30. OKTOBER 2009 – HÄUSLICHKEIT

Vielleicht bin ich ja egoistisch oder rücksichtslos oder beides, aber ehrlich gesagt, damit kann ich leben.

Ted und Renny schlafen fest, als ich aufstehe. Dapper ebenfalls, aber er erhebt keine Einwände, als ich ihn wachrüttele, um mich zu begleiten. Es ist noch früh, nur ein paar Stunden nach dem Zubettgehen, und ich habe nicht viel geschlafen. Und dabei wie immer meine Sachen anbehalten. Es gibt nicht viel mitzunehmen, und es scheint mir nicht recht, mich aus den Vorräten zu versorgen. Also nehme ich nur meine Axt, meine Laptoptasche und ein paar Müsliriegel mit. Ich finde schon noch Vorräte zum Plündern und Klauen. Die anderen hier werden ohne mich nicht viel schlechter dastehen. Sie haben ja Captain Kommando und Ned »Trifft-auf-dreißig-Meter-einen-gespaltenen-Zahnstocher« Stockton. Ich hingegen bin verletzt und eine lausige Schützin.

Ich dehne mich und mache ein paar vorsichtige Hampelmann-Hüpfer auf dem knirschenden, frostigen Boden. Ich habe mich an das Gefühl ständiger Unterkühlung gewöhnt, an das Leben mit dem permanenten Hungergefühl im verkrampften Magen. Ich führe das Leben so ziemlich jeder Dickens-Figur, die mir einfällt. Dapper sitzt da und kratzt sich am Ohr, ungestört von meiner Morgengymnastik und völlig ahnungslos, dass er bald keine Häppchen mehr aus Evans kleiner Hand bekommen oder Teds Hände ablecken wird, nachdem der eine Tüte Käsecracker verspeist hat.

Ich gebe mir Mühe, nicht an diese Dinge zu denken, und versuche zu vergessen, dass es keinen Ted, keinen Collin und keine Wadenbeißer mehr geben wird, sobald ich den Hügel hinunter und ein, zwei Häuser weiter bin. Ich kann Ted nicht sagen, dass ich abhaue. Er weiß von Liberty Village, und er würde versuchen, mir zu folgen. Das darf ich nicht zulassen. Es ist traurig, sicher, aber Traurigkeit und Hunger lassen sich so früh an diesem Morgen schwer vertreiben. Das steife Gras knirscht laut, als ich nach einem letzten tiefen Luftholen den Hügel hinunterwandere. Dem Sonnenaufgang nach zu schließen müsste ich ungefähr Richtung Osten marschieren. An diesem Morgen gibt es keine Zebras im Morgendunst, keine Löwen oder Giraffen und keine Menschen, die mich aufhalten.

Bevor ich mich nach Colorado aufmache, muss ich sicher sein, ganz sicher, dass meine Mom wirklich weg ist. Es fühlt sich nicht richtig an, sich auf die Reise zu begeben, bevor ich mein Zuhause überprüft habe. Sie könnte immer noch da sein und auf mich warten.

Ich habe die Handtasche meiner Mutter schon lange verloren. Sie wurde in den Feuern der Arena vernichtet, aber das spielt keine Rolle. Ich kenne die Notiz auswendig und werde sie nie vergessen.

Da erschallt ein Zick-krach in der Ferne, Finns Scharfschützengewehr. Ich weiß, dass er es ist, denn er liebt diese Knarre, und Collin verwendet gewöhnlich ein Sturmgewehr, das eher wie rat-ki-tat klingt. Finn muss irgendwann heute Nacht Collin bei der Wache abgelöst haben. Ich lege einen Schritt zu und haste in Richtung einer Baumgruppe am Fuß des Hügels. Sollte Finn mich für einen Untoten halten, wird mein kleines Abenteuer von sehr kurzer Dauer sein. Ich schaffe es zu den Bäumen, mein Herz wummert, die Lungen platzen fast vom Schmerz meiner geprellten Rippen. Hoffentlich bin ich nicht ernstlich verletzt und die Prellung oder der Bruch verheilen von selbst und ich verblute nicht still und leise innerlich an irgendeiner schrecklichen Wunde.

Dapper bleibt dicht bei mir. Seine Nase klebt mehr oder weniger an meiner Kniekehle, während ich langsamer werde und auf die Straße zugehe. Tatsächlich habe ich eine Strecke zwischen mich und das Lager gebracht, und jetzt umzudrehen würde eine weitere unangenehme Aussprache mit der Gruppe zur Folge haben. Ich werde nicht umkehren. Werd ich nicht.

Ich weiß nicht, ob sie ahnen, wo ich hingehe. Es würde nichts ändern. Niemand weiß, wie man dorthin kommt. Ich überquere das, was mal die Wingra Street gewesen sein muss, und wende mich nach Süden in Richtung Erin Street. Fürs Erste muss ich raten, denn die meisten signifikanten Gebäude des Viertels sind ausgebrannt. Die meisten Reihen- und Hochhäuser bestehen nur noch aus verkohlten, leeren Gerippen, die aus zerbrochenen Fenstern auf die verlassenen Straßen herunterstarren und über zerschmetterte Briefkästen und Autowracks wachen.

Die Straßen sind still, bis ich zur Orchard Street komme, wo mir auf der rechten Seite eine Gruppe Stöhner entgegenkommt. Es sind drei an der Zahl und sie bewegen sich in diesen unkoordinierten Krämpfen mit verzweifelter Geschwindigkeit, die mir verrät, dass sie am Verhungern sind. Glücklicherweise bedeutet das auch, dass sie schwach und unbeholfen und zu abgelenkt von ihrem Hungertrieb sein dürften, um eine wirkliche Bedrohung zu sein. Und es stört mich nicht. Nicht mehr. Ich kann mir mühelos vorstellen, was ein Psychologe dazu sagen würde. Ich empfinde nur noch einen schwachen Hauch von Abscheu, wenn ich mir einen verwesenden Menschen ansehe, eine Person, die auf rohes Fleisch, offene Eingeweide und Knochen reduziert ist.

Glücklicherweise hat Dapper einen unbekannten Anteil deutscher Schäferhund in sich. Das macht ihn empfänglich für Befehle. Ich habe ihm beigebracht, zu sitzen und seinen Platz nicht zu verlassen, und das tut er. Als ich die Axt hochnehme, um mich den drei Stöhnern zu widmen, wedelt er vor Begeisterung und Frustration heftig mit der Rute. Er will helfen, mich verteidigen, aber wenn er auch nur an einem von ihnen leckt, habe ich einen guten Hund und treuen Kameraden weniger.

Anschließend bin ich völlig außer Atem, die Axt hängt zitternd in meiner rechten Hand. Ohne Schlaf und ausreichende Nahrung bin ich gegen die Untoten ziemlich unbrauchbar. Es schmerzt in den Lungen, sobald ich tief durchatme, und der Schmerz macht meine Arme schwach. Ich verspreche, mich besser zu behandeln, mehr zu essen und zu trainieren und die Kraft wiederzugewinnen, die ich verloren habe. Es gibt keinen Spielraum mehr für Fehler. Niemanden, der für mich einspringt, wenn ich stolpere oder zögere.

Ich lege eine Pause ein, knie mich neben einen der Stöhner und reinige sorgfältig die Axt an seiner zerrissenen Windjacke. Ich mache mir Sorgen, dass Dapper daran lecken will und sich die Krankheit holt.

Es kostet uns eine weitere halbe Stunde, bis wir die Lowell Street erreichen. Jedes Mal, wenn wir einen wandernden Untoten treffen, wird es schwerer, die Axt zu schwingen. Vielleicht hätte ich warten sollen, bis ich wieder geheilt und stärker bin, bevor ich alleine losgezogen bin. Wer hält Wache, wenn ich schlafe? Dapper? Plötzlich wird mein edles Märtyrertum deutlich glanzloser und erinnert an ein langsames, schleichendes Sterben.

Auf der Lowell Street herrscht Ruhe, was gleichzeitig ermutigend und ein bisschen alarmierend ist. Kein normaler Mensch in Sicht, keine umherstreunenden Hunde, nichts, was anzeigt, dass das Leben hier überdauert hat. Ich bin nicht daran gewöhnt, das Viertel so zu sehen – still, reglos, erfüllt nur vom Wind und dem unheimlichen Gefühl, dass die Zeit vergeht und niemand es wahrnimmt. Eine solche Stimmung habe ich schon ein paarmal erlebt. Wenn die St.-Patrick’s-Day-Parade oder die Easter-Hat-Parade anstand, leerten sich die Häuser früh am Morgen, und bis Mittag kam keiner zurück. Allerdings gab es immer die Gewissheit einer Rückkehr, war immer klar, dass bald die Nachbarn den Weg hochkommen würden, müde oder sonnenverbrannt, aber zufrieden.

Wie in allen anderen Vierteln, durch die wir uns gekämpft haben, gibt es Anzeichen hastigen Rückzugs. Haustüren stehen offen, Fenster sind zerbrochen und nicht ersetzt, Allradwagen und Limousinen parken in den Gärten, wo eine Flucht gescheitert ist oder die Insassen zu Fuß weitergelaufen sind. Das hohe Gras kitzelt die Stoßstangen der Allradwagen, breitet sich aus, als wollte es die Autos verschlucken oder sie in ein zerstörtes Monument vergangener Zeiten verwandeln.

Der Wohnsitz der Hewitts liegt auf halben Wege den Block runter, auf der rechten Seite. Kein großes Haus, aber ich habe es immer geliebt, gerade groß genug, um sich nicht eingeengt, und behaglich genug, um sich vertraut, geliebt und heimisch zu fühlen, wie ein gemütliches Paar verfilzter alter Puschen. Es sind keine Stöhner da und keine Dümpler, nur der Klang des voranschreitenden Morgens und ein paar Vögel, die die Sonne grüßen. Sie winkt kurz der Stadt zu und verschwindet dann hinter einem Wolkenband. Unser Haus ist ein alter zweistöckiger Ziegelbau mit einem steilen Dach und einer Veranda mit weißem Holzgeländer. Wir hatten immer den Plan, sie zu verglasen, damit die Mücken im Sommer draußen bleiben. Wir sprachen davon, uns den New Yorker zu besorgen und ein paar Mint Juleps und uns dann in den schwülen Julinächten gegenseitig vorzulesen, wenn man nichts zu tun hat, als sich in der feuchten, schwindelerregenden Hitze zu aalen.

Immer noch hängt eine Fahne vor unserem Haus. Eine große, weiße Flagge mit grünem Peace-Zeichen. Meine Mutter war immer ein ernsthafter Hippie, und ich konnte sie nie davon überzeugen, sich von dieser blöden Fahne zu trennen. Wie sie da flattert und eine Botschaft des Friedens ausposaunt, die überhaupt nichts mehr bedeutet, wirkt sie vulgär.

Das Auto ist weg, die Garagentür zu. Ich werte das als gutes Zeichen. Ich halte Ausschau nach allen Arten von Hinweisen, die mir verraten könnten, wo sie ist. Ob sie wiederkommt oder nicht. Und wie alle Handleser und selbsternannten Mystiker tappe ich völlig im Dunkeln. Doch es ist mir bitter ernst, und es scheint, als ob ich damit auch gar nicht aufhören kann. Der Briefkasten ist leer, die meisten Fenster sind immer noch intakt. Als ich auf die Veranda trete, entdecke ich braune Flecken auf dem Holzboden, aber das muss nicht zwingend bedeuten, dass etwas Schlimmes passiert ist. Das kann alles gewesen sein. Alles.

Mit bleibt nichts anderes übrig, als die Tür einzutreten. Dabei muss ich lächeln. Was für ein süßer Spleen von dir, Mom, sorgfältig die Tür abzuschließen, wenn die Welt untergeht. Drinnen müffelt es, ein menschlicher Muffgeruch, den ich wiedererkenne. Irgendwo steht verdorbenes Essen, und auf dem dreckigen Geschirr in der Spüle hat sich eine aufregende neue Schimmelkolonie gebildet. Kleine unbekannte Welten haben sich im ganzen Haus gebildet – Spinnweben, Schimmel, eine Blätterspur, die zu einem zerbrochenen Fenster führt … Aber kein Hinweis auf meine Mutter, nur eine Ahnung, dass hier in Eile aufgebrochen wurde.

»Mom?«, rufe ich vorsichtig, nicht zu laut, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. »Mom, bist du da? Hier ist Allison.«

An der Wand im Vorraum steht eine Reihe von Schuhen, doch die Schuhe für die Gartenarbeit fehlen. Unsere identischen zwei Paare Flip-Flops sind noch da und erinnern mich wieder daran, wie wir den Sommer genossen, ihn uns zu eigen gemacht und jeden letzten faulen warmen Tag herausgepresst haben.

Jetzt rieche ich vergammelte Milch, obwohl die Kühlschranktür geschlossen ist, doch der Verfall breitet sich überall aus. Die Spinnen haben die Küche in Beschlag genommen, in jeder Ecke Netze konstruiert, ihre Heime vom Wasserhahn zum Schrankknauf gespannt, vom Kochbuch zur Obstschale. Ich entdecke zwei schwarze, eingeschrumpfte Äpfel in der Schale und daneben eine gefaltete Karte.

Denken Sie auch im nächsten Jahr wieder an uns! Der ländliche Familienobstgarten!

Durch ein Loch an der Oberkante der in Gold und Rot gehaltenen Karte ist ein zartes kleines Bändchen gezogen. Ich nehme die Karte, wische einen dünnen Film Staub ab und stecke sie in meine Gesäßtasche. Dapper schnüffelt geschäftig an jeder möglichen Nahrungsquelle. Ich behalte ihn scharf im Auge, weil ich befürchte, dass er plötzlich zu dem Schluss kommen könnte, ein völlig vergammeltes Stück Obst sei doch noch essbar. Seine Hundeneugier bringt nicht unbedingt einen ausgeprägten Sinn für Bekömmlichkeit mit sich.

Ich untersuche das Wohnzimmer, die Frühstücksecke, die hintere Veranda. Auch oben ist alles leer, der Wäscheschrank meiner Mutter steht offen, und eine Spur von Socken und Unterwäsche führt zum Bett. In der Matratze befindet sich eine quadratische Mulde, vielleicht stand dort ein Koffer. Meine Mutter muss aufgebrochen sein, denke ich, sie hat wirklich versucht, zu den Apartments zu kommen. Ich berühre die Matratze und verdränge eine Übelkeit erregende Welle von Enttäuschung darüber, dass sie das Haus zwar verlassen, aber den Buchladen oder die Arena nie erreicht hat. Es gibt eine noch schlimmere, dritte Möglichkeit: dass sie zur Arena gelangte, nachdem die Gemahlinnen der Schwarzen Erde Ned und mich entführt hatten, und in der Feuersbrunst gefangen war.

Kein Ahnung, warum ich hier immer noch nach ihr suche. Wäre sie hiergeblieben, wäre sie schon tot. Ihre einzige Option bestand darin abzuhauen.

Ich nehme mir Seife, Shampoo, Zahncreme und Zahnseide und gehe in mein altes Zimmer. Die schmutzigen Fenster werden von den strähnigen Mustern der Spinnweben bedeckt. Ich packe ein paar Ersatzklamotten in einen alten Mein-kleines-Pferdchen-Rucksack, das einzige Gepäckstück von ausreichendem Fassungsvermögen, das ich in meinem Schrank finden kann. Meine Erwachsenenkleider befinden sich in meiner Wohnung, aber die liegt zu dicht am Zentrum des Wahnsinns, an dem, was auch immer den Brand in der Arena überlebt haben mag. Die Sachen, die ich raussuche, hatte meine Mutter wahrscheinlich hier verstaut, seit ich die Highschool verlassen hatte, aber sie sind besser als nichts. Ich versuche Wertsachen zu finden, Dinge, die ich gegen Medizin oder Essen tauschen kann. Ich finde eine alte Packung Kondome unter der Matratze in meinem Zimmer. Sie haben ihr Verfallsdatum überschritten, aber ich weiß aus der Arena, dass sie denselben Wert haben wie Zigaretten. Auch davon stoße ich auf eine Packung unter meiner Matratze, völlig vertrocknet, aber vielleicht eine Dose grüne Bohnen wert.

Bevor ich gehe, suche ich unten erneut den Bereich um das Telefon ab. Der Hörer liegt neben der Gabel auf einem überfüllten Schreibtisch, wo meine Mutter die Rechnungen und die Post hinpackt. Das Möbelstück ist eine Antiquität, stammt aus der Dachkammer meiner Großmutter und riecht nach all den Jahren immer noch nach alten Büchern. Da steht auch ein Anrufbeantworter, aber ohne Strom ziemlich nutzlos. Doch dann entdecke ich einen Notizzettel neben dem Apparat, zerknittert und verschlissen, aber an einer augenfälligen Position angebracht. Ich nehme ihn ab und streiche sorgfältig die Ränder glatt.

Minny –

Ich hoffe, du bist in Sicherheit. Tante Tammy hat angerufen und gesagt, dass sie in Fort Morgan ein Lager einrichten. Nimm die Route 39 runter zur 88, dann zur 80, bis du auf die 76 triffst. Es ist ein langer Weg, und ich weiß nicht, ob wir es schaffen. Ich breche mit den Andersons von nebenan auf. Zuerst wollen wir Allison finden.

Und dann, am unteren Rand, unterstrichen:

Ich sehe dich bald in Liberty Village!

Fort Morgan. Colorado. Ich war ein paar Mal da, um Tante Tammy und ihre Familie zu besuchen. Das sind gute Leute, Outdoortypen, Jäger, Fischer, Kanuten. Aber dieser Ort ist einige Staaten entfernt, Hunderte und Aberhunderte von Meilen. Mom hat die Nachricht für ihre Cousine Minny dagelassen, eine Frau, die ich ein paar Mal auf Familiengrillfesten und Ausflügen getroffen habe. Ich wette, Mom hat nie erwartet, dass die Notiz mir in die Hände fällt. Sie wollte tatsächlich nach Colorado aufbrechen, nachdem sie mich aufgesammelt hätten.

Meine Mom ist also mit meinen Nachbarn unterwegs. Sie hat es nicht zu den Apartments geschafft und auch nicht in die Arena, aber es gibt keinen Beweis für ihren Tod. Da ist natürlich die Sache mit der Handtasche, aber das kann alles Mögliche bedeuten. Warum sind sie ohne mich aufgebrochen?

Während ich wieder nach oben steige, fühle ich eine merkwürdige Schwere in meinen Händen. Ich gehe in das Schlafzimmer meiner Mutter. Ihr Parfüm ist noch gegenwärtig. Ich habe die Art, wie sie roch, immer geliebt, und dass sie nie das Parfüm gewechselt hat. Der Geruch ist in diesem Zimmer in alles eingedrungen, und es mag vielleicht Anna Sui’s Name auf der Flasche stehen, aber es ist der Duft meiner Mutter. Ich nehme die Parfümflasche und halte sie gegen das Licht. Durch das purpurne Glas kann ich erkennen, dass nur noch ein halber Zentimeter in der Flasche steht. Ich schiebe sie in meinen Rucksack und wende mich zum Gehen.

Dann höre ich unten ein Geräusch, Schritte auf der Veranda. Ein Stolpern und ein Knirschen. Ich hebe meine Axt, bereit, sie niedersausen zu lassen. Ich zische Dapper einen scharfen Befehl zu, woraufhin er missmutig hinter mir Sitz macht und mich mit diesen braunen Augen traurig ansieht. »Ich weiß, mein Junge, du willst helfen, aber es ist zu deinem Besten.«

Die Schritte kommen die Treppe hinauf, scharren auf dem Holz, Arme oder Ellenbogen bumsen an die Wand. Ich fühle einen kleinen Schub Energie, eine Spannung, wie sie Koffein oder Adrenalin hervorbringen kann – den Willen, zu verteidigen, was meins ist. Die kommen nicht in mein Haus, ins Haus meiner Mutter. Die kriegen mich nicht, nicht hier und nicht jetzt.

Ich sehe dich bald in Liberty Village!

Ich rücke ein paar Schritte näher zur offenen Tür. Ich muss über ihnen bleiben, denn ich weiß nicht, wie viele es sind. Es könnte nur einer sein, aber es klingt mehr wie zwei oder drei. Auf Zehenspitzen befehle ich meinem Herzen, langsamer zu schlagen, mir eine Pause zu gönnen, damit ich mich konzentrieren kann, aber das Adrenalin kommt zu schnell und lässt meine Hände zittern.

Jetzt erscheint die Spitze von etwas, vielleicht einer Hand, und ich wirbele herum und lasse mit einem gewaltigen Schrei die Axt auf Halshöhe sausen.

Whud!

»Gah – Ich – Himmel!«

»Scheiße!«

»Oh, Gott, verdammt noch mal, Allison!«

Es ist Ted, und Himmel sei Dank, sein Kopf ist noch dran. Die Axt hat sich fünf Zentimeter tief in den Türrahmen gegraben, und Ted sitzt auf dem Boden, die Hände über dem Kopf. Renny steht dahinter und umarmt sich selbst vor Schreck.

»Ted! Scheiße! Ich hätte dich verdammt noch mal töten können!«, schreie ich, springe zurück und stolpere fast über Dapper.

»Du hättest mich verdammt noch mal enthaupten können«, korrigiert Ted, sein Schreien erreicht fast die selbe Panikfrequenz.

Zu überwältigt von der Freude, um sitzen zu bleiben, rennt der Hund zu Ted, leckt ihm Gesicht und Hände. Wenn mein Herz vorher schon hämmerte, dann meißelt es jetzt gerade ein Loch in meine Brust. Ted sieht mich von unten an, Donnerwolken sammeln sich in seinen Augen.

»Oh«, sage ich und strecke mich, während mein Puls beginnt, sich zu beruhigen. Ted rappelt sich auf die Füße, die gesprungene Brille und die wüsten Haare sitzen schief, und besänftigt Dapper durch ausgiebiges Kopfschubbern. »Lustig, euch hier zu treffen«, sage ich.

»Wir sind dir gefolgt«, sagt Ted.

»Ja, das sehe ich.«

»Meine Idee«, prahlt Renny und zerrt die Axt aus dem Türrahmen. »Er sagte, du wärst irre, aber das habe ich nicht erwartet.« Sie zeigt auf das misshandelte Holz.

»Ich dachte, ihr wärt … Na, egal jetzt … Was macht ihr hier?«, frage ich und nehme ihr die Axt ab. Ein kleiner Splitterregen ergießt sich über Dappers Kopf.

»Wir haben Ned gefragt, ob er auch mitkommt. Ich glaube, er wollte schon, aber Evan und Mikey brauchen eine Atempause. Die müssen sich mal ausruhen«, antwortet Ted.

»Das beantwortet nicht meine Frage«, erwidere ich kopfschüttelnd.

»Du schaffst es nicht allein. Das ist eine Schnapsidee, Allison, und ich glaube, du weißt das«, sagt er.

»Und ich lasse mich nicht bei einem Haufen Fremder aussetzen«, fügt Renny hinzu und sieht mich an.

»Aber du kennst doch Ned«, sage ich, »und die Kinder.«

»Nein, tu ich nicht. Ich kenne ja nicht mal dich, aber ich wäre lieber mit allen zusammengeblieben. Verringert die Chance, erschossen zu werden.«

»Collin und Finn wissen, was sie tun«, sage ich.

»Ja? Und warum bist du dann gegangen?«

»Och, ich weiß nicht«, säusele ich unbeschwert, »die Dinge wurden ein wenig anstrengend, nachdem sich mein Leben in einen beschissenen Mariah-Carey-Song verwandelt hat.«

»Lydia ist einfach … Sie ist nur eine, verstehst du? Wir hätten das klären können. Aber ich nehme an, das ist jetzt egal. Natürlich nicht völlig egal, denn jetzt gehen wir mit dir«, sagt Ted und starrt mich durch die langen schwarzen Zotteln über seinen Augen an. »Da gibt es nichts zu diskutieren, weil wir dir einfach folgen werden, und ich weiß, wo du hinwillst.«

»Ted …«

»Nein, hör mir zu, bitte. Ich weiß, ich irre mich manchmal, aber nicht immer, und ich denke, du und ich … wir schulden uns das. Wir sind zusammen, seit dieses Chaos angefangen hat, und wir haben es geschafft, am Leben zu bleiben. Das bedeutet doch etwas, oder etwa nicht? Bedeutet dir das nichts?«

»Sicher bedeutet es etwas, aber … ich weiß nicht … ich dachte, es wäre Zeit für eine Veränderung«, sage ich und weiche seinem Blick aus. »Das ist nichts gegen dich oder Renny … ich dachte, es wäre irgendwie besser.«

»Schön, das ist es nicht«, sagt Renny und wirft die Hände hoch, »sondern ein völlig idiotischer Einfall, und er hätte dich umbringen können. Hier.« Sie übergibt mir eine schmale, kleine Pistole. »Ned sagte, wir sollen sie nehmen. Er hat uns allen ein paar Sachen gegeben. Er wünscht dir Glück, und wir sollen dir das hier mitbringen.« Sie nimmt meine Hand und schüttelt sie fest, wie ein Profi dem anderen.

»Scheiße«, sage ich. Es fühlt sich an, als hätte sie mich in den Magen geboxt. Ich will Ned wiedersehen und seine Kinder, aber mehr als das will ich meine Mom. Das ist der Preis.

»Du wolltest dich wohl vergewissern?«, fragt Ted. Natürlich. Er war ja dabei gewesen, hatte die Handtasche und die Notiz gesehen. Er hatte offenbar den Verdacht, ich käme erst hierher, statt direkt nach Colorado aufzubrechen.

»Ich habe das hier gefunden«, erkläre ich und gebe ihnen den Zettel aus meiner Tasche. Ich bin froh, dass sie etwas zu betrachten haben, so kann ich schnell meine Augen mit den Handrücken trocken tupfen. Ich sage nicht: »Ich bin so froh, dass ihr da seid« oder »ich kann wirklich Hilfe brauchen«, aber ich denke es. Die Erleichterung, sie hierzuhaben – dass sie in aller Harmlosigkeit meinen gigantischen Fehltritt korrigiert haben –, setzt mir zu, und ich fühle mich wie ein weinerliches Baby.

»Liberty Village? Was ist das für ein blöder Witz?«, fragt Renny und kichert.

»Das ist kein Witz«, entgegne ich und schnappe den Zettel aus ihrer Hand. »Das ist der Ort, zu dem meine Mutter unterwegs ist und wo ich hingehen werde. Es ist bereits das zweite Mal, dass sie ihn erwähnt hat. Ich habe neulich einen entsprechenden Zettel in ihrer Handtasche gefunden. Es gibt diesen Ort. Das weiß ich. Und dort gehen wir hin, wenn ihr beide darauf besteht, mir zu folgen.«

»Dann also Liberty Village«, zirpt Ted. »Sieh an … wo ist das noch mal?«

»Colorado.«

»Ja, richtig! Achtung, Colorado, wir kommen!«

»Aufregend«, sage ich und stecke die Pistole am Rücken in meinen Hosenbund. »Kommt, lasst uns runtergehen und sehen, ob noch irgendwelche Dosennahrung da ist.«

»Mein kleines Pferdchen, was?«, fragt Renny und klopft auf die rosa Aufschrift meines Rucksacks.

»Ja, du weißt ja, wie ich ticke.«

210350.jpgKOMMENTARE

Norwegen:

28. Oktober 2009

Ich bin so froh, dass du noch wohlauf bist.

Du hast mich echt zu Tode geängstigt mit deiner Erklärung, ganz allein loszuziehen!

Bleib stark, Allison, und bitte, bleib in Sicherheit.

steveinchicago:

30. Oktober 2009 17:54 Uhr

schätz dich glücklich, solche guten freunde zu haben. es ist offensichtlich, dass ihr zusammenbleiben solltet. zusammen seid ihr stärker, vergiss das nicht.

Allison:

30. Oktober 2009 18:03 Uhr

Ja, ja, du hast ja so recht, Steve. Ich schätze auch, ich komme von diesen Spaßvögeln einfach nicht los.