25. SEPTEMBER 2009 – DER VERRÜCKTE ZWISCHENFALL MIT DEM HUND IN DER NACHT
Klopf, klopf.
(Komm schon, sag es.)
Na gut. Wer ist da?
BLAGRRUUGGHHEEEFGH.
»Scheiße, du wirst auch langsam irre, oder?« Das war Teds enthusiastische Reaktion auf den Witz. Ich glaube aber, er hat doch ein bisschen gelacht, später, im Stillen. »Erst Phil und jetzt du? Findest du es schön, die ganze Nacht aufzubleiben und über diese Scheiße zu grübeln?«
»Nein«, antworte ich verlegen. »Nicht wirklich.«
’tschuldigung. Das ist die Art blödsinniger Mist, der dieser Tage hier als Humor durchgeht. Es ist trostlos. Irgendwo zwischen meiner zwanzigsten Tüte Maischips und meinem zehnten Fruchtdrink muss mich eine kleine Depression ereilt haben. Ja, es ist offiziell. We’ve lost that loving feeling, unsere Chuzpe, unser joie de vivre. Nicht, dass wir je begeistert davon waren, in einem beigen Pausenraum der Firma festzusitzen, aber immerhin gab es kein Klagen, keine Aphatie, kein leeres Gestarre.
Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell so schlimm werden würde. Janette und Matt haben den Spaß am Kartenspielen verloren und verbringen ihre Tage mit sinnlosen Wortspielen und endlosen Runden von ›Was würdest du lieber tun‹. Phil verlässt sein Büro absolut gar nicht mehr, außer um das Klo aufzusuchen, womit wir bei einem aktuell dramatischen Aspekt unserer Lage sind: dem völlig unbeschreiblichen Horrorkabinett, das unser Klo darstellt.
Es gibt kein fließendes Wasser, nur begrenzte Mengen Klopapier und keine funktionierende Ventilation. Ich überlasse es eurer Fantasie, euch vorzustellen, wie es riecht, denn wenn ich es hier zu beschreiben versuche, endet unser Tête-à-Tête garantiert damit, dass ich mit einem großen Schwall von Maischips und Fruchtdrinks neonorange gefärbter Kotze mein Laptop zerstöre.
Im Ernst, wir stinken grauenhaft.
Das ist etwas, was wir nicht länger fröhlich ignorieren können, nicht nur, weil der infernalische Gestank allmählich anfängt, unter der Pausenraumtür hereinzusickern, sondern auch, weil wir alle viel zu mürrisch und verbittert sind, um uns noch um Manieren zu scheren. Zwischen den scheußlichen Blähungen, unter denen wir alle leiden, und der jauchigen Todeskammer, die nur darauf wartet, mit dem Nächsten, der pissen muss, eine neue Runde Verheerung freizusetzen, ist eine Situation der Alarmstufe Rot entstanden.
Folglich haben wir eine Zusammenkunft einberufen.
»Also, Leute«, sage ich und gebe mir Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen. Ich laufe permanent Gefahr, in haltloses Gegacker auszubrechen. Zum einen, weil wir allen Ernstes eine Versammlung über Fürze abhalten, zum anderen, weil ich seit Tagen nicht geschlafen habe. Ich bin bloß noch die schattenhafte, schwindlige Hülle einer menschlichen Gestalt. Ich weiß, dass die schmutzverschmierten Tränensäcke unter meinen Augen allmählich Drillichtaschen für den militärischen Gebrauch ähneln, aber dies ist eine Angelegenheit, die unverzüglich gehandhabt werden muss, und dazu bin ich fest entschlossen. Ich sehe, dass Ted kurz davor ist loszulachen, also verpasse ich ihm den angemessenen Erwachsenenblick. »Ich glaube, ich muss niemandem erklären, wie fürchterlich grausam es hier riecht«, sage ich und stemme die Hände in die Hüften, um auch durch meine Haltung den nötigen Ernst einzufordern. »Uns sollte etwas einfallen, denn lieber lasse ich mich von den grässlichen Dingern da draußen fressen, als mitzuerleben, wie es hier noch schlimmer wird.«
»Es gibt noch die Toiletten im Flur«, eröffnet Matt, während er eine Tüte Käsechips aufreißt. Er wirkt inzwischen nicht mehr wie ein heimatloser Holzfäller.
»Ja! Genau darauf will ich hinaus. Wir müssen anfangen, sie zu benutzen, aber mit Bedacht, okay? Und ich weiß, das ist jetzt krass, aber wir müssen das Klo hier ausleeren. Wir wechseln uns ab, damit keiner ohnmächtig wird. In der Besenkammer am Ende des Flurs gibt es einen Eimer. Ich glaube nicht, dass sich die Zombies um ein bisschen Scheiße und Pisse kümmern, also kippen wir es kurzerhand raus in den Laden«, führe ich aus. Da schnellt Phils Kopf hoch, als hätte ihn jemand in seine Gedärmski getreten. »Ja, Phil, was gibt’s?«
»Das können wir nicht machen«, sagt er mit überraschendem Nachdruck. Er hat keine Tränensäcke unter den Augen, denn er schläft mehr als wir alle zusammen, mehr als eine narkoleptische alte Katze.
»Wie meinst du das?«, platzt Ted heraus und setzt sich auf, um Phil besser ansehen zu können. Ted isst immer gut und beginnt zuzunehmen. Es steht ihm. Allerdings sieht er mit seiner gesprungenen Brille und dem unbezähmbaren Haar immer noch aus wie ein Pfadfinder. »Wir können das so nicht schleifen lassen, Mann, es ist zu verkackt heftig.«
»Ted hat recht«, sage ich. »Er hat absolut recht.«
»Aber das ist der Laden.«
»Oh, um Himmels willen, Phil, ich glaube kaum, dass wir in den nächsten paar Monaten wieder öffnen werden, okay? Zerbrich dir also bitte jetzt nicht den Kopf darüber. Du bist überstimmt, Scheiße noch mal.« Ich kann gar nicht beschreiben, wie befriedigend es sich anfühlt, ihn kurzerhand in seine Schranken zu verweisen. Er hat sich zwar nicht gerade danebenbenommen, war aber bisher mit Sicherheit auch keine große Hilfe.
»Na ja … versucht es einfach in Richtung der Türen zu kippen«, füge ich hinzu, und das scheint ihn ein wenig zu beruhigen. »Von jetzt an müssen wir die Toiletten hinten im Flur benutzen. Geht nie allein, guckt in alle Ecken und passt auf, dass immer jemand Wache hält. Alle drei Tage leeren wir sie aus.«
Matt und Janette begeben sich widerwillig zur Tür. Sie sehen verbiestert aus, während sie sich bereitmachen, den Eimer aus der Besenkammer zu holen. Bei Matt war das vorhersehbar, aber von Janette hatte ich eigentlich gehofft, die Möglichkeit, etwas zum Wohle aller zu tun, würde sie ein wenig aufmuntern. Phil wandert zurück in sein Büro und knallt die Tür so fest zu, dass die Fotos an den Wänden rascheln und tanzen. Hollianted kommen an meine Seite, und ich bin mordsdankbar für ihr Lächeln, auch wenn sie erschöpft und angespannt aussehen.
»Also, das ist doch ganz gut gelaufen, oder?«, fragt Ted grinsend. Er hat ein wenig Isolierband um das Gelenk seiner Brille gewickelt. Ein charmanter Effekt.
»Wie Brötchenbacken.«
Ich übernehme die erste Scheißeschicht, wie Ted das Unternehmen getauft hat. Es ist eine noch viel üblere Aufgabe als angenommen, und es dauert eine endlose Ewigkeit. Glaubt mir, wenn man einen Eimer randvoll mit schlammigen Fäkalien hat, tut man praktisch alles, um sich ja nicht damit zu bekleckern – oder den Boden des Raums, in dem man leben muss, oder sonst irgendwen, der einem gerade in den Weg gerät. Das bedeutet, es geht nur extrem langsam und stressig voran. Obendrein muss man ständig würgen und versucht, nur durch den Mund zu atmen, aber selbst dann ist es, als würde man es schmecken. Scheißeteilchen, Pissedunst.
Himmel noch mal.
Ich bin auf dem letzten Gang meiner Schicht, als es passiert. Ted hält für mich Wache, während ich meinen kleinen, irren Parcours laufe: Mit dem Eimer das Klo ausschöpfen, ihn vorsichtig und zugleich so schnell wie möglich durch den Pausenraum schleppen, dann rasch zur Tür hinaus und durch den Laden rüber zu den geborstenen Schaufenstern. Ich habe dann doch das meiste nach draußen geschüttet. Phil hat recht, es ist daneben, eimerweise Scheiße auf den Fußboden des Buchladens zu kippen. Also mache ich ihn und, wie ich denke, auch alle anderen glücklich, indem ich den Inhalt des Eimers durch die kaputten Fenster hinausschleudere.
Das gibt mir außerdem Gelegenheit, einen Blick auf die Außenwelt zu erhaschen, und das lasse ich mir nur ungern entgehen. Die rollende Rauchwalze hat sich weitgehend verzogen, und man kann die Gebäude auf der anderen Straßeseite sehen. Auch dort sind sämtliche Schaufenster zerschlagen. Es ist fast ein bisschen befriedigend, die überteuerte Snobschatulle, die sich Boutique schimpft, verwüstet und ausgeweidet zu sehen. Aber nur fast. Hier und da wandern ein paar Zombies durch die Straßen. Irgendwas scheint sie alle in die gleiche Richtung zu ziehen, nach Westen zum Campus der Universität. Es gibt kein Anzeichen menschlichen Lebens, keine Spur von anderen Überlebenden, nur ineinandergerammte Autos, die sich zu Haufen türmen. Das Schlachtfeld eines plötzlichen Gemetzels, Brandspuren und Bremsstreifen verzieren überall die Straße – es sieht genauso aus wie ein Filmset.
Während unseres Staffelmarathons haben Ted und ich eine Theorie entwickelt. Es gibt zwei Arten von Zombies: Stöhner und Dümpler. Beide sind aus offensichtlichen Gründen gefährlich, aber sehr verschieden. Stöhner sind laut, sie stöhnen (ach!) und ächzen und kreischen, wenn sie dich jagen. Sie agieren schneller, zielgerichteter, waghalsiger. Dümpler sind wegen ihrer Lautlosigkeit zweifellos gefährlicher, können sich unbemerkt anschleichen. Aber sie sind langsam und scheinen auch stark verzögert zu reagieren. Ted und ich vermuten, die Stöhner seien hungrig und deshalb ein bisschen wild, Dümpler laufen mit vollem Tank, deshalb bemühen sie sich höchstens darum, ihre knochigen Finger in dein Gesicht zu krallen. Während der Scheißeschicht haben wir von beiden Sorten ein paar gesehen, aber hauptsächlich Stöhner. Ich muss sagen, ich bevorzuge Stöhner, denn sie kündigen ihre Ankunft an.
Ich fühle mich entsetzlich müde, so ausgepumpt, dass ich kaum noch den Blick scharf stellen kann, aber ich werde diesen letzten Trip zu den Fenstern auch noch schaffen, und wenn es der letzte beschissene Akt meines Lebens ist. Ein gutes Beispiel geben, das ist mir klar geworden, ist der Schlüssel zur Anführerschaft. Wenn ich als Erste die Toilette leere, werden die anderen es mir, ohne zu klagen, nachtun, und wenn ich es gründlich mache, setze ich einen guten Maßstab.
Und in diesem Moment geschieht es: Ich hebe den Eimer, halte die Luft an und richte mich auf, um die Jauche aus dem Fenster zu schütten. Da höre ich das Geräusch. Einen Ton, den ich eine Weile nicht gehört habe, ein Klang, bei dem jeder Mensch, der noch Puls hat, hochfährt und atemlos lauscht.
Wuff … Rerr … Wuff, ruff!
Ein Hund, eine Promenadenmischung, und er starrt mich von der Mitte der Straße aus an. Vielleicht ist starren nicht das richtige Wort: Er guckt treu, lieb, niedlich, bettelt mit seinen großen Schokoladenaugen. Er hat dunkle, spitze Ohren, eines in die Höhe gestellt, das andere schlappt. Seine Nase ist braun-rosa marmoriert, und er hat einen robusten, wenn auch ausgehungerten Körper. Da muss deutscher Schäferhund drin sein und vielleicht etwas Pitbull – das Fell hauptsächlich hellbraun und schwarz. Seitlich aus seinem Maul hängt die größte Zunge, die ich je gesehen habe.
»Komm her, kleiner Mann!«, rufe ich.
»Was machst du?«, knurrt Ted.
»Ich rufe den Hund, oder wonach sieht es aus?«
»Das kannst du nicht, Allie, was, wenn er infiziert ist? Und er dürfte ziemlich hungrig sein, er wird all unser Essen fressen.«
»Sei nicht so herzlos, Arschloch. Wir können ihn nicht da draußen lassen! Na los, komm her, wir tun dir schon nichts.«
Der Hund vollführt einige langsame Schritte in unsere Richtung. In diesem Augenblick steht für mich fest, dass er ein kluger und guter Hund ist. Nicht so dumm, auf einen fremden Menschen zuzustürmen, der einen Eimer voll Scheiße balanciert. Vorsichtig schütte ich den Mist aus dem Fenster und setze den Eimer ab. Das scheint das Zeichen zu sein, auf das der Hund gewartet hat. Er trottet heran, beschnuppert mein Hosenbein und leckt dann meine Gürtelschnalle ab.
»Ich liebe dich auch«, sage ich und tätschele seinen dicken, etwas verfilzten Kopf. »Komm mit uns, wir haben Leckerlis.«
Jeder übernimmt klaglos seinen Anteil an der Scheißeschicht, seit der Hund aufgetaucht ist. Was zur Hölle hat so ein fideler Köter bloß an sich, dass Menschen all ihre Sorgen vergessen, ihre massivsten Probleme bewältigen und wacker durchhalten? Es hat Phil regelrecht umgekrempelt, ihm neuen Lebensmut gegeben, einen neuen Daseinszweck, und so ähnlich ist es auch bei allen anderen. Holly kam mir nie wie ein Hundemensch vor, und Janette hatte nur Katzen, aber Dapper (das ist sein Name) hat sie alle im Sturm erobert. Sicher, er frisst, er ist ein weiteres Maul zu füttern und zu tränken, und er muss aus Hygienegründen regelmäßig in den Laden gelassen werden, aber er macht uns alle ein bisschen weniger irre.
Und ich schlafe wieder. Dapper ruht bei mir, an meine Füße gerollt, und presst seine kalte Nase an mein Schienbein. Manchmal leckt er meine Füße. Ich glaube, er weiß, dass wir alle ein Bad gebrauchen könnten. Er beklagt sich nicht, erzählt mir nicht, dass es hoffnungslos ist und wir für immer hier festsitzen, bis das Essen zur Neige geht, bis die Untoten einen Weg hier herein finden. Er sieht nur zu mir auf, mit diesen großen, offenherzigen Augen.
Er ist dankbar und freundlich – und er ist mein.
KOMMENTARE
Isaac:
25. September 2009 20:28 Uhr
Normalerweise soll ja ein neuer Hund eher Schlaf kosten, aber na ja, ich schätze, wer heilt, hat recht. Die Dakotas sind ausgestorbenes Ödland, aber ich ziehe die Stille jederzeit diesen Kreaturen vor. Das Landleben scheint ein gangbarer Weg zu sein. Es gibt hier kaum zwielichtige Gestalten, gegen die man sich wehren muss, nur den Nachbarn, der gelegentlich von der nächsten Farm herüberkommt. Vielleicht solltet ihr anfangen, euer Wasser abzukochen, wenn es schlecht um eure sanitären Verhältnisse steht. Wenn jemand krank ist, haltet ihn fern von den anderen. Bin froh, dass du wieder schläfst, halt uns auf dem Laufenden.
Allison:
25. September 2009 21:51 Uhr
Jaa, ein Hund als Therapie für eine Schlaflose, wer hätte das gedach…ch-chchchchch …