42. Kapitel
Siglufjörður,
Freitag, 23. Januar 2009
Es lag noch immer dicker Schnee auf Straßen und Dächern, als Ari frühmorgens zum Kleinboothafen hinunterging; er hatte nicht richtig schlafen können. Auf weiter Flur waren die Zäune im Schnee versunken, und an einigen Stellen reichte der Schnee sogar bis an die Fenster. In einem Garten saß eine Drossel auf dem Pfosten einer Wäscheleine. Bei näherem Hinsehen hatte sich eine Schar Drosseln versammelt, um sich das Futter zu schnappen, das ein guter Hausbesitzer im Garten verteilt hatte.
Ari ging auf die Landebrücke hinaus und schaute über das aufgewühlte Meer, die majestätischen Berge. Der Sommer schien so weit weg zu sein. Würde er immer noch in Siglufjörður sein, wenn er endlich käme? Oder würde Tómas ihn mit Schimpf und Schande wieder in den Süden schicken? Selbst wenn alles gutginge, er den Posten behalten und die Klage von Kalli zu nichts führte, würde er dann trotzdem hierbleiben wollen?
Er war ziemlich stolz über den Erfolg, den er doch zu verbuchen hatte, obwohl es ihm nicht gelungen war, das Rätsel um Hrólfurs Tod zu lösen – falls es denn mit seinem Tod tatsächlich etwas Geheimnisvolles auf sich hatte.
Er war wahrscheinlich trotz allem auf dem richtigen Weg, der Beruf des Polizisten passte zu ihm. Er musste dem Dorf eigentlich eine Chance einräumen, wenn er seinen Job hier behalten würde.
Dann war da Ugla. Er wusste nicht, ob er in sie verliebt war, wollte es aber genauer wissen.
Sie hatte ihr Bestes getan, um ihn davon zu überzeugen, dass er das Dorf nicht gleich verurteilen dürfe.
»Warte nur bis zum Frühling«, hatte sie gesagt. »Manchmal erwacht man dann damit, dass der Nebel über dem Fjord liegt, man sieht nicht einmal das Meer – sieht vielleicht nur knapp die Silhouetten von einer oder zwei Bergspitzen, als ob sie über dem Dorf in der Luft schwebten. Dann wird es auf einmal hell, und die Sonne blinzelt hervor. Wenn du einen solchen Tag erlebt hast, dann willst du nie wieder umziehen.« Sie konnte sehr überzeugend sein.
Die steife Beziehung mit Kristín in den vergangenen Wochen war für Ari ziemlich schwierig gewesen. Er war sich so gut wie sicher, dass sie diese Beziehung schon lange aufgegeben hatte.
Er hatte zumindest mit Ugla die Grenze überschritten – zuerst die Küsse, und dann hatte er ihre Einladung, mit ihr ins Schlafzimmer zu gehen, angenommen, hatte sich bei vollem Bewusstsein dafür entschieden, mit ihr zu schlafen, aber sofort danach ein schlechtes Gewissen bekommen. Konnte es Kristín nicht antun – wollte sich zuerst orientieren, wollte sich zuerst vergewissern, wo sie standen, falls es irgendwelche Zweifel gäbe, wollte er die Beziehung dann formell beenden.
Verdammt, es war schwierig gewesen, Ugla allein im Bett zurückzulassen, beinahe ganz nackt. Sie war sehr schön. Aufregend in Jeans und einem engen, weißen T-Shirt, aber unwiderstehlich, wenn die Kleider auf einem Haufen auf dem Boden lagen.
Er fühlte sich wie ein vollständiger Idiot, als er vorgab, damit noch etwas warten zu wollen. Nannte den Grund aber nicht. Ugla wusste noch immer nichts von Kristín. Das würde ein schwieriges Gespräch werden.
Ari schaute zu den Bergen hoch. Er hatte immer gedacht, dass er in Reykjavík im Schutz der Esja wohnte, und bemerkte erst jetzt, was es tatsächlich hieß, im Schatten der Berge zu leben. Die Esja war so weit von seinem Haus in der Innenstadt entfernt, doch hier schienen die Berge greifbar nah. Er hatte die Nachrichten aus Reykjavík wegen der Demonstranten hören und sehen müssen, das alles hatte nicht weit von seiner Wohnung entfernt stattgefunden, die Regierung stand auf wackligen Beinen, es waren geschichtsträchtige Zeiten, er wäre direkt am Puls der Zeit gewesen, hätte das alles live miterleben können, wenn er nicht nach Norden gezogen wäre. Doch nichts davon schien ihn jetzt zu beschäftigen. Diese Ereignisse fanden ganz woanders statt – beinahe wie in einer anderen Welt.
Er schaute über den Fjord, konnte ihn sich an einem spiegelglatten und sonnenreichen Sommertag vorstellen. Sog die Luft tief ein und atmete sie aus.
***
Ari ging auf dem Weg nach Hause am Rathausplatz vorbei und traf dort auf Pálmi.
Pálmi nickte ihm zu, wollte seines Weges gehen, blieb dann aber stehen und sagte mit leiser Stimme: »Herzlichen Dank.« Die Worte waren bedeutungsschwer.
»Keine Ursache. Hat Tómas mit dir geredet?«
»Ja, gestern Morgen.«
»Er kommt anscheinend davon, trotz allem.«
»Das spielt für mich keine Rolle«, sagte Pálmi. »Es war schrecklich, meine Mutter zu verlieren – ich hatte nicht einmal Zeit, mich zu verabschieden, es ging alles so schnell. Es erklärt jedenfalls einiges, falls … falls Kalli das getan hat. Erklärt unter anderem, warum sie so verarmt starb, eine Frau, die nie eine Krone verbraucht hat – und wie Kalli sich diesen Geländewagen leisten konnte.«
»Tómas hat mit dem Mann geredet, der Kalli das Auto verkauft hat, er hat gestern am späteren Nachmittag mit ihm geredet. Er konnte sich noch gut daran erinnern – der Junge war mit Bargeld gekommen und hat den Wagen an Ort und Stelle bezahlt.«
Pálmi nickte und sagte dann mit leiser Stimme: »Ihr dürft meinetwegen die Leiche ausgraben, wenn ihr wollt – wenn ihr denkt, dass es euch helfen kann, ihn zu überführen.«
»Wir werden sehen«, sagte Ari. »Ich schaue morgen Abend bei euch vorbei.«
Die Premiere des Theaterstücks hatte sich zu einem Großereignis entwickelt – die Tickets waren im Nu ausverkauft. Alle wollten das letzte Werk sehen, für das Hrólfur verantwortlich zeichnete, das Stück, das ihn vielleicht das Leben gekostet hatte.
***
Die Straße nach Siglufjörður war schließlich am späteren Nachmittag am Freitag geräumt worden, und Ari fühlte sich, als ob eine schwere Last von ihm genommen worden sei. Dennoch fiel es ihm schwer, einzuschlafen. Die Gedanken drehten ihre Kreise, er war gespannt auf den morgigen Tag – gespannt, Ugla bei der Premiere zu treffen. Schließlich ging er nach unten ins Wohnzimmer und holte das Buch, das sie ihm geliehen hatte. Das Meisterwerk. Nördlich der Heide. Es war ein gutes Gefühl, in Hrólfurs Buch zu blättern, ihm den gebührenden Respekt zu zollen.
Das Buch entführte ihn unvermittelt in eine Zauberwelt, die Erzählweise und der Schreibstil, und nicht zuletzt die Gedichte, Linduljóð, wehmütige Liebesgedichte, und noch viel, viel mehr. Ari legte das Buch nicht zur Seite, bis er es zu Ende gelesen hatte; danach schlief er sofort ein.