9. OKTOBER 2009 – SPUK

»Ein neuer Tag im Paradies«, lässt Ted frisch, fröhlich und putzmunter verlauten, lange bevor ich auch nur die leichteste Neigung verspüre, meine Augen zu öffnen. »Soll ich uns ein Frühstück organisieren?«

»Geh nur, ich hab noch keinen Hunger.«

»Okay, aber wenn ich wiederkomme, bist du noch hier. Wehe, du gehst auf die Jagd nach deiner Mom oder lässt mich hier sitzen und verpisst dich nach Liberty Village. Es gibt hier richtige Waffeln, Allison. Waffeln. Bedenke das.«

Absurderweise nennen alle diesen Unterschlupf »das Village«. Sicher, hier ist es ganz okay, aber es ist eben nicht Liberty Village, jener Ort – davon bin ich mittlerweile überzeugt –, an dem ich eigentlich sein sollte.

Die Zeltgrößen variieren von winzig bis zu extravaganten, mehrere Familien fassenden Monstrositäten, die aussehen wie kleine Zirkuszelte. Den hier herrschenden Komfort hätte ich mir nicht mal in einer Wohnung vorstellen können. Wasser aus dem See, Wasserkocher, Verbandszeug und antiseptische Lösung, Q-tips, Kühlschränke, Eispackungen und Tampons … Das Leben wird deutlich einfacher mit solchen Dingen. Man weiß nicht, wie fundamental Q-tips und Tampons dem eigenen Wohlbefinden förderlich sind, bis man ohne sie unterwegs ist. Die Erkenntnis, einfach aufwachen und mir die Ohren sauber machen zu können, kommt einer Erlösung gleich.

Das Village ist grob in zwei Bereiche aufgeteilt: den der Gemahlinnen der Schwarzen Erde und den aller anderen. Ted und ich haben nicht lange gebraucht, um diese Teilung wahrzunehmen. Die Gemahlinnen haben die Neigung, ihre grundlegende Andersartigkeit deutlich zur Schau zu stellen. Das machen sie nicht mit alternativer Musik oder Tätowierungen, sondern ausschließlich mit ihrer Religion. Ted und ich sind nicht sicher, welcher Konfession sie angehören, aber es muss eine äußerst dogmatische sein. Jeden Morgen, pünktlich um neun, geht ein Klemmbrett mit Unterschriftenliste von Zelt zu Zelt. Zweck dieser Liste ist es, Namen für die folgende Gebetsstunde zu sammeln. Die Gemahlinnen der schwarzen Erde versammeln sich zu einem Kreis im Zentrum ihrer Zelte, halten sich an den Händen und beten. Jedem Namen auf der Liste wird ein Moment gewidmet, in dem für diese Seele oder um ihre sichere Reise gebeten wird.

Die Gemahlinnen sind bis auf unsere Seite des Village vorgedrungen, hauptsächlich über die Kinderbetreuung. Es gibt eine Hand voll alleinstehender Mütter und Väter, die ihren Ehemann oder ihre Ehefrau, ihren Freund oder Partner im Chaos verloren haben und nun ein oder mehrere Kinder allein versorgen müssen. Ich finde es interessant, die stetigen Fortschritte der Gemahlinnen bei der Infiltration unserer Hälfte des Areals zu beobachten, indem sie beharrlich durch die Zeltlücken schlüpfen. Sie picken sich ihre Frauen und Männer heraus, die benommen dasitzen, mit glasigem Blick, getrübt von ebenso frischem wie grundsätzlichem Argwohn gegenüber der Welt.

Collin hat mich heute herumgeführt, mich jenen Familien vorgestellt, die er am besten kennt, und ihnen erzählt, dass ich geholfen habe, den »verdammten Abschaum« loszuwerden. Er wirkt ehrerbietig und autoritär zugleich, keine ganz einfache Mischung, aber eine, mit der er sich auf Anhieb und mühelos bei jedem denkbaren Publikum beliebt macht. Zuerst gefiel mir das Vorgestelltwerden, aber dann wurde es schnell ermüdend und redundant. Ich bin keine Heldin, und es fühlt sich heuchlerisch an, ständig für einen jähzornigen Akt grausamer Rache gelobt zu werden. Also zwinge ich mich für jedes neue Gesicht zu einem Lächeln und schüttle die Hände und höre mir die Geschichten der Menschen an. Sie danken mir dafür, Zack losgeworden zu sein, und ich beuge scheu den Kopf und versuche, nicht an sein Gesicht im Todeskampf zu denken und an seine rohen, blutigen Stümpfe im toten Gras.

Die Gemahlinnen suchen wir ganz zum Schluss auf. Ich frage, warum sie so viele sind, wo sie herkommen und warum sie allein sind. Unwillkürlich denke ich, wenn meine Mutter hier wäre, würde sie sich ganz bestimmt mit möglichst großem Abstand von diesen Frauen fernhalten.

»Ich habe inzwischen den Eindruck, all dies hat irgendwo außerhalb der Stadt begonnen. Die Vorstädte gingen zuerst unter, weshalb die Stadt so schnell überrannt werden konnte«, erklärt Collin. Er geht nirgendwo ohne Schusswaffe hin, aber das scheint hier niemanden zu stören. Sie alle akzeptieren ihn als ihren Führer und Beschützer. Heute ist es eine Glock, die hinten in seiner Militärhose steckt. Collin grüßt jeden mit Namen.

»Schwarze Erde hat es besonders schwer getroffen«, berichtet mir Collin. »Die Bewohner von einem Haus nach dem anderen begriffen, dass sie etwas tun mussten. Sie waren viele Familien mit vielen Kindern und beschlossen, alle Kinder zusammen in einem Lieferwagen zu verstauen und rauszubringen. Die Väter, alles begeisterte Jäger, wollten sich dem Ansturm entgegenstellen. Es hat nicht geklappt. Sie waren zahlenmäßig weit unterlegen, und die Männer gingen allesamt unter, ›kämpfend wie Engel des Herrn‹, wie ihre Frauen jedem erzählen.«

»Und der Lieferwagen?«, frage ich, obwohl ich es schon weiß.

»Sie kamen daran vorbei, als sie in die Stadt flohen. Er lag auf dem Dach in einem Graben. Leer.«

Es überrascht mich nicht, wie ihre Geschichte gelaufen ist. Dies ist das Land des Jagens, des Fischens, das Land der Farmen und Harley Davidsons. Ich habe mich dieser Seite unseres Staates nie besonders verbunden gefühlt, aber ich kann nicht umhin, mit ihnen zu fühlen, wenn ich bedenke, mit welcher Verve sie sich zu verteidigen versucht haben. Wir überqueren den dünnen, kahlen Streifen Boden, der die Gemahlinnen von den anderen trennt. Eine Menge Leute ignorieren die Gemahlinnen oder lehnen sie ganz offen ab. Sie spüren, was ja auch stimmt, dass die Gemahlinnen stolz auf ihr Dasein sind, wahrscheinlich ein bisschen wahnsinnig, durch die schrecklichen Verluste, die sie ertragen mussten, und in der Folge jetzt der extremsten Form der Mildtätigkeit verfallen. Ich habe gehört, wie Kinder ermahnt wurden, sich von ihrer Seite des Lagers fernzuhalten. Manche haben ihre Zelte mit Bedacht so weit weg wie möglich von denen der Gemahlinnen aufgestellt.

Das alles kommt mir vor wie in der West Side Story, nur ohne die ganze Tanzerei.

Die Zelte der Gemahlinnen stehen alle in einem Ring, die Eingänge auf den Mittelpunkt gerichtet. Dort haben sie kein großes Lagerfeuer aufgeschichtet, sondern ein Kreuz aus Dachlatten und Klebeband errichtet. Alles wirkt wie eine Wagenburg, die von einem großen, verheißungsvollen Kreuz bewacht wird. Hohl und leer kommen sie eine nach der anderen aus den Zelten, als hätte sie ein lautloser Gong zusammengerufen.

Heute jedoch wirken die Gemahlinnen geschäftig und aufgeregt. Eine neue Familie ist angekommen, die Stocktons. Sie sind nicht von der Schwarzen Erde, aber das macht nichts. Jede Familie ist hochwillkommen und wird eingeladen, bei den Frauen zu leben. Normalerweise blitzen die Gemahlinnen ab, aber die Stocktons scheinen nicht abgeneigt, so lauten die Gerüchte. Ich kann mich nicht erinnern, ihnen bislang begegnet zu sein.

»Sie sind im Lazarettzelt«, murmelt Collin, »der Vater hat ein paar leichte Verletzungen, vielleicht einen verstauchten Knöchel. Ich stelle Sie später vor.«

Aber zuerst muss ich die Gemahlinnen kennenlernen – eine einschüchternde Erfahrung, ein bisschen wie mit dem Fallschirm mitten in Stepford landen und von allen Seiten mit Fragen und Schulterklopfen bombardiert werden. Collin (der hier in erster Linie Mr Crane ist) erzählt ihnen, natürlich, von meiner aufopfernden Großtat, der Bezwingung des bösen Zack. Von allen Villagebewohnern sind sie am meisten beeindruckt, am dankbarsten und ehrfürchtigsten. Sie starren mich an, als wäre ich gekommen, um ihnen das Blut Christi zu bringen, die Münder zu großen, bewundernden Os geformt. Ihre Reaktion auf mich macht mir am meisten Angst.

»Gott segne Sie, Gott segne Sie für die Vernichtung dieser … Ratte.«

»Gott wird mit Ihnen sein. Er muss es. Er muss es.«

Und so geht es in einem fort. Ich versuche mich in Demut, versuche auszusehen wie die gemarterte Heldin, die sie erwarten. Aber es fühlt sich nicht echt an. Collin bemerkt mein Unbehagen und bugsiert mich von der Gruppe weg, führt mich zu einer Gemahlin, die abseits sitzt. Die Hände sittsam im Schoß gefaltet, thront sie auf einer leeren Plastikkiste. Sie trägt ein gemustertes Baumwollkleid und einen weiten blauen Sweater mit gestickten Gänseblümchen am Kragen. Ihre rote Dauerwelle ist stumpf und fettig. Als sie zu uns aufblickt, sehe ich einen breiten Streifen Blut auf der Brust ihres Sweaters.

»Marianne? Das ist Allison.«

Weder streckt sie die Hand aus noch zeigt sie, dass sie mich wahrnimmt. Ihre Augen blicken direkt durch meinen Körper hindurch, durch meine Adern und Knochen, und ich kann die stählerne Kälte fühlen. Zunächst denke ich, das war’s, jetzt führt Collin mich wieder von diesem Phantom weg, diesem Geist, doch plötzlich erwachen ihre Augen zum Leben, und ihre aufgesprungenen Lippen öffnen sich.

»Mein Sohn«, sagt sie wimmernd und schwer atmend, als hätte sie gerade begriffen, dass er verloren ist. »Mein Sohn … Mein Sohn hat mein kleines Mädchen gegessen. Mein Sohn hat mein kleines Mädchen gegessen!«

Sie wiederholt es wieder und wieder, die Stimme schwillt, bis sie mich aus voller Lunge anschreit.

»MEIN SOHN HAT MEIN KLEINES MÄDCHEN GEGESSEN

Endlich zieht Collin mich fort. Er wirft noch einen auffordernden Blick auf die anderen Gemahlinnen, die sich beeilen, zu Marianne zu hasten und sich um sie zu kümmern. Sie umfangen sie mit einem Knäuel aus Armen, wiegen sie und glucken sanft dazu wie eine Herde riesiger Hennen, die Köpfe geneigt, um mit der Stirn ihr Gesicht zu berühren. Marianne verschwindet zwischen ihnen, zum Schweigen gebracht, selbstverloren in dem Meer plötzlicher und überwältigender Fürsorge.

»Heilige Scheiße«, murmele ich, schüttle den Kopf und versuche das schmerzhafte Klingeln in meinen Ohren loszuwerden. Collin nickt.

»Marianne ist … Na ja, ich denke, sie ist verloren. Es gibt noch ein paar Leute wie sie hier, aber sie ist am schlimmsten dran. Ich habe Susan über sie ausgefragt. Sie erzählte mir, dass Mariannes Haus das erste war und sie zusehen musste, wie ihr Sohn … na ja … Sie haben es ja gehört.«

Das habe ich. Es ist schwer, diesen Klang aus meinem Kopf zu vertreiben, und wenn ich blinzele, erscheinen diese von Entsetzen gezeichneten Augen. Sie sehen aus wie Hollys – leer, untergegangen.

Collin führt mich weg von dem Areal und einen langen, schmalen Gang hinunter. Wir treten hinaus in einen feinen Oktobernebel. Es ist frisch hier draußen, doch zum Glück gibt es jetzt auch jede Menge zusätzlicher Kleidung. Die Gemahlinnen waren fleißig beim Nähen von Decken und der Umarbeitung von Universitätsuniformen in dicke Patchworkpullis. Die sind nicht sonderlich warm, schützen aber vor dem Wind. Sobald wir draußen sind, vernehme ich Gewehrfeuer. Ich gewöhne mich allmählich daran, jedes Mal Schüsse zu hören, wenn ich mich unter freiem Himmel befinde.

Die fahle Sonne hinter den Wolken und ihr neckender Hauch von Wärme lassen etwas Nebel am Horizont aufsteigen. Was hinter der nahen Abgrenzung der Sportarena liegt, erscheint grau. Man kann gerade noch die Andeutung von Tennisplätzen und einem Weg erkennen, ein paar Meter davor einen geparkten Lastwagen und einen Mann, der dahinter Wache steht. In der Luft schwebt Asche und der fremde, salzige Geruch von Wärme, die vom Boden aufsteigt. Letzte Nacht hat es geregnet, aber nun ist die Erde fast wieder trocken.

Glücklicherweise handelt es sich bei dem Geknalle um Übungsschießen. Collin und sein rotschopfiger Neffe Finn haben einen Schießstand aufgebaut und beschlossen, Ted und mich in Soldaten zu verwandeln. Doch Ted ist noch im Lazarettzelt. Er scheint weit mehr daran interessiert, wie man Wunden näht und Knochen richtet, als mit mir Zielübungen zu machen.

»Wo kommen die alle her?«, frage ich und deute auf eines der Gewehre, das Collin gerade auf einen weit entfernten Stapel Holzkisten richtet. Er wirkt ganz anders mit einem feuerbereiten Gewehr im Anschlag – zurückgezogen, ernüchtert. Sein Gesicht wirkt immer noch freundlich gefurcht, seine Augen leuchten, doch was von seinem Inneren ausgeht, lässt mich schaudern. Die vielen Waffen werfen Fragen auf, die man besser nicht stellt. Es ist egal, wo die Waffen herkommen. Hauptsache, es gibt hier Leute, die wissen, wie man damit umgeht.

»Die Polizei … Sie ist nicht ausgebildet für Situationen wie diese. Vielleicht in New York oder Chicago, wo sie Erfahrungen mit Aufständischen hat, Bandenkriminalität … Aber hierauf war sie nicht vorbereitet. Es macht einen Unterschied, ob man unter Druck kühles Blut bewahrt oder sich intelligent verhält«, erklärt Collin.

Er muss gegen das Knallen von Schüssen immun sein, denn er zwinkert kaum, als er den Abzug durchzieht und eine Garbe krachend den Lauf verlässt. Ich hingegen bin nicht gewöhnt an dieses Geräusch und empfinde es jedes Mal als ohrenbetäubend und beängstigend.

»Sie wollten die Bürger in dieses Stadion bringen, um eine sichere Basis zu haben und einen zentralen Anlaufpunkt für Überlebende zu schaffen. Das war ein guter Schritt, eine gute Idee. Aber dann haben sie die verdammte Barrikade gleich da vorn errichtet, genau auf der Hauptverkehrsader. Ich bin sicher, sie dachten, eine Wand würde die Untoten aufhalten. Auf eine Art hatten sie damit recht, aber sie hielt auch die Überlebenden auf. Ich weiß nicht, ob Sie es sich vorstellen können, aber wenn sich Zivilisten in Panik zwischen einer Wand auf der einen und den Untoten auf der anderen Seite befinden … Hinzu kam das Problem, dass es dreimal so viele Untote waren wie vorher. Die Barrikade brach zusammen, und die Basis war zum Teufel.«

»Die Polizei ist also abgehauen? Sie haben diese Leute einfach zum Sterben hiergelassen?«

»Nein«, sagt er und senkt das Gewehr, »sie sind auch gestorben.«

»Also, die kugelsicheren Westen, der Geländewagen und die Gewehre … das gehörte alles den Cops?«, frage ich.

Collin nickt, lädt langsam das Gewehr nach, so, dass ich zusehen kann, und reicht es mir. Er scheint zu seinem früheren Selbst zurückgekehrt zu sein, dem Mann mit dem wissenden Lehrerlächeln und dem forschenden Blick. Das Gewehr ist warm von seinem Griff.

»Finn hat bei der Royal Air Force gedient, so wie ich. Es war eine Familientradition. Ich habe meine Uniformen aufgehoben, keine Ahnung wofür, Sentimentalität, als Erinnerungsstücke an meine Zeit als junger Mann. Die Uniformen sind nur für den Seelenfrieden, zur Schau«, sagt er. »Wenn man einen Haufen verängstigter Leute hat, der verzweifelt um Hilfe ruft, trägt nichts besser zur Errichtung einer Ordnung bei wie Uniformen und Sturmgewehre. Wenn man erst das Kommando hat, kann man Expeditionen zu den Ecken mit Marktplätzen organisieren, zu den Bücherhallen, den Apotheken und Krankenhäusern, und wenn erst mal Versorgung bereitsteht, hat man glückliche Leute.«

»Sie haben das alles alleine gemacht?«

»Finn hat geholfen.«

»Richtig … aber Sie haben es alleine gemacht?«

»Natürlich«, sagt er und tippt mir auf den Ellenbogen. Er ist ungeduldig. Er glaubt, ich würde einen guten Soldaten abgeben, wenn es mir gelänge zu schießen, ohne mich jedes Mal zu verkrampfen, bevor ich den Abzug betätige. Ich kann nichts dagegen machen. Ich weiß, der Knall kommt, die Explosion. »In solchen Situationen denkt man nicht, Allison, man handelt. Ich glaube, Sie wissen das schon.«

»Aber Sie sind so … so ruhig. Wie machen Sie das? Wie schaffen Sie es, nicht vollständig durchzudrehen?«

»Festhalten«, sagt er, und drückt mir fest die Arme hoch, bis der Lauf auf den Platz vor uns gerichtet ist. »Haben Sie jemanden verloren? Mehr als einen Menschen?«

»Meine Mutter«, stammele ich, kalt erwischt. »Ich weiß es nicht … ich weiß nicht, wo sie ist. Wir waren verabredet, uns zu treffen, aber sie ist nicht aufgetaucht.«

»Verstehe. Ich habe meine Frau verloren. Ich weiß auch nicht, wo sie ist, aber ich ahne es. Ich bin nicht unbesiegbar, Allison. Ich tue nur mein Bestes. Und wirklich, mehr verlange ich nicht von Ihnen.«

Die Zielübungen verlaufen schlecht. Ich kann mich nicht konzentrieren und denke ständig an meine Mom. Ich hätte Collin nichts von ihr erzählen, sondern einfach den Mund halten sollen.

Ted kommt erst sehr spät zurück. Er hat sich um die Stocktons gekümmert. Er mag sie wirklich, besonders ihre beiden kleinen Söhne. Dapper war meine einzige Gesellschaft, während ich auf Ted gewartet habe. Und selbst der Hund interessiert sich nicht für meine trübe Stimmung. Als Ted endlich da ist, schläft er sofort ein, erschöpft von der harten Arbeit des Tages. Ich möchte, dass er wach bleibt. Ich will erzählen und Witze machen, ihm berichten, dass ich am Gewehr völlig unbrauchbar bin, und ihn lachen hören, wenn ich ihm erkläre, dass Collin mich für eine hysterische Tussi hält. Teds unbezähmbares Haar hat inzwischen so ziemlich sein gesamtes Gesicht kolonisiert, einschließlich der Brillengläser, und er ist gezwungen, es ständig aus dem Gesicht zu wischen, damit er überhaupt sieht, wo er hintritt. Als er sich in seinen Schlafsack fallen lässt, breitet sich sein Haar um seinen Kopf aus wie eine Hand voll Dolche.

Collin hat mich zu einem Drink eingeladen. Finn soll dabei sein, denn Collin möchte, dass sein Neffe sich entschuldigt. Ich bin sicher, er will, dass wir alle gut klarkommen. Diese Phrase benutzt er gern, »klarkommen«. Ich habe ihm höflich abgesagt und Müdigkeit vorgeschoben.

Jetzt wünsche ich mir, ich hätte die Einladung angenommen, weil ich hier sitze und lese, was ihr alle geschrieben habt. Ihr seid am Leben. Ein paar von euch tun mehr, als sich nur um ihr eigenes Überleben zu kümmern, und ich kann mir ihre Verachtung für jemanden wie mich gut vorstellen. Jemand, der nichts tun kann, außer rumzusitzen, sich selbst zu bemitleiden und seinen schlafenden Raumgenossen anzustarren. Ich sollte nicht so allein sein, sondern mit Collin und seinem Neffen Whiskey trinken. Ich sollte mir erlauben zu leben.

Doch jedes Mal, wenn ich über Collin nachdenke, seine Stimme und wie ich im Radio von ihr gefesselt war aus Sehnsucht nach Führung und Frieden, kommt mir automatisch Zack in den Sinn. Nach diesem katastrophalen Missgriff, wie kann ich da meinem Urteil noch trauen? Wie kann ich mir selbst trauen?

Morgen möchte Collin, dass ich die Stocktons kennenlerne. Eine sehr nette Familie, sagt er. Eine echte, vollständige Familie.

Mom, ich vermisse dich. Wenn du dies liest: Ich vermisse dich.

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Reverend Brown:

9. Oktober 2009 18:45 Uhr

Wir Überlebenden kennen deine Seele, Allison. Ich habe im Kingdom House hier in Atlanta laut vorgelesen, was du geschrieben hast. Und es war mein Jamal, gerade mal neun, der mir beide Lösungen für dein moralisches Problem offenbart hat.

Allison, du kannst nicht wissen, ob das, was du getan hast, eine Sünde war. Du weißt, du hattest einen guten Grund, und du suchtest rechtschaffen Vergeltung. Dein Vorgehen mag in Richtung Böswilligkeit gegangen sein – deine Seele könnte beschmutzt sein von einem Fleck purer, grausamer Rache –, aber Gott hat nicht befohlen, dass wir unseren Feinden vergeben müssen. Unser Herr Jesus Christus hat verlangt, wir sollten andere so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Und ich weiß, so wie ich Seinen Geist in deinen Worten wirken höre. Sein Wort wird dich bewegen. Wenn du die Vorräte einer Gemeinschaft gestohlen hättest, würdest du verlangen, dass man dir die Hände abschlägt, so wie unsere Vorfahren es von Dieben verlangten.

Es ist alles das Werk des Herrn.

Logan:

9. Oktober 2009 19:09 Uhr

Ich brauchte einige Zeit, bis ich ein funktionierendes Netzwerk fand. Ich benutze SNet, du auch? Ich hab solche Sachen mal für selbstverständlich gehalten. Hier in Colorado, wo ich bin, gab es sogar Warnungen. Ein paar spärliche Nachrichten, bevor sie kamen. Die meisten von uns haben einfach mit ihrem täglichen Trott weitergemacht, aber ein paar … Manche wussten, dass es nicht aufhören und auch uns erwischen würde.

Wir, also ich und ein paar andere aus der Gegend, wo ich arbeite, haben die zwei Wochen Vorwarnung genutzt und uns vorbereitet. Na ja, wir dachten das zumindest. Rückblickend gab es nicht viel, was wir hätten tun können, um tatsächlich auf das vorbereitet zu sein, was dann kam. Ein paar von uns wurden von der Polizei eingesperrt, weil sie gestohlen hatten, bevor die Infizierten … persönlich auftauchten. Keine Ahnung, was mit ihnen passiert ist. Aber man braucht ja bloß einen Blick aus dem Fenster werfen, was? Es ist nicht so schrecklich schwer zu erraten. Ich schätze, das Militär hat mir Dinge beigebracht, von denen ich bisher gar nichts wusste. Überleben ist kein Grundrecht, sondern mehr etwas, das man sich verdienen muss. Tatsächlich Survival of the fittest.

Gott oder nicht, mach weiter im aufrechten Kampf. Es gibt noch andere, und wir WERDEN das irgendwie »handhaben«, selbst wenn es bedeutet, jedem Einzelnen von denen ein 9-mm-Geschoss, die Klinge eines Schwertes oder eine Axt zwischen die Augen zu verpassen.

Matthew H:

9. Oktober 2009 19:36 Uhr

Liebe Allison,

deine Worte geben uns so viel Hoffnung. Schon allein zu wissen, dass es andere gibt, die es geschafft haben, ist so ermutigend. Es tut mir sehr leid, von deinen Freunden zu hören, die von uns gegangen sind. Wir hier haben auch alle geliebte Menschen verloren.

Wir sind gestern zufällig mit unserem Blackberry-Smartphone auf deinen Blog gestoßen (wir haben ein Ladegerät [!], eine funktionierende Steckdose gleich vor der Tür [!!] und eine Satelliten-Internetverbindung, die noch läuft, bis jetzt – ich frage mich, wie lange noch?). Wir sind zu viert und hausen in einer Kirche, in einer Ladenzeile im nördlichen Las Vegas. Du schreibst von der »Verachtung«, die wir für dich empfinden müssten. Allison, nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Du hast uns in das Netzwerk der Lebenden geführt – das schafft Hoffnung, keine Abneigung. Bitte mach weiter, halte uns auf dem Laufenden. Wir bleiben in Verbindung. Wir sind so dankbar, dass so viele von euch am Leben sind.

Frieden,

Matthew, Caroline, Jamie, Gideon