte dicht. Ich glaube, mir gefällt Hollys neue Loyalität, die Art, wie sie mich verschwörerisch angrinst, als wären wir einst siamesische Zwillinge gewesen. Ich kann ihre Gedanken nicht lesen, aber ich habe eine gut begründete Ahnung.
»Meine Nerven sagen ja«, antwortet Ted zu guter Letzt. »Aber das ist eine gewaltige Veränderung… Wer weiß, ob es so viel besser sein wird? Aber … Leuten zu begegnen, neuen Leuten, zur Hölle, jeder Menge Leute …«
»Ich weiß. Genau das ist auch mein Gefühl.«
»Es könnte ein Irrenhaus sein«, sagt Ted und grinst verschlagen. Sein Fuß zuckt rhythmisch. »Und total unhygienisch, bei all den Leuten auf einem Haufen.«
»Ich glaube, wir sollten bleiben«, sage ich. Die Spannung ist verpufft und hat die gleiche problemlose Freundschaft hinterlassen, die wir vorher hatten. Es scheint, als hätte es das Radio, Zack und unsere Meinungsverschiedenheiten nie gegeben.
»Wirklich?«
»Wirklich. Worum geht es denn? Suchen, suchen, nie zufrieden mit irgendwas … wo soll das enden? Es erschöpft mich schon, darüber nur nachzudenken. Buddha lehrt, dass das Begehren nie klug wird, es erkennt niemals seine eigene Verblendung, es treibt uns an bis in alle Ewigkeit, und wofür?«
»Hmm, schön, Konfuzius sagt: Weiße Mädchen stolpern nicht über Berge, sondern über Maulwurfshügel.«
»Richtig, zitiere nie Buddha vor einem Chinesen, ich vergaß.«
»Klugscheißerin.«
»Ungläubiger.«
»Bleichgesicht.«
»Orientale.«
»Das tat aber weh!«
»Wenn du meinst, wir sollten gehen, denke ich darüber nach, falls nicht, ist der Fall wohl abgeschlossen«, beende ich das Gefrotzel.
Ted sieht mich an. Er braucht wirklich einen Haarschnitt. »Ich kann mir nicht helfen, ich muss immer an Phil und seine Kinder denken, und Janette und, weißt du – schlag mich nicht –, vielleicht auch deine Mutter. Selbst wenn sie es nicht hierherschafft, besteht die Chance, dass sie zum Campus durchkommen.«
»Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich will mich nicht zu lange an müßige Hoffnungen klammern. Sie sagte, drei Tage, und das sollte wirklich reichen, aber wir müssen eben noch länger warten.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Denn, wie heißt es noch: Die Frau, die in der Kirche furzt, sitzt allein in der Bank.«
»Das ergibt doch keinen Sinn, was ist los mit dir?«
Ich beuge mich vor und boxe ihm gegen die Schulter. Das ist besser als eine Ohrfeige. Er fällt um, stöhnt theatralisch und hält sich den Arm. Durch die Vorhänge und Scheiben höre ich draußen die Untoten auf ihrem langsamen, gradlinigen Marsch die Straße hinunter. Ich weiß, in welche Richtung sie gehen. Nach Westen. Westwärts, zum Campus. Ich frage mich, ob sie die lebendigen Körper dort spüren, das kommende Festmahl … Oder vielleicht versammeln sie sich vor unserer Tür und überwältigen stattdessen uns.
Vielleicht haben sie auch meine Mom gefunden, und ihr Schicksal ist bereits besiegelt.
Wir bleiben. Vorläufig bleiben wir hier drin, in Sicherheit, in Ungewissheit, zusammengerückt um die Wärme.
Morgen ist Phils Geburtstag. Holly und ich werden versuchen, irgendwie einen Kuchen zu fabrizieren. Zack hat gefragt, ob wir wieder zusammen Radio hören wollen. Mir fällt ums Verrecken kein Grund ein, ihn abzuweisen.
KOMMENTARE
Brooklyn Girl:
4. Oktober 2009 20:36 Uhr
Heute haben wir einen von uns verloren, meinen Cousin. Ich konnte es nicht. Ich konnte ihn nicht töten, also haben wir ihn ausgesperrt. Er kratzt, um reinzukommen. Seufz … egal, es ist nicht mehr er.
Allison:
4. Oktober 2009 20:55 Uhr
Mein Beileid. Du kannst ihm jetzt nicht helfen, aber das macht es nicht leichter. Reichen eure Vorräte? Hat die Bodega genug abgeworfen?
Brooklyn Girl:
4. Oktober 2009 21:10 Uhr
Vorräte reichen, zumal jetzt, wo wir einer weniger sind. Ich mache mir Sorgen, dass wir die Treppenschächte im Gebäude nicht gründlich genug kontrolliert haben. Wir werden das morgen regeln. Hoffentlich hat Gary bis dahin seine Versuche eingestellt, wieder reinzukommen.
Isaac:
4. Oktober 2009 22:23 Uhr
Befreit Gary von seinem Leiden. Er kann es euch nicht danken, aber er würde, wenn er könnte.
Isaac:
6. Oktober 2009 7:26 Uhr
Allison? Ist alles in Ordnung?
Brooklyn Girl:
6. Oktober 2009 22:23 Uhr
Verdammt! Gary zu verlieren war schwer genug. Bitte meldet mir, dass ihr noch wohlauf seid!