4. NOVEMBER 2009 – EINE DUBIOSE SCHLACHT

»Renny.«

»Uhmf, hm?«

»Renny!«

»Was ist los?«

»Steh auf. Steh schnell und leise auf. Wir haben Gesellschaft.«

Es ist früh, die rosa Ränder der Dämmerung beginnen gerade, sich in einer entfernten Baumlinie abzuzeichnen. Mein Geist, das kann ich mit Sicherheit sagen, ist vernebelt. Julian wartet vor dem Zelt, als ich heraustrete. Abwechselnd reibt er den einen Arm gegen die Kälte und zuckt dann vor Schmerz zusammen, weil er den verletzten Arm gereizt hat. Unter seinen blaugrünen Augen zeichnen sich dunkle Ringe ab. Sein Gesicht ist bleich, blutleer. Es gibt nicht viele Versorgungsgüter in diesem Lager. Sweatshirts und Jeans müssen reichen, um uns warm zu halten.

»Ich weiß, ich sollte das nicht persönlich nehmen, aber es ist ein bisschen beunruhigend, dass sie einen ganzen Tag nicht gemerkt haben, dass ich weg bin«, sagt er. Als seine linke Hand gegen die Schlinge stößt, zuckt er wieder.

»Hör auf damit«, sage ich. »Du siehst lächerlich aus. Und halt den Arm still.«

»Es ist kalt.«

»Zur Hölle, in einem Grab ist es kälter.«

Maria hat uns erst vor ein paar Augenblicken geweckt und berichtet, sie hätte Bewegung im Lager der Landwehr gesehen. Scheinwerfer, das Rumpeln von Maschinen, die donnernd zum Leben erwachen. Sie war nicht sicher, was das alles bedeutet, aber ich kann es mir genau vorstellen. Ich habe erwartet, dass sie Vergeltung üben, nachdem wir ihnen Julian gestohlen haben, aber ein Teil von mir hat wohl gehofft, sie würden es einfach ignorieren. Schließlich schienen sie nicht sehr an ihm zu hängen, wenn man bedenkt, dass sie drauf und dran waren, ihn in einer Abstellkammer verbluten zu lassen.

Renny kommt aus dem Zelt, ihr drahtiges Haar von einem dicken schwarzen Stirnband zusammengehalten. Auch sie hat Ringe unter den Augen, aber sie ist schon hellwach. Dapper trottet aus dem Zelt und setzt sich neben mich, seine Schnauze ruht an meinem Knie. Renny reicht mir meine Axt. In letzter Zeit teilen wir sie uns. »Was machen wir mit Ted?«

»Ich schätze, wir sollten ihn ins Auto tragen«, sage ich und ziehe den Schulterriemen meiner Laptoptasche zurecht.

»Aber der Wagen ist praktisch zu Schrott geschossen.«

»Nur zur Sicherheit«, antworte ich. »Bis wir einen Ausweg wissen. Wenn er hinten drinliegt, können sie ihn nicht sehen. Sie werden zuerst die Zelte durchsuchen, wenn überhaupt.«

»Julian, geh zu den anderen und hilf beim Packen. Renny und ich können Ted ins Auto tragen.« Ich gehe zu ihm, ziehe ihn ein paar Zentimeter von Renny weg und ergreife fest seinen gesunden Arm. »Darf ich dir eine sehr persönliche Frage stellen?«

»Natürlich«, sagt er. »Himmel, Allison, du kannst mich alles fragen.«

»Weißt du, was ein Molotowcocktail ist, und könntest du bitte ein paar machen?«

»Ich … na, so ungefähr … schätze ich.«

»Gut, großartig!«, rufe ich. »Mach dich an die Arbeit.«

Bevor Julian antworten kann, verschwinden Renny und ich im Zelt, in dem Ted liegt, sein Sweatshirt an der Schulter prall ausgebeult von den schweren Bandagen. Er ist bleich und schwitzt, aber er lebt. Vorsichtig heben wir ihn in eine sitzende Position und dann hoch, darauf bedacht, nicht an seinem verletzten Arm zu ziehen. Es geht langsam. Der natürliche Griff, um jemanden anzuheben, ist unter der Schulter, stattdessen muss ich um seine Mitte greifen und ihn hochhieven. Mittendrin beginnt er aufzuwachen.

»Mmf?«, fragt er, und sein Kopf baumelt gegen Rennys Schulter.

»Wir bringen dich nur an einen sichereren Ort«, sage ich zu ihm, wische ihm das stumpfe Haar aus der Stirn und richte seine zerstörte Brille. Es fällt leichter, wenn er ein bisschen wach ist und seine Beine benutzen kann, um uns zu helfen. Er döst noch halb, als wir ihn zwischen uns nehmen und von den Zelten wegtragen. Wir gehen zu der Limousine, die am Rande des Lagers parkt. Noch immer hängt feiner, kühler Nebel über dem Boden, das gefrorene gelbe Gras knirscht, während wir gemeinsam vorwärtstorkeln. Ab und zu grunzt Ted vor Unbehagen, und wir verändern unseren Griff, um den Druck von seiner Wunde zu nehmen.

Da ist immer noch die Spur aus Blutflecken, die den Weg kennzeichnet, auf dem wir Ted aus dem Auto getragen haben. Die Rückbank ist mit Glassplittern übersät und voller Blut. Immerhin ist der Wagen durch die zerschossene Scheibe gut durchlüftet. Renny steht an der offenen Tür und betrachtet das alles, ihren Mund vor Abscheu verkniffen.

»Es soll nicht für lange sein, außerdem schläft er hauptsächlich.«

Sie nickt und beugt sich hinein, um das Glas auf den Boden zu wischen. Zusammen helfen wir Ted auf den Rücksitz, machen ihm einen Platz frei, bis er mit angewinkelten Knien daliegt. Er murmelt unzusammenhängend vor sich hin und rümpft die Nase, während er sich in dem Versuch windet, eine bequeme Lage zu finden.

»Fürs Protokoll, ich glaube nicht, dass wir das erwähnen sollten, wenn er aufwacht«, sagt Renny.

»Einverstanden.«

Als wir die Zelte erreichen, laden Maria, Nanette und Dobbs eifrig ihre Vorräte auf seinen Pick-up. Julian ist nirgends zu sehen. Ein Plan zeichnet sich allmählich in meinem Kopf ab, und ich hoffe, dass wir eine Chance haben, die meisten dieser Leute in Sicherheit zu bringen. Die von der Landwehr haben zwar Gewehre und Fahrzeuge, doch sie verlassen sich auch völlig auf diese Ausrüstung – vielleicht zu sehr.

»Maria!«, rufe ich und laufe zu ihnen hinüber. »Kann ich dich mal kurz sprechen?«

Wir entfernen uns von der Gruppe. Es sieht aus, als hätten sie es geschafft, das meiste Gerät und die Zelte Marke Eigenbau zu verladen. Nicht viel, mit dem sich etwas anfangen lässt. »Ich weiß, das klingt jetzt wie eine verrückte Frage, aber kannst du dich an irgendeinen Ort in der Nähe erinnern, der … na ja … verseucht ist? Irgendwo könnte es doch hier eine Menge Untoter geben, vielleicht ist da irgendwo ein Laden oder ein Warenhaus oder so was?«

»Ich bin nicht wirklich sicher«, antwortet sie. »Du könntest es im Kino versuchen. Die Polizei hat es in der ersten Nacht abgesperrt, und ich habe seitdem nichts und niemanden herauskommen sehen. Wenn in der Zwischenzeit niemand versucht hat reinzukommen.«

»Perfekt. Wo ist es?«

»Dort drüben.« Sie zeigt nach Westen in Richtung des Wal-Mart. »Auf der anderen Seite der Parallelstraße, vielleicht einen Kilometer entfernt.«

»Danke. Sag den anderen, dass sie sich beeilen sollen.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Warum was?«, frage ich.

»Warum willst du wissen, wo die Verseuchten sind?«

»Weil wir dahin gehen.«

Maria sieht mir mit offenem Mund nach. Einen Augenblick später dreht sie sich um und geht zurück zu den anderen, ringt die Hände und wirft alle ein, zwei Sekunden einen Blick über die Schulter auf mich. Für einen Moment fühle ich mich, merkwürdig genug, Collin sehr nahe. Ich weiß, ich empfange ihn aus der Entfernung, imitiere seine coole, gesammelte Art. Ich wünschte nur, ich hätte Zeit, ihn zu vermissen.

Wahrscheinlich handelt es sich nicht um den besten Plan, den ich je gehabt habe, aber eine heilsame Dosis Chaos ist vielleicht genau das, was wir brauchen, um die Landwehr aus dem Gleichgewicht zu bringen und die Lage zu unseren Gunsten zu wenden. Mit den Untoten, meiner Pistole und den Molotowcocktails könnten wir genug Verwirrung stiften.

Renny macht mich ausfindig, bevor ich Julian aufspüren kann. Sie ist außer Atem, stützt die Hände auf die Knie, beugt sich nach vorn und keucht. »Allison … da sind … Sie kommen. Wir haben keine Zeit mehr.«

Ich folge ihr zurück zu Dobbs und seinem Truck. Der Pick-up ist schwer beladen, die Ladefläche bis zum Überquellen vollgepackt mit Holz, Planen, Eimern und allem möglichen Kram. Ich erspähe ein paar Werkzeuge und etwas, das aussieht wie eine Lunchbox, sowie eine Werkzeugtasche. Wahrscheinlich unbrauchbar. Dobbs, Nanette und Maria stehen im Halbkreis herum, während ich die Ladeklappe herunterlasse und die Werkzeugtasche öffne. Dapper will auf die Ladefläche springen, aber ich schiebe ihn aus dem Weg.

»Was machst du? Wir müssen los!«, schreit Nanette und rüttelt mich an den Schultern. Renny zieht sie weg und versucht, sie zu beruhigen, doch Nanettte schlägt auf sie ein.

»Du verstehst nicht! Die töten uns!«

»Jetzt beruhige dich«, murmele ich und wühle mich durch eine fünf Zentimeter dicke Schicht aus Schrauben, Nägeln, Alteisen, Sandpapier und leeren Marmeladengläsern. Die Kälte macht mir nichts aus. Ich fühle, wie der Schweiß sich an meinen Schläfen sammelt. Ich grabsche eine Hand voll Schrauben und schiebe sie Renny rüber. »Wenn Julian zurückkommt, sag ihm, er soll ein paar davon in die Cocktails werfen.«

»In was?«

»Sag’s ihm einfach … Du wirst schon sehen, wenn er kommt.«

Sie starren mich an und warten, warten darauf, dass ich sie rette. Ha, ha, Julian, will ich schreien, siehst du, was passiert, wenn niemand hart ist? Wenn keiner führt? Sie sind paralysiert, bewegungslos, erstarrt von der Gefahr, die sie für unüberwindbar halten. Aber es ist nicht zu spät, noch nicht …

»Weg da!«

Julian! In seinem gesunden Arm hält er Flaschen, aus denen Benzin über seinen Ärmel schwappt, während er mit Höchstgeschwindigkeit auf uns zuhumpelt. Total vergnügt beugt er sich über die Heckklappe und stellt die Gläser und Flaschen in einer Reihe ab. Leute aus dem Lager, die ich noch keine Gelegenheit hatte kennenzulernen, haben sich um den Truck versammelt. Ein Ehepaar mit einem kleinen spanischen Mädchen zwischen ihnen und zwei Teenagerjungs. Ich kenne ihre Namen nicht und habe sie nur kurz gesehen, als sie von Zelt zu Zelt gegangen sind. »Eins, zwei, drei, vier, fünf … sechs!«, sagt Julian und tritt von seinem Werk zurück, als wollte er sagen: »Hab ich das nicht großartig gemacht?«

»Hier«, meint Renny, »Allison sagt, die sollst du dazutun.«

Als die Schrauben in das Benzin plumpsen, kommt mir endlich eine brauchbare Idee.

»Hat jemand ein Paar Handschuhe?«, rufe ich. Meine Finger entstauben den Verschluss einer großen Plastikflasche. Ich drehe sie um, um sie anzusehen. Auf dem verblichenen Etikett kann ich einen kleinen schwarzen Aufdruck erkennen.

NaOH

Ich denke an Ted, wie er chemische Formeln rezitiert, wenn er schlafen geht. Dieses traurige, kindliche Geflüster in der Dunkelheit. Ich denke an ihn, wie er zusammengerollt hinten in einer verwüsteten Limousine in seinem verkrusteten Blut liegt, und ich weiß genau, dass dies der richtige Weg ist. Diese kleine Flasche ist der Schlüssel.

»Da sollten ein Paar Arbeitshandschuhe in der Werkzeugtasche sein«, sagt Dobbs und drängt sich durch die anderen. Er deutet auf ein ausgeleiertes Paar lederverstärkter Arbeitshandschuhe in Männergröße. Sie sind viel zu groß für meine Hände.

»Die passen nicht«, sage ich. »Sonst noch jemand?«

Ich ziehe die Plastikflasche heraus und stelle sie beiseite. Die Lunchbox riecht nach verfaulten Äpfeln und moderndem Käse, aber ich trotze dem Gestank lange genug, um einen gebrauchten Brotbeutel herauszuziehen. Es klopft gegen meine Hüfte, und ich sehe hinab auf das kleine Mädchen, das mir ein Paar schwarze Fleecehandschuhe hinhält. Ich ziehe sie an. Sie sind bequem und passen. Auf die Handrücken hat jemand schwarze Katzen und Zuckermaiskolben gestickt.

»Bist du sicher?«, frage ich.

»Ja. Meine Schwester braucht sie nicht mehr.« Sie huscht zurück zu dem Mann und der Frau und duckt sich hinter sie. Sie sehen nicht aus wie ihre biologischen Eltern, aber das bedeutet nichts. Sie geht jedenfalls zu ihnen und hängt mit beiden Händen an ihren Knien.

»Was sollen wir tun?«, fragt Dobbs, nimmt seinen Stetson ab und wirft ihn in den Truck.

»Holt alle zusammen und …«

Gewehrfeuer setzt ein. Erst leise, dann schnell lauter, als die Landwehr näher kommt. Sie legen Sperrfeuer auf das Lager. Dicht gedrängt hocken wir hinter dem Pick-up und seiner hoch aufragenden Ladung in Deckung. Das kleine Mädchen hält sich die Hände vor die Augen.

»Da lang!«, deute ich und versuche den Lärm zu überschreien. »Rennt, so schnell ihr könnt, und duckt euch dabei.«

»Aber unsere Sachen!«, protestiert Nanette und gestikuliert zum Pick-up.

»Die kannst du später holen. Jetzt musst du so weit wie möglich von hier weg.«

Dobbs nimmt Maria an der Hand und schleicht geduckt los. Er führt die Gruppe vom Truck weg und nutzt ihn dabei als Deckung. Die Vorderseite des Wagens liegt unter schwerem Feuer. Julian und Renny knien neben mir nieder.

»Zündet sie an«, rufe ich, »und werft sie alle.«

Wir drei teilen uns Julians Zippo, zünden die Enden der Wickel an (Überbleibsel von Julians einbeiniger Hose) und schleudern die Weinflaschen, Bohnengläser und auch die Johnnie-Walker-Flasche über den Wagen. »Versucht, sie in einer Linie zu verteilen!«, brülle ich, bin aber nicht sicher, dass sie mich durch den Lärm der Zündungen und das donnernde Gewehrfeuer hören können. Julian riecht nach Benzin, und ich lasse ihn Abstand nehmen, bevor wir den vorletzten Cocktail anzünden und ihn über unsere Köpfe schleudern. Tief geduckt spähe ich um die Ecke der Ladefläche, um zu sehen, wie ein Humvee der Landwehr explodiert. Der Cocktail hat ihn auf der Haube getroffen. Ich höre ein scharfes Zischen, und die Vorderreifen des Pick-ups sind durchschossen.

»Geh mit den anderen«, sage ich zu Renny und greife sie am Unterarm. »Und nimm Dapper mit.«

»Ich gehe nirgendwohin«, erwidert sie. »Was ist mit Ted?«

»Sie werden ihn nicht finden, er ist gar nicht in ihrem Blickfeld. Bitte geh. Ich komm hier schon klar.«

Renny wirft einen Blick auf die albernen schwarzen Handschuhe, dann auf die Axt und die Pistole und rollt die Augen, bevor sie Dapper am Kragen packt. »Wenn du dich hier umbringen lässt, werde ich dich mit diesen Dingern begraben.«

»Das ist nur fair.«

Wir schütteln uns die Hand, und sie verschwindet. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck sieht Julian mich an, fordert mich heraus, ihn wegzuschicken.

»Ich sag dir nicht, dass du auch gehen sollst, falls du darauf wartest«, sage ich zu ihm.

»Also, ich werde auf keinen Fall … ach! Oh.«

»Es ist noch ein Cocktail übrig, und ich könnte dich brauchen, um meinen Rückzug zu decken, aber nur, falls was schiefgeht.«

Ich nehme meine Laptoptasche ab und schiebe sie unter seinen gesunden Arm. »Pass darauf auf. Damit darf nichts passieren. Und hierauf auch.« Ich prüfe das Magazin und gebe ihm die Pistole. Zwei Schuss noch – nicht viel, aber vielleicht genug. Ich packe meine Axt und nicke in Richtung der Plastikflasche auf der Heckklappe.

»Zieh die Arbeitshandschuhe an, und füll die Plastiktüte zur Hälfte mit Pulver«, sage ich. Julian nimmt die Flasche und betrachtet das Etikett, seine Augen werden groß. »Lauge? Was zum Teufel willst du damit?«

»Mach einfach. Ich weiß schon, was ich tue.« Genau genommen ist das nicht ganz die Wahrheit, aber es muss in diesem Moment etwas Vertrauenswürdiges in meinem Gesichtsausdruck sein, denn Julian lehnt sich zurück und duckt sich unter die Ladefläche. »Ich bin gleich wieder da, okay?«

»Was?«, keucht er und versucht mein Handgelenk zu greifen. Ich rücke aus seiner Reichweite. »Nein, das wirst du nicht! Allison, bleib hier, Allison!«

»Ich komme raus!«, schreie ich und versuche den Lärm von brennenden Fahrzeugen und Gewehrfeuer zu übertönen. Die Schüsse werden weniger und hören dann auf. »Nicht schießen! Ich komme raus!«

»Feuer einstellen!«

Vorsichtig trete ich hinter dem Pick-up hervor und halte zum Zeichen der Aufgabe die Hände in die Luft. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich nicht einfach niederschießen, aber etwas sagt mir, dass sie ihre Ansprache loswerden wollen. Kleine Dreckfontainen sprühen über meine Füße, begleitet vom Fut-fut-fut eines Gewehrs.

»Ich sagte, stellt das gottverdammte Feuer ein!«

Ich hole tief Luft und zwinge mich zum Weitergehen. Vor mir sind drei Autos in Linie aufgefahren, ein paar Meter entfernt steht der Humvee in Flammen. Wenn er nur ein bisschen näher gewesen wäre – dann hätte die Explosion vielleicht einen Dominoeffekt gehabt. Aus dem Inneren des Humvee quillt schwarzer Rauch über die anderen Autos in den Himmel. Ich sage Autos, aber es sind eher umgebaute Jeeps. Ohne Dächer und in mattem Schwarz gestrichen. Die mit ungeschickter Hand auf die Hauben gemalten Abzeichen haben Flecken und verblassen.

»Nicht schießen!«, rufe ich wieder. Meine Stimme bricht. »Ich bin nicht bewaffnet.«

»Bürger! Lass die Axt fallen!«

Der Mann, der mich anruft, steht auf, sein Kopf ragt über den Überrollbügel eines Jeeps. Er hat einen enormen buschigen, schwarzen Bart und sehr rote Lippen. Ein ausgeleierter Drillichhut in Tarnfarben sitzt auf seinem Kopf. Er hält eine Semi-Automatik auf mich gerichtet. Ich mache noch ein paar Schritte vorwärts, kauere mich dann langsam hin und werfe die Axt in den Dreck.

»Du hast zwei meiner Leute umgebracht«, ruft Schwarzbart mit dem Handrücken unter seiner Nase. Ich kann den Druck der Waffen fühlen, die Hitze von acht oder neun Gewehren, die auf mich zielen. Zielen, um zu töten.

»Ihr habt zuerst geschossen!«, brülle ich zurück. Ich weiß nicht mal genau, ob sie böse Männer sind, aber ich habe den Verdacht. Sie hätten uns alle niedergeschossen, Leute getötet, die stattdessen ihre Verbündeten sein könnten. Ich blicke in ihre Gesichter, in ihre angespannten, wütenden Augen und frage mich: Wer ist der Feind?

»Wo ist der Arzt?«

»Wir haben ihn«, sage ich und rufe über meine Schulter: »Julian! Wink den netten Männern!«

Eine Hand ragt hinter der Ladefläche hoch, Julians Hand. Sie wackelt vor und zurück wie die Rute eines Welpen.

»Pass auf, Bürger«, sage ich, inzwischen nah genug, um nicht mehr brüllen zu müssen. »Wir können das wie zivilisierte Menschen regeln. Hier sind unschuldige Leute. Wenn ihr sie gehen lasst, gebe ich euch den Doktor. Das ist ein fairer Handel. Diese Leute haben nichts damit zu tun. Ich habe ihn gerettet.«

»Wie Zivilisierte, ja?«, entgegnet Schwarzbart und gluckst amüsiert. Auf seinem Schnurrbart glitzert ein dünnes Rinnsal Schnodder. Ich kann nicht aufhören hinzustarren. »Ich glaube, dafür ist es ein bisschen spät. Wir wollen, was uns gehört. Unsere Kon-ter-bande

Der Wind dreht und drückt den schwarzen Rauch über die Haube des Humvee direkt in meine Augen. Wundervoll.

»Wie ich schon sagte, niemand sonst muss verletzt werden«, sage ich und nutze die Gelegenheit, um ein Stückchen näher zu rücken. Ich prüfe die Jeeps: Zwei Mann im ersten, drei (einschließlich Schwarzbart) im mittleren und zwei im dritten. Jetzt weiß ich es … wenn wir nur mehr Munition hätten. »Ich hole ihn euch, okay? Nur erschießt keinen. Ich hole euch eure Konterbande.«

»Schon besser«, sagt Schwarzbart und grinst wieder mit seinem Haifischmaul. »Schon viel besser.«

Ich gehe rückwärts und lasse die Landwehr nicht aus den Augen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alle sind. Es müssen noch mehr im Wal-Mart sein, aber das spielt keine Rolle. Sie haben ihre Hand ausgespielt, und nun ist es an mir, meine Karten auf den Tisch zu legen.

Als ich den Pick-up erreiche, erwartet mich Julian mit einem frostigen Blick.

»Sch-scht«, flüstere ich und knie mich neben ihn. »Beruhige dich. Ich will dich nicht ausliefern.«

»Und was soll das dann alles?«, zischt er und rückt mit dem Gesicht nah an meins.

»Ich musste sehen, wie viele es sind. Wir müssen jetzt erfinderisch werden. Bleib einfach hier und wirf verdammt noch mal nichts von dem Zeug, solange ich da draußen bin. Wenn du ein wildes Durcheinander hörst, versuch einen der Wagen auszuschalten. Danach gehst du den anderen nach, in die entgegengesetzte Richtung. Entgegengesetzte Richtung, verstanden?«

»Wir haben nichts, womit wir kämpfen können, sie werden uns einfach plattmachen.«

»Nein, werden sie nicht. Vertrau mir einfach, du wirst schon sehen. Hast du die Tüte?«

Er reicht sie mir. In der Hocke drehe ich mich so, dass er meine rechte Seite vor sich hat. »Halt jetzt meine Hosentasche auf.«

»Ja, sicher«, sagt er und lächelt traurig, »netter Versuch.«

»Hör mal, Schätzchen, wenn ich wollte, dass du mir den Schritt massierst, würde ich einfach fragen.«

Julian zieht meine Jeanstasche so weit wie möglich auf und hält sie fest, seine Finger stecken immer noch in den Arbeitshandschuhen. Seine Hand zittert stark. Der Wind hat zugenommen, lässt unsere Kleider und Haare flattern, aber im Windschatten ist das Pulver sicher.

»Das reicht«, sage ich. »Das reicht.«

Ich hole tief Luft, nehme das Tütchen und lasse es in meine Tasche gleiten, wobei ich darauf achte, dass die Öffnung nach oben zeigt. Mit den stumpfen Fleecehandschuhen fällt das ziemlich schwer, aber jetzt ist keine Zeit für Fehler und keine Zeit zum Zögern.

»So«, sage ich, und Julian lässt meine Tasche los. Ich nehme die Pistole von der Heckklappe und stecke sie hinten in den Hosenbund, dann ziehe ich mein T-Shirt herunter, bis ich sicher bin, dass sie gut verborgen ist.

Ich sehe Julian an, das verzweifelte kleine Lächeln, das immer noch Grübchen in seine Wangen furcht. Ich kann nicht sagen, ob er gleich weint oder mich schlägt. Er hat sich verändert, wirkt verletzlicher. Fast sehe ich, wie er als kleiner Junge war, als Kind. Auch ich fühle mich unschuldig und verängstigt. Ich stehe am Scheideweg. Vor mir liegt eine Tat, die ich verabscheue.

»Ich muss gehen«, sage ich. »Bitte schaff es hier raus. Und bitte beschütze meine Freunde.«

»Ich werde dich wiedersehen.«

»Ja«, erwidere ich. »Das wirst du.«

Ich springe hinter dem Pick-up hervor und gehe auf die Jeeps zu, nehme Geschwindigkeit auf, marschiere, so schnell ich kann, ohne zu rennen. Ich komme an der Axt vorbei und lasse sie liegen. Sie können es auf meinem Gesicht lesen. Ich weiß, sie sehen es. Ein Mann in Schwarzbarts Wagen dreht sich und beobachtet mich mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe. Es fühlt sich an, als würde ich eine Grenze überschreiten, ein neues Land mit neuen Gesetzen betreten …

»Hey, hey, hey!«, ruft Schwarzbart und klettert herum, um mich im Visier zu behalten. »Nicht so schnell.«

»Ganz ruhig. Meine Güte. Er will nicht mitkommen«, sage ich mit unbewegtem Gesicht. Ich habe die Fahrerseite des Jeeps erreicht. Schwarzbart hat sich hingesetzt, um mir direkt in die Augen zu sehen. »Da er nicht mitkommt, werde ich dich zu ihm bringen, das ist nur fair.«

»Du bist kaltblütig«, sagt Schwarzbart und mustert mich mit neuer Bewunderung. Er hebt eine Hand, und der Rest seiner Männer scheint sich zu entspannen. »Du bist verdammt kaltblütig.«

»Er ist ein einarmiger Arzt. Was zum Teufel soll ich mit einem einarmigen Arzt anfangen?«

Schwarzbart wird schon wissen, was wir im Namen des Überlebens tun. Und was aus uns geworden ist.

»Magst du Captain America?«, frage ich, als er aus dem Jeep steigt. Ich halte die Tür für ihn auf und trete dann beiseite, nur ein bisschen, sodass ich zwischen ihm und dem Wagen stehe. »Ich stell mir vor, du bist so einer.«

»Wovon zur Hölle redest du, Schlampe …«

»Ich selbst bin kein großer Fan, aber ich erinnere mich an diesen einen Streifen. Ich werde nie vergessen, als er sagt: ›Deine Aufgabe ist es, fest wie ein Baum am Fluss der Wahrheit zu stehen und der ganzen Welt zu sagen: Nein …‹«

Bang – bang!

»Ihr müsst euch ändern!‹«

Keine Munition mehr, Zeit fürs große Finale. Ich grabe meine Hand in das Tütchen, nehme so viel Pulver, wie ich kann, und schleudere es auf Schwarzbart. Es trifft ihn ins Gesicht, in die Augen und knistert wie eine Tüte Brausepulver. Sein Fleisch wirft Blasen und platzt auf. Ich trete ihn in den Magen – ein herzerwärmender Steven-Seagal-Moment. Die anderen Männer versuchen, zum Schuss zu kommen, ohne ihren furchtlosen Führer zu treffen, der schreit und sich die Hände vor sein schmelzendes Gesicht drückt.

Es ist zu spät.

Ich sitze im Jeep, haue den Rückwärtsgang rein und trample aufs Gaspedal. Das Radio brüllt los, was nicht sehr hilfreich ist, denn mein Herz steht kurz davor zu explodieren. Ich kille das Radio, während der Jeep einen Satz rückwärts macht. Dann trete ich auf die Bremse, drehe um neunzig Grad und fahre los. Ich bin sicher, dass sie alle kurz in Panik geraten, sich fragen, ob sie mich oder die Flüchtlinge verfolgen sollen. Sie wählen mich.

Drei Menschen tot, damit zehn andere überleben können – elf, falls ich es irgendwie schaffe, hier lebend rauszukommen. Das Gewehrfeuer folgt mir, Geschosse treffen den Rahmen des Jeeps, singen auf dem Metall wie ein Xylophonhammer. Ich höre, wie der Molotowcocktail explodiert, aber Julian hat nicht getroffen, und die anderen beiden bleiben an mir dran, nicht weit genug weg. Ich ziehe das Tütchen Lauge aus meiner Tasche und werfe es aus dem Fenster. Ich werfe auch die Handschuhe raus. Jetzt muss ich nur noch das Kino finden.

Dort drüben. Auf der anderen Seite der Parallelstraße, vielleicht einen Kilometer entfernt.

Wo ist das Scheißding? Ich kurve um eine Ecke, schlage hart ein, um einem Minivan auszuweichen, der auf der Straße steht. Der tote Landwehrmann auf dem Beifahrersitz poltert gegen die Windschutzscheibe, ein Bach von Blut fließt aus dem Einschussloch in seiner Stirn, sein Schädel schlägt an das Glas. Die Sattelschlepper stehen jetzt links von mir, und ich erkenne flüchtig die Tür, durch die ich hineingeschlichen bin, um Julian zu holen. Im Rückspiegel sehe ich, dass einer der Wagen zurückfällt. Ein Hinterreifen hängt durch. Julians Cocktail muss immerhin ein oder zwei Schrauben hineingeschossen haben, und jetzt können sie mit ihren Kameraden kaum noch Schritt halten.

Der Wal-Mart scheint nicht enden zu wollen, die Straße verläuft dicht an seiner Rückseite entlang. Eine geteilte Fahrbahn mit einem Betonstreifen in der Mitte, der alle zwei Meter mit einem Baum oder Busch bepflanzt ist. Durch die kahlen Bäume sehe ich die Ecke des Wal-Mart und dahinter einen Abschnitt Straße sowie eine Kreuzung. Autos stehen wild über die Straße verstreut, alles erinnert an ein auf den Boden gefallenes Kartenspiel. Meine Brust schmerzt, aber ich weiß nicht, ob das von meiner gebrochenen Rippe kommt oder vom Herzschlag. Mir bleibt nichts anderes übrig als weiterzumachen, vorwärts, diese gewalttätigen Neandertaler auf die Knie zwingen …

Hinter einem Promenadenweg schießt ein helles Vordach hervor. Die marineblaue und gelbe Anzeige kündigt irgendeinen Film an, sieht aber eher aus wie eine Glücksrad-Aufgabe. Die meisten Lettern fehlen, zu viele, um erraten zu können, welcher Film das gewesen sein könnte. Ich versuche, noch fester aufs Pedal zu treten, aber es hat den Boden schon erreicht. Jetzt höre ich Stöhnen und Fluchen auf dem Rücksitz.

Ich muss wirklich zielen üben.

Der Mann setzt sich auf und greift nach mir, als wir den überfüllten Parkplatz des Kinos erreichen. Er wirkt, als sei wegen eines aufregenden neuen Blockbusters die halbe Stadt hier erschienen. Mich beschleicht das Gefühl, dass Maria recht hatte. Haufenweise Autos hier draußen, das bedeutet Hunderte von Leuten – untoten Leuten – da drinnen.

Der Landwehrmann versucht, von hinten mit einer Hand ins Lenkrad zu greifen, die andere tastet nach seiner Waffe. Ich ducke mich, bleibe unten, während wir die offene Schneise zum Kinoeingang entlangrasen. Bei dieser Geschwindigkeit schlagen wir in der nächsten Minute in die Tür ein. Da ist der Klang automatischer Waffen, die von hinten den Jeep beharken, und ein Brechreiz weckender Ruck, als der Hinterreifen getroffen wird. Da er das Lenkrad nicht erreicht, greift er nach meinem Hals. Seine Finger rutschen von meiner Kehle ab, nass von seinem Blut. Sosehr ich auch kämpfe, er kratzt mich, krallt … wir müssen es schaffen, wir müssen weiter …

Ich ramme einen Ellenbogen in Richtung des Kerls, ziele auf sein Gesicht, treffe nur die Schulter. Ein Schuss löst sich, und dem dünnen Schwirren nach zu urteilen geht der Schuss kaum einen Zentimeter an meinem Kopf vorbei. Vor uns ragt das Kino auf, das Vordach verschwindet, als wir unter der überhängenden Dekoration durchrasen. Es ist keine Zeit mehr, den Kerl zu stoppen, keine Zeit, mich zu wehren. Ich lasse meinen Gurt einrasten und sehe, wie die Türen auf uns zurasen, wie der Jeep hinter uns näher und näher kommt …

Ich hefte meinen Blick auf die wandernde Tachonadel.

75 km/h… 80 km/h … 90 km/h…

Der Aufprall wirft mich nach vorne, der Airbag explodiert an meinen Wangen, als die Türen des Kinos vor dem Jeep nach innen wegbrechen. Das Fahrzeug scheint förmlich hochzuspringen, die Hinterräder heben vom Boden ab, bevor sie wieder auf den Beton knallen. Es tut weh, aber ich bin genug auf den Aufprall vorbereitet, um geradeaus zu blicken. Ich sehe den Landwehrmann wie eine Rakete aus dem Rücksitz fliegen, die Windschutzscheibe durchschlagen und in die Lobby segeln. Glas regnet auf die Motorhaube und türmt sich vor der geborstenen Scheibe. Ich habe Mühe, mich zu bewegen. Es fühlt sich an, als hätte ich eine Ganzkörpermassage mit einem Baseballschläger erhalten, aber ich wickle mich aus dem Gurt und falle hart gegen die Tür, taumele hinaus in die dunkle Lobby.

Das Stöhnen, das enthemmte Grunzen klingt mehr nach orgiastischen Bachanalien als nach einer Horde hungriger Untoter. Es ist, als ob sie direkt aus den Wänden kommen, sich die Flure entlangschieben, sich aus jeder offenen Tür und jedem Bogengang ergießen. Es stinkt entsetzlich.

Es sind so viele, die hier für Wochen eingesperrt waren. Wer noch nicht ganz aufgefressen wurde, hat sich in eine ausgemergelte menschliche Hülle mit starren Augen und sabberndem, offenem Mund verwandelt. Der Milizionär ist tot oder stirbt gerade, aber sie stürzen sich auf ihn, bedecken ihn wie ein Schwarm hungriger Fliegen.

Ich bleibe dicht beim Jeep, als der andere Wagen in die Türen kracht, weiterrollt und im Kassentresen hängen bleibt. Wir haben genug Lärm gemacht, um den Rest der Kinobesucher zu alarmieren, also humple ich von dem Jeep weg und ducke mich durch die zersplitterte Tür nach draußen. Ein Blick über die Schulter zeigt mir, wie die anderen Landwehrmänner aus ihrem Wrack gezerrt werden. Es fühlt sich fast richtig an, wie eine Art grotesker Poesie, die Ungeheuer mit Ungeheuern zu füttern.

Natürlich kommt es zu unvorhergesehenen Komplikationen. Ich bin nun ohne Fahrzeug, und der andere Wagen trifft jeden Moment ein. Ich schleiche zur rechten Seite des Parkplatzes, ducke mich hinter verlassenen Autos und verberge mich. Die Untoten im Kino verrichten schnelle Arbeit an der Landwehr und strömen bald aus der Lobby – eine unendliche Kette verhungerter, verzweifelter Zombies, die genau auf mich zusteuern.

Eine Zeit lang kann ich sie auf Distanz halten, weil ich schneller bin, aber meine Brust beginnt ernsthaft zu schmerzen. Außerdem muss ich mir einen Knöchel verstaucht haben, denn er fühlt sich verdreht an, voller Nadeln und Nägel. Verwirrt denke ich, dass die Waffe in meinem Hosenbund ja nur noch zwei Schuss enthält. Sie wird mir also keine Hilfe sein, um den Ansturm der Untoten aufzuhalten, die höchstens noch zehn Meter hinter mir sind. Aber ich weiß, dass mein Manöver gereicht hat, um Renny, Ted, Julian und den anderen genügend Zeit zu verschaffen, sich davonzumachen. Selbst wenn ich es nicht zurück zum Lager schaffe, haben die anderen nun eine Chance zu kämpfen.

Endlich erscheint der dritte Jeep auf der Szene, rollt auf den Parkplatz, wird langsamer. Wahrscheinlich entdecken sie die Verwüstung in der Lobby und die bemerkenswert gerade ausgerichtete Linie von Untoten, die sich direkt auf sie zuschieben.

Sie schießen auf die Untoten, ziehen deren Aufmerksamkeit auf sich, was ein wenig den Druck von mir nimmt. Allerdings lassen sich die Zombies ganz in meiner Nähe, die mir wie Hunde folgen – zielgerichtet, ungehindert von menschlicher Erschöpfung oder Schmerz –, davon nicht aufhalten. Atme, befehle ich mir, atme tief

Mein Knöchel bremst mich, führt zu üblem Humpeln. Ich habe es gerade mal halb über den Parkplatz geschafft. Wie lange halte ich das noch durch? Wie lange, ehe ich stolpere oder zusammenbreche oder in den nächsten Haufen Landwehrmachos stolpere, die mit Gewehren nach ihren Freunden suchen?

Ein Stück weit vor mir sehe ich die Parallelstraße mit ihren dekorativen Bäumen auf dem Betonstreifen in der Mitte. Dort bin ich in offenem Gelände und ein leichtes Ziel. Aber wo soll ich sonst hin? Keuchend und prustend wie ein Marathonläufer erreiche ich die Straße, ziehe meinen Knöchel nach und beiße mir auf die Lippen, um den Strom von Kraftausdrücken zu unterbinden, die ich herausschreien möchte. Von weiter vorne dringt ein Klang wie von einer sterbenden Maschine, die alles gibt, um am Leben zu bleiben, an mein Ohr.

Ich beschirme meine Augen, um etwas zu erkennen, und sehe, wie sie näher kommt, wage aber nicht, langsamer zu werden. Ich kann die Untoten hören. Sie sind nah, so nah … Ich nehme meine Pistole und schieße, aber es klickt nur, leer. Natürlich, da war ja was.

Eine Hupe dröhnt, ich hechte zur Seite und sehe gerade noch, wie Renny an mir vorbeischrammt und die Untoten niedermäht, die mir folgen. Sie ist total konzentriert, schreit dem Mann neben ihr etwas zu. Die Tür öffnet sich mit einem mahnenden automatischen Warnton, ding-ding-ding, und Julian greift mir mit seinem gesunden Arm um die Taille und zieht mich hinein. Bevor ich Luft holen und mich umsehen kann, zerrt er die Tür wieder zu. Renny tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch, und wir lassen das Filmtheater hinter uns zurück.

Ich kann fast nichts hören außer meinem angestrengten Atmen und dem stotternden Motor der Limousine. Jetzt erst bemerke ich, dass nicht nur mein Knöchel sich anfühlt, als würde er gleich abfallen, sondern auch mein Gesicht. Es ist nass, und zwar nicht von Tränen …

»Gott, sieh dich bloß an!«, sagt Julian. Ich versuche mich aufzusetzen und von seinem Schoß zu kriechen. Ted liegt immer noch auf der Rückbank, vor ihm auf dem Boden sitzt Dapper, und für mich ist nirgendwo Platz. Ted sieht friedlich aus … still … betäubt … Julian nimmt seinen Ärmel und wischt mir im Gesicht herum. Es sticht.

»Ich hab den Jeep ins Kino gefahren«, sage ich.

Julian zieht etwas aus meinem Haaransatz. Es fühlt sich an, als gleite eine glühend heiße Nadel aus meinem Skalp. »Scheiße, aua! Was soll das?« Ein spitzes Stück blutigen Glases erscheint in seiner Hand.

»Kannst du atmen?«, fragt er mit gerunzelter Stirn.

»Irgendwie«, murmle ich und kämpfe wieder um meine Sitzposition. »Kann ich mich aufrichten?«

»Ja, aber sei vorsichtig.«

Julian hatte recht. (Unter gar keinen Umständen will ich, dass jemand das zitiert!) Ich brauche dringend eine Atempause.

Er rutscht beiseite, macht ein wenig Platz, sodass ich mich neben ihn quetschen kann. Dann klappt er die Sonnenblende herunter, und ich sehe mich im Schminkspiegel – das Gesicht voller Kerben, Blut rinnt von meiner Stirn, wo Julian die Scherbe herausgezogen hat. Halb um meinen Hals verläuft ein martialisch aussehender blutiger Handabdruck. Ich schaue an mir herunter und entdecke Glas in meiner Sweatshirttasche und den Aufschlägen meiner Ärmel. Überall Glas, überall Schnitte … überall Blut …

Dapper steckt seinen Kopf nach vorne und leckt meine zerschnittene Hand. Er drückt seine Nase in meinen Handteller und lässt mich wissen, wie froh er ist, mich wiederzuhaben.

»Und die anderen?«, frage ich und versuche vorsichtig, meinen Knöchel zu bewegen.

»Sie werden nicht zu uns stoßen. Sie wollten bleiben«, murmelt Julian.

»Was? Bleiben? Wo bleiben?«

»Sie sind zur Farm meines Bruders aufgebrochen, nach Norden. Sie waren nur wegen mir noch hiergeblieben, und jetzt, wo ich gerettet bin … Renny hat ihnen von Liberty Village erzählt, und wir haben ihnen angeboten, ein Auto für sie zu suchen. Aber sie wollten dortbleiben.«

›Deine Aufgabe ist es, fest wie ein Baum am Fluss der Wahrheit zu stehen und der ganzen Welt zu sagen: Nein – Ihr müsst euch ändern!‹

»Ich wünschte, ich hätte ihnen danken können«, sage ich. »Und ich wünschte, ich hätte sie besser kennenlernen können.«

»Apropos«, sagt Renny, die Augen fest auf die Straße gerichtet. Sie fährt auf die County Road 6 und ignoriert die aufgestellten Schilder, die sie auffordern, nicht schneller als 60 km/h zu fahren. Wir rollen parallel zum Highway, der sich links von uns dahinzieht.

»Ich habe ein paar von ihnen dazu gebracht, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Weißt du, wie du das in deinem Dingens machst.«

»Blog?«

»Yeah, Blog«, sagt sie. »Sie haben es nicht getippt oder so, aber ich habe es in deine Laptoptasche getan.«

»Wann?«

»Gestern«, sagt Renny. »Ich dachte mir, das wäre vielleicht gut. Ich dachte, Ted könnte es gefallen, etwas über sie zu erfahren.«

»Hoffst du vielleicht, dass dir jemand dafür einen Anthropologen-Orden verleiht?«, frage ich. Renny hebt die Faust, um mir gegen die Schulter zu boxen, dann hält sie inne und erinnert sich, dass ich neuerdings die physische Widerstandskraft von sechs Tage altem Sashimi habe.

»Wir müssen anhalten und irgendwas besorgen, womit wir sie säubern können«, sagt Julian, der sich eng an die Beifahrertür quetscht, um Platz für mich zu schaffen. »Manche ihrer Schnitte sind hässlich.«

»Erst, wenn wir auf dem Highway sind. Ich möchte etwas Abstand zwischen uns und die guten alten Jungs bringen. Wir müssen ohnehin was zu essen besorgen«, antwortet Renny.

Wie zum Beweis ihrer Worte entfährt meinem Magen ein Knurren, das einen Dobermann in die Flucht geschlagen hätte.

»Hunger«, sage ich mit gerunzelter Stirn.

»Wir halten bald an«, sagt Renny, »ich versprech’s.«

»Ich kann fast nicht glauben, dass du diese Johnnie-Walker-Flasche benutzt hast.«

»Zeiten der Verzweiflung, Süße, Zeiten der Verzweiflung«, knurrt Julian und starrt aus dem Fenster.

Zwischen den Sitzlehnen hindurch werfe ich einen Blick zurück und sehe die Stadt hinter uns entschwinden. Der Rauch steigt von Iowa City auf, von Coralville, von jedem kleinen Halt zwischendurch. Irgendwo führt Dobbs jetzt Überlebende zu seiner Farm, und ich habe keine Ahnung, ob das ein Anfang ist oder eine Art Ende. Ich kann nicht entscheiden, ob wir es richtig gemacht haben. Ist es das, was uns bevorsteht – eingeäscherte Orte hinter uns zu lassen, Feuer in unseren Fußspuren?

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Isaac:

4. November 2009 13:23 Uhr

Dem Himmel sei Dank für kleine Wunder. Das war knapp, was? Froh, dass du es da heraus geschafft hast. Wir sind hier inzwischen über jeden Laden im Umkreis von dreißig Kilometern hergefallen, und ich glaube, wir müssen uns bald eine neue Gegend suchen. Wenn wir nach Norden vorstoßen, bevor der erste wirklich heftige Schnee einsetzt, könnten wir es schaffen, ein dauerhafteres Heim zu finden. Das wäre doch nur gerecht, oder? Du bekommst Liberty Village, und wir brauchen schließlich auch etwas.

Allison:

4. November 2009 14:04 Uhr

Heda, wenn Kanada nicht bockt, könnt ihr’s immer noch mit Colorado versuchen!