28. OKTOBER 2009 – BESESSEN, TEIL 3

Die Politik der kleinen Schritte ist jetzt nicht länger angemessen.

Ned und ich haben eine neue Leidensgenossin. Ihr Name ist Renny, und sie lebt in meiner Zelle. Wir sind jetzt Zellenkumpane. Sie ist ein wahres Schandmaul – dreist, selbstsicher und dazu bestimmt, unser grausames Schicksal zu teilen. (Ich bin nicht restlos überzeugt, dass sie uns wirklich umbringen wollen, aber Ned besteht darauf.) Renny hatte das beschissene Pech, versehentlich über den Schlupfwinkel der Gemahlinnen der Schwarzen Erde zu stolpern. Ich nenne es Schlupfwinkel, weil ich sie mir gerne als Superschurken in einem miesen, billigen Horrorfilm vorstelle. Ich erzähle Ned, dass wir der Schlange den Kopf abschneiden müssen, aber auch abseits biblischer Anspielungen wirkt er nicht belustigt. Als Renny sich geweigert hat, an ihrem ›Gebetsdienst‹ teilzunehmen, wurde sie zusammen mit dem anderen Müll nach hier unten verbannt. Sie ist eine unschätzbare Reserve.

»Verfickte Schlampen.«

Das waren ihre ersten Worte, und sie deuteten sacht an, dass sich hier eine tiefe und bedeutsame Freundschaft entwickeln würde. Sie hat eine weiche, dunkle Gesichtsfarbe, eine hohe Stirn und scharfe Wangenknochen. Ihre Nägel sind abgebrochen, aber sie waren einst in fluoreszierendem Orange und Gelb lackiert. Ihr rot-schwarzes Haar besteht aus einem Wirrwarr dichter Korkenzieherlöckchen, die in jede denkbare Richtung abstehen und von einem breiten Stirnband zusammengehalten werden. Ich klopfe neben mich, und sie kommt und setzt sich.

»Was hast du oben gesehen?«, frage ich.

»Außer durchgeknallten Schlampen? Die wollten, dass ich mit ihnen bete, na schön, meinetwegen, ich bete auch, wenn ich dafür ein Sandwich kriege. Dann brachten sie mich in eine Waschküche, die sie auf eine Million Grad geheizt hatten, und ließen mich mit ihnen niederknien, um mich zu ›reinigen‹. Okay, das ist schräg, aber meinetwegen, jedem nach seiner Fasson. Aber dann wurde es wirklich schräg, ernsthaft scheiße-schräg. Sie sagten mir, ich müsste einen Typ ficken und sein Kind austragen, um die Linie von Adam fortzusetzen, und einen Haufen solchen verrückten Mists. Nein danke, mir egal, ob das Sandwich zwei Meter dick ist, so was mach ich nicht.«

»War er nicht dein Typ?«

»Nee.«

»Religiös?«

»Männlich.«

Renny teilt Neds Meinung, dass die Wiedergewinnung meines Laptops nichts ist, was man feiern müsste. Ihnen fehlt es einfach an Vorstellungskraft. Wir schlagen die Zeit mit Geschichtenerzählen tot. Renny hat in der Werbung gearbeitet. Direkt in Downtown Madison. Sie hatte gerade Mittagspause, als die Untoten auftauchten. Zusammen mit ein paar Mitarbeitern versuchte Renny davonzukommen. In den nächsten Tagen wurden sie getrennt, und sie wanderte allein von Haus zu Haus, sammelte, was sie finden konnte, um sich zu verteidigen. Sie bestätigt Neds Annahme, dass wir im Keller einer Vorschule gefangen hocken. »Butterblümchen und so’n Scheiß an den Wänden, irgendwie völlig unpassend.«

Zwei Tage vergehen. Renny ist eine gute Gesellschaft, aber Ned entfernt sich immer mehr. Ich weiß, dass er sich Sorgen um seine Kinder macht, darum, was ihnen alles passieren kann. Niemand ist gekommen, um mit mir über meinen angeblichen Glaubenswandel zu sprechen. Wahrscheinlich wissen sie, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin. Aber nach zwei Tagen passiert etwas, das nach einer Reaktion verlangt. Sie kommen Renny holen.

Ich kenne sie noch nicht lange, aber ich weiß, dass sie eine Freundin ist, die es verdient hat, dass man zu ihr hält. Sie besitzt eine Kämpferseele, ein Funkeln in den Augen, das man nicht niederringen kann. Sie nehmen sie einfach mit. Um sich tretend und schreiend wird sie fortgezogen. Drei Frauen sind nötig, um sie aus der Zelle zu schleifen, eine, die mich mit einer Kanone bedroht, und zwei, um Renny und ihre gefährlichen Hiebe zu handhaben. »Ihr verfickten Fotzen, ich mache euch fertig, kommt schon, los, kommt schon und kämpft fair!«

Sie hat ein einfallsreiches Schandmaul. Ich kann nicht zulassen, dass jemand wie sie in ihre Hände fällt.

»Das reicht jetzt«, sage ich zu Ned, während Rennys Stimme langsam leiser wird. Die letzten Echos erreichen uns in einem leise vibrierenden Murmeln. »Unsere Zeit ist gekommen.«

»Allison«, setzt er an, aber dann bricht er ab.

»Weißt du was, Ned«, erwidere ich, »von allen Wegen, sich umzubringen, ist Selbstaufopferung der beste.«

»Allison.«

»Nein, ernsthaft. Mir sagt das: Hey Mann, ich sterbe … aber mit Gefühl

»Ich weiß, du willst nicht, dass sie dich drankriegen, aber selbst wenn du dich wirklich umbringen wolltest, gibt es hier drin keine Möglichkeit dazu«, sagt er und seufzt in die Dunkelheit.

»Du denkst nicht außerhalb des Baukastens.«

»Ich schätze, du könntest dich vermutlich mit dem Computerkabel erhängen. Das braucht eh keiner mehr.«

Ned! Ned, du verdammtes Scheiß-Genie!

»Das ist es.«

»Was? Was ist es? Nein! Denk nicht mal daran.«

»Ich meine nicht mich, du Idiot«, sage ich, »aber ich hab dir versprochen, dass wir hier rauskommen und deine Kinder retten, und genau das werden wir jetzt tun.«

»Wie meinst du das? Mit deinem Computerkabel? Ich verstehe nur Bahnhof.«

»Wofür hast du mich trainiert? Wofür waren all diese Stunden im Sportstudio gut, wenn nicht hierfür? Ich hole uns hier raus. So oder so.«

Ned ist völlig durch den Wind. Er versucht, mich davon abzubringen. Ich bin dankbar für seine Besorgnis, aber Renny ist in Gefahr, und jeder Moment, den wir verstreichen lassen, verringert ihre Überlebenschance. Außerdem habe ich diesen Ort gründlich satt, ich bin zu Tränen gelangweilt und bald so weit, mir aus purem Überdruss die Haare auszureißen. Ich kann nur eine begrenzte Zeit lang Spion spielen, besonders im Dunkeln.

Nach einer Weile beruhigt sich Ned, vielleicht ist er überzeugt, dass ich die Idee fallengelassen habe. Hab ich aber nicht, kein bisschen. Eine Stunde später kommt Helga mit dem Essen, und ich bin bereit für sie, sitze mit geöffnetem Laptop nahe bei der Tür. Ich richte meine Augen angestrengt auf den Bildschirm, tippe vor mich hin und murmele und kichere in mich hinein. Sie sieht es und hält inne, bevor sie den Teller unter der Tür durchschiebt.

»Was ist das? Was tust du da?«, fragt sie und taucht mich ins Licht ihrer Taschenlampe. Ich antworte nicht und kichere noch heftiger, während ich so tue, als würde ich fieberhaft tippen. Sie rüttelt an der Tür und schreit mich an.

»Du! Ich habe dir gesagt, keine krummen Touren!«, brüllt sie und hämmert an die Tür. Nebenan höre ich, wie Ned sich an die Wand schiebt. »Was machst du da?«

»Krumme Touren.«

Ein Grollen entsteht tief in ihrer Kehle und wächst an, bis sie nach ihren Schlüsseln fummelt und dabei vor sich hin murmelt, mich verflucht und wilde Drohungen brabbelt. Schließlich findet sie den richtigen Schlüssel, steckt ihn in das Vorhängeschloss und knallt die Tür in den Raum. Ich weiche etwas zurück und schirme das Laptop vor ihr ab. Sie muss näher kommen, ganz nah, oder es funktioniert nicht. Sie fällt drauf rein, schnappt nach dem Köder und versucht, einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. Ich kichere wie eine Irre, was sie nur noch rasender macht. Für eine religiöse Fanatikerin beherrscht sie eine unschickliche, bilderreiche Sprache verstörend gut.

Jetzt ist sie bei mir. Ich konzentriere mich, suche bei ihr nach einer Schusswaffe, finde keine, nicht in ihrer Tasche oder ihrem Bund. Sie ist ein solider Brecher von Frau, braucht also keine Waffen. Das wird schlimm werden, viel schlimmer, als ich dachte. Als sie sich zum Bildschirm runterbeugt, zücke ich blitzschnell das Stromkabel, das ich hinter dem Rücken verborgen halte, und schlinge es ihr um den Hals. Überrascht richtet sie sich auf und taumelt ein paar Schritte rückwärts. Aber ich bin vorbereitet. Seit einer Stunde lauere ich auf diesen Moment und bin agiler, springe schnell auf die Füße und greife das andere Ende des Kabels, ziehe es fest um ihren Hals zusammen.

Ich höre Neds Hand an die Ketten schlagen, seine Finger verkrampfen sich um die Eisenglieder.

Das Laptop steht offen, der Bildschirm taucht uns in fahles, ödes Licht. Helga ist einen Kopf größer als ich, und wenn sie sich ganz aufrichtet, hebt es mich von den Füßen. Ich habe sie sicher im Griff und ziehe noch mehr zu. Das Kabel schneidet tief in ihren Kehlkopf. In Filmen sieht das viel leichter aus. Ihr ist klar geworden, dass sie mich nicht abschütteln kann, also wirft sie sich rückwärts gegen die Wand. Eine unglückliche und unerwartete Wendung im Lauf der Dinge.

Mein Rückgrat knirscht, als sie mich nach hinten schmettert und versucht, mich zwischen ihrem schwitzenden Rücken und dem Beton zu zerquetschen. Aber ich lasse nicht los, denn ich begreife, wer lebt und wer stirbt, hängt davon ab, wer seine Waffe nicht loslässt.

»Allison! Allison, nein!«

Ich höre Ned wild schreien und an der Kettenwand rütteln. Seine Stimme wird leiser, als ich fühle, wie meine Lunge nicht mehr arbeitet, weil Helga mich so hart gegen die Wand drückt. Meine Sicht trübt sich, verschwimmt, und ich bekomme keine Luft mehr. Aber ich stelle mir meine Mom vor, den Notizzettel und ihr Gesicht. Ihre Stimme treibt mich an, sagt mir, nicht aufzugeben.

Das harte Plastikkabel rutscht in meinen Händen, aber nicht von ihrem Schweiß. Da ist etwas Glitschigeres auf dem Kabel, das mir über die Finger läuft. Ich lasse nicht los, lockere meinen Griff für keine Sekunde. Ich ziehe fester, die letzte Luft in meinen Lungen entweicht mit einem langen Schrei, als ich meine Fingernägel tief in meinen Handflächen spüre. Helga macht ein schreckliches Geräusch, gurgelt und grunzt und schlägt um sich. Sie ist schweißbedeckt, und ich registriere mein klitschnasses T-Shirt. Alles tut weh, meine Brust schmerzt, als hätte ich Runde um Runde im Boxring zugebracht. Mein Herz und meine Lungen werden jede Sekunde explodieren, und wenn ich nicht einen Zug Luft bekomme, nur einen, sterbe ich. Neds Stimme wird schriller und schriller, und die Ketten rasseln und rasseln … Wenn das Kabel nur nicht so glitschig wäre, wenn ich nur atmen könnte, wenn meine Augen nur noch eine Sekunde durchhalten würden …

Plötzlich wird alles schlaff und dunkel, und ich taumele vorwärts. Ich weiß nicht, ob ich tot oder lebendig bin, ob Helga gewonnen oder endlich aufgegeben hat. Ich schlage hart am Boden auf, mein Ellenbogen summt wie von hundert Nadelstichen, als er auf dem Beton aufprallt. Vielleicht ist mein Arm gebrochen, vielleicht ist mir die Luft ausgegangen …

Als ich aufwache, tut mein Arm weh, und mein Kopf fühlt sich an, als sei er wieder aufgeplatzt. Ich höre jemanden leise weinen, schluchzen.

»Ugh.«

»Gott!« Ned schreit fast. »Scheiße! Gottverdammt, du bist am Leben! Verdammt, Allison, bitte nicht, oh Scheiße … Gott … Ich dachte, du wärst tot.«

»Wie lange war ich weg?«

»Vielleicht zwei Minuten.«

Ich setze mich langsam auf und schiebe das Laptop herum, bis ich sehen kann, was da an meinen Händen ist. Literweise Blut. Helga liegt ein Stück weiter weg am Boden, das Gesicht nach unten, das Computerkabel immer noch um ihren Hals gewickelt. Ich stoße sie mit dem Fuß an, bis sie auf den Rücken rollt, und sehe, dass sich das Plastik tief in ihre Haut gegraben hat. Ich wische meine Hände an ihrem verschwitzten Hemd ab und nehme mir einen Moment, um mich zu stabilisieren. Meine Brust schmerzt noch immer, aber es dringt Luft in meine Lungen, mein Puls beginnt sich zu beruhigen.

»Ich kann es nicht glauben.«

»Kein Scheiß«, sage ich und erhebe mich auf meine wackligen Beine. Wir müssen schnell machen, bevor jemand kommt und nach Helga sieht. Ich packe das Laptop zusammen und wische das Kabel an ihrer Jeans ab. Dann nehme ich die Schlüssel, gehe hinaus und schließe das Vorhängeschloss bei Ned auf. Seine hellen blauen Augen begegnen mir an der Tür. Meine Hände wollen nicht aufhören zu zittern.

Ned nimmt mich in die Arme, und wir drücken uns für eine lange Minute, sein großer Körper zittert ebenso wie meiner.

»Lass uns deine Kinder holen«, flüstere ich dann, und gemeinsam verziehen wir uns in die Schatten, Helgas Taschenlampe in der einen Hand und den Ring schwerer Schlüssel in der anderen.

210341.jpgKOMMENTARE

Isaac:

28. Oktober 2009 11:07 Uhr

Ja! Ich wusste, da kommt noch was.

Allison:

28. Oktober 2009 11:45 Uhr

Entschuldigung für die Verzögerung. Es hat eine Weile gedauert, den ganzen Scheiß einzutippen.

Isaac:

28. Oktober 2009 12:09 Uhr

Dann schreib jetzt weiter … und schneller!

Andrew N:

28. Oktober 2009 12:17 Uhr

Kein Wort mehr von Elizabeth? Der Ozean war eine gute Zuflucht, aber jetzt laufen wir einen Hafen an, vielleicht für immer. Ich habe Angst vor der Kälte, aber noch mehr Angst, auf dem Boot zu verhungern. Wenn wir Glück haben, können wir die Verrückten, die sich in den Wäldern verstecken, ebenso umgehen wie die Horden, die in den Städten umherirren. Ich wünschte, ich könnte versprechen, in Verbindung zu bleiben, Allison, aber ich fürchte, wir verschwinden von der Bildfläche. Wenn ich an dich denke, stelle ich mir vor, dass du deine Mom gefunden hast und ihr zwei gesund und in Sicherheit seid.

Allison:

28. Oktober 2009 13:52 Uhr

Andrew, ich bin froh zu hören, dass du noch dabei bist. Sei vorsichtig, besonders mit diesen Irren. Ernsthaft, sie sind nicht gut. Ich hatte gehofft, du und Elizabeth könntet euch treffen, aber wenigstens bist du nicht gestrandet. Melde dich, wenn du kannst, vielleicht erwischen wir uns, wenn die Lage sich etwas beruhigt hat.