27. OKTOBER 2009 – BESESSEN, TEIL 2

Ich nähere mich dem Problem in Einzelschritten.

Der erste Schritt besteht darin, mein Laptop zurückzubekommen, um kleine Siege zu kämpfen und zuzusehen, wie weit ich mit unserer Kerkermeisterin kommen kann. Als sie das nächste Mal mit Essen kommt, warte ich an der Tür.

»Kann ich mein Laptop haben?«, frage ich in meinem allerhöflichsten Umgangston.

Sie lacht und schüttelt den Kopf. Dann stößt sie den Teller so heftig unter der Tür durch, dass der größte Teil des Haferbreis über den Tellerrand schwappt.

»Bitte?«

»Nein.«

Als sie das nächste Mal kommt, versuche ich das Gleiche. »Kann ich mein Laptop haben? Ich will etwas tun, sonst werde ich hier unten verrückt.«

»Du wirst Hilfe rufen«, antwortet sie und leuchtet mir mit der Taschenlampe direkt in die Augen. »Zu viel krumme Touren.«

»Nein«, entgegne ich und schüttele eindringlich den Kopf. »Wenn es kein Internet gibt, keine Verbindung, kann ich auch nicht um Hilfe rufen. Ehrlich, ich verspreche, ich will mich nur beschäftigen. Keine krummen Touren.«

»Nein.«

»Aber …« Scheiße, wie krieg ich sie bloß rum? »Aber ich muss meine Gedanken sortieren. Ich habe nachgedacht … vielleicht habt ihr Leute ja recht. Mit dem ganzen Ende der Welt und so.«

»Wir haben recht?«

»Jaah! Ja! Ich müsste nur mal einiges durchdenken und meine Gefühle aufschreiben … Das hilft wirklich, es hilft mir, meine Gedanken zu sortieren. Keine krummen Touren, ich versprech’s.«

»Keine krummen Touren?«, wiederholt sie, es klingt – neugierig.

»Ganz sicher nicht.«

Eine Stunde später kommt sie mit meinem Rucksack wieder. Bevor sie das Vorhängeschloss aufschließt, untersucht sie ihn und nimmt alles heraus, was ihr »krumm« vorkommt – einen USB-Stick, ein Taschenmesser, eine Haarnadel, eine CD. Ich warte an der entgegengesetzten Wand, weit weg von der Tür, um sie in Sicherheit zu wiegen, bis sie vorsichtig aufschließt, den Rucksack hereinwirft und die Tür wieder zuknallt.

»Keine krummen Touren!«, ruft sie und rüttelt drohend am Gitter.

»Abgemacht. Keine krummen Touren.«

Es gibt ohnehin keine Verbindung und wohl auch keinen Strom, also bin ich gezwungen, sparsam die Batterie zu nutzen. Ich öffne das Laptop lediglich, um damit zu leuchten und die Zelle zu untersuchen. Ich schreibe nur das Allernötigste auf, damit ich mich später an alles erinnere. Ich ahne, dass es einen Weg nach draußen gibt. Unsere Wächterin ist nicht besonders helle, und das macht mir Hoffnung. Ich lasse den Bildschirm in Neds Zelle scheinen. Er sitzt dicht bei den Ketten und blinzelt mich an. Seine blauen Augen glühen im Schein des Computers. Über einem Auge erkenne ich einen tiefen Schnitt und auf dem Wangenknochen einen Bluterguss.

»Phase eins ist abgeschlossen«, sage ich grinsend. Der pochende Kopfschmerz bringt mich zwar immer noch um, aber ich bin stolz auf mich.

»Ich glaube es nicht«, sagt Ned mit einem Kopfschütteln. »Du bist ernsthaft am Arsch, wenn sie rauskriegen, dass du deine Meinung nicht wirklich geändert hast. Sie werden dir mit deinem Laptop den Schädel einschlagen.«

»Die Nummer mit dem Konvertieren ist vielleicht gar keine schlechte Idee. Ich meine, womit genau könnte ich meine Glaubensänderung unter Beweis stellen? Indem ich mit dir ficke?«

»Ha, ha.«

»Vielleicht finden sie jemanden, der total sexy ist, als ihren Adam. Man kann nie wissen …«

»Du bist durchgedreht.«

»Nun sei doch nicht so voreingenommen, Ned. Wir alle trauern auf verschiedene Art. Manche von uns versuchen weiterzuleben, das Gute im Schlechten zu finden, sich darauf zu verlassen, dass es immer einen Silberstreif am Horizont geben wird. Andere werden irre und begründen einen Kult des Jüngsten Gerichts. Jedem das seine und so weiter. Mit welchem Recht maßt du dir an zu entscheiden, ob sie mit ihrem Weg falschliegen?«

»Ich glaube, dein winziger Erfolg ist dir zu Kopf gestiegen«, sagt er und streckt sich auf dem Boden aus.

»Nicht ganz. Was haben wir denn heute gelernt? Helga ist ein Schwachkopf mittleren Grades, leichtgläubig, wie sich gezeigt hat, und durchaus willens, mit uns zu verhandeln. Ich würde sagen, das ist ein gigantischer Schritt für die Menschheit.«

»Ja, und wenn du nicht gerade Scheiß-MacGyver bist, wird uns das Laptop nicht beim Ausbrechen helfen.«

»Politik der kleinen Schritte, Ned. Politik der ganz kleinen Schritte.«

»Weißt du was, wenn du es schaffst, uns hier rauszubringen, lege ich persönlich Lydia für dich um«, sagt er, lässt ein lautes Lachen ertönen und würgt es dann hastig ab, als er keine Antwort bekommt. Ich kämpfe mit jener Art eisiger Schwärze, die sich im Magen ausbreitet, wenn man an eine heftige Unannehmlichkeit erinnert wird.

»Entschuldigung«, meint er.

»Schon gut«, erwidere ich ungeduldig.

»Wir können darüber reden. Ich bin ein guter Zuhörer.«

»Wir können auch über dich und Corie sprechen.«

Erneutes Schweigen. Autsch.

»Das ist … sie ist ein Teil dieses Ganzen, Allison. Sie gehört dazu. Ich kann nur hoffen, sie ist noch die alte Corie, um meine Kinder zu beschützen.« Beim letzten Wort bricht seine Stimme. »Alles Weitere wäre ein Wunder. So oder so brauche ich Ablenkung von … alledem. Also musst du jetzt reden.«

»Es gibt nichts zu sagen.«

Stille. Gelegentlich höre ich ein Stück entfernt ein schwaches Tropfen. Das Plip-plop in einer Pfütze, die Geburt einer Schimmelkolonie. Dann, aus der klammen Dunkelheit, erklingt ein leises Pfeifen, erst zögernd, dann zuversichtlicher. Das Thema ist ein Ohrwurm, es setzt sich sofort im Kopf fest, und mit müheloser Grausamkeit dringen die Worte in mein Bewusstsein …

Let’s go fly a kite

Up to the highest height!

»Hör auf!«, fauche ich und werfe eine Hand voll Zementbrocken gegen die Stäbe. Neds heiseres Gelächter hallt über den feuchten Boden.

Eine Weile schweigt er, dann fragt er: »Darf ich einfach etwas sagen?« Ich höre das Rascheln seiner Jeans auf dem Boden, als er sich der Kettenwand nähert, die uns trennt. Ich finde keine Antwort, also spricht er weiter. »Zwischen uns befindet sich eine Trennwand, also mach ich einfach weiter und bin ganz ehrlich. Lydia ist nur eine bequeme Entschuldigung. Du hattest die ganze Zeit Angst davor, dich zu sehr auf Collin einzulassen.«

»Sie ist keine Entschuldigung, Edward«, entgegne ich. »Sie sind verheiratet, weißt du, gebunden im heiligen Stand der Ehe und so weiter.«

»Sicher, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du entsetzliche Angst hast, ihn zu verlieren.«

»Ja, ich habe Angst. Falls du es noch nicht bemerkt hast, die Welt bricht gerade zusammen. Die ganze Zeit sterben Leute. Das ist ein bisschen beängstigend. Und natürlich auch, dass er eine Vollidiotin heiraten konnte.«

»Wie in aller Welt sollte ein Mann so einem Auftritt widerstehen können?«

»Halt’s Maul.«

Er hat wirklich Glück, dass die Kettenwand zwischen uns ist. Sonst hätte ich ihm wahrscheinlich seinen verflixten Hals umgedreht.

»Du versuchst nicht mal, den Kampf aufzunehmen? Ein bisschen Feuer zu zeigen? Ein kleines Bekenntnis?«

»Ich kann mich nicht zu einem verheirateten Mann bekennen. Das ist wie … ich weiß nicht … wie der Versuch, einen Hamburger mit süßem Brötchen zu essen.«

»Was?«

»Ach, vergiss es, ich bin bloß hungrig«, knurre ich. »Wozu soll ich mich denn bekennen, wenn der Mann sich bereits anderweitig bekannt hat. Es gibt auch nichts, wovor ich Angst haben müsste, weil er mir gar nicht gehört, nie mir gehört hat.«

»Anderweitig bekannt? Seine Frau ist für ein paar lächerliche Wochen verschollen, und er verliebt sich prompt in dich? Glaubst du nicht, das ist ein Zeichen für heftigen inneren Gefühlsaufruhr? Schreit das nicht nach einer baldigen und unvermeidlichen Scheidung?«

»Warum steigst du nicht mal vom hohen Ross des rechtschaffenen verheirateten Spießers herunter.«

»Es gibt doch gar kein Ross, Allison, nicht mehr. Meine Frau ist … irgendwo anders … jemand anders«, sagt er, seine Stimme webt sich in die dünne Luft. »Und vielleicht ist das der Punkt. Leute ändern sich. Vielleicht lag das mit ihm und Lydia längst auf Eis. Das hättest du sicher herausgefunden, wenn du dir je die Mühe gemacht hättest, mit ihm darüber zu reden.«

»Nein, keine Chance! Du kannst mir doch nicht erzählen, ich soll den Kampf aufnehmen, Feuer zeigen, und im nächsten Atemzug feststellen, dass du Corie aufgegeben hast – das kannst du einfach nicht bringen!«

»Liebst du ihn?«

»Vergiss es.«

»Tust du das?«

»Ja.«

»Dann hör auf, dich wie eine gottverdammte beschissene Pussy aufzuführen.«

»Wow«, sage ich und sacke schwer gegen die Zementwand hinter mir. Vergiss die Wand, die Ketten, den ganzen Raum. Ich fühle, wie es mich in die Eingeweide trifft. »Du hast die Hemmungen des Vaterschicksals wirklich überwunden. So viel ist sicher.«

»Habe ich recht?«, fragt er.

»Sicher, ja. Du hast recht.«

»Dann geh wieder an die Arbeit, und bring uns hier raus.«

210339.jpgKOMMENTARE

Isaac:

27. Oktober 2009 13:34 Uhr

Wie gemein, uns einen ganzen Tag lang auf die Folter zu spannen. Kommt bald Teil 3? Besser wär’s!

Steveinchicago:

27. Oktober 2009 14:06 Uhr

sie liebt es, uns zu quälen, isaac. da wir gerade von quälen sprechen, wie fühlt es sich an, mit einem hobbypsychologen eingesperrt zu sein? und erzähl mir nicht, wir müssen noch einen tag warten, um den rest zu erfahren!