9. Kapitel

Sie hatte keine Ahnung, was er vorhatte.

Da kam ihr ein schlimmer Verdacht, ein Gedanke, den sie nicht zu Ende zu denken wagte.

Was konnte ein junger Mann von einer wehrlosen Frau schon wollen an einem Freitagabend?

Es ging ihr durch den Kopf, seine Warnung zu ignorieren und einfach zu schreien, aus voller Kehle und ganzer Kraft zu schreien – aber es waren nur wenige in den Straßen unterwegs, große Gärten lagen zwischen den Häusern.

Sie war im eigenen Wohlstand gefangen, in diesem großen Einfamilienhaus, in dieser ruhigen Gegend – wo sie sich von den Problemen der Welt zurückziehen konnte.

Er schwieg, schaute um sich. Sie wagte nicht, etwas zu sagen. Sie getraute sich kaum, ihn direkt anzuschauen. Er musterte das Wohnzimmer. Sagte nichts. Das Schweigen war bedrückend; das Schweigen und die Ungewissheit.

Verdammt nochmal, warum sagte er denn nichts? Einfach etwas, damit sie nicht länger alleine mit ihren Gedanken daliegen musste.

Sie musste an ihre beiden Kinder denken, die schon lange aus der Stadt weggezogen waren – beide waren verheiratet, hatten Kinder. Es war unwahrscheinlich, dass sie ihr zu Hilfe kämen, sie besuchten die Eltern nur selten, nur in den Sommerferien und an den Feiertagen.

Nein, sie war allein mit diesem unbekannten Mann.

Er stand immer noch unbeweglich und schien das Wohnzimmer zu mustern. Das Wohnzimmer war wirklich stattlich, wie aus einer Designerzeitschrift herausgeschnitten; zwei Aquarelle an der Wand – Landschaftsbilder vom Land –, ein stilechter Wohnzimmertisch und ein modernes Ledersofa, eine alte Holzkommode – ein Erbstück aus der Familie ihres Mannes – und zudem der Sessel des Hauses, ein unglaublich teures Designerstück aus Leder, das ihr besonders am Herzen lag. Sie schnappte tief nach Luft, als er sich auf den Ledersessel fallen ließ und mit der Messerspitze über die Lehne strich, dann zu ihr hinüberblickte, etwas sagte, ein Wort, mit heiserer Stimme, ein halbes Flüstern, als ob er nicht wollte, dass sie später seine Stimme wiedererkennen könnte. Das war eigentlich positiv, genauso wie die Tatsache, dass er sein Gesicht verhüllt hatte – vielleicht würde er sie am Leben lassen.

Sie hatte ihn nicht richtig gehört, bat ihn, es zu wiederholen. Er fragte nach dem Schmuck. Das ist also einfach ein verdammter Dieb, dachte sie bei sich.

Sie stand auf, ihr wurde schwindlig, sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten und deutete zum Flur, in Richtung Treppe. Der Schmuck befand sich hauptsächlich im Schlafzimmer im oberen Stock – die teuren Stücke hatte ihr Mann allerdings im Tresor im kleinen Abstellraum unten weggesperrt, zusammen mit verschiedenen Dokumenten und anderen Wertsachen, aber zum Glück wusste sie die Zahlenkombination nicht, um den Tresor zu öffnen.

Er hielt noch immer das Messer in der Hand, salopp, aber doch, als ob er es auch benutzen würde. Sie strauchelte die Treppe hoch, er folgte ihr; der schwere Schritt echote in ihrem Kopf. Sie zeigte ihm sofort die Schmuckschatulle im Schlafzimmer, sah keinen Grund, warum sie das hinauszögern sollte – glaubte immer noch fest daran, dass er sie am Ende freilassen würde.

Er kippte den Inhalt der Schatulle auf das Bett und wühlte darin herum – wühlte in allen Erinnerungen; da war der Verlobungsring, Geburtstagsgeschenke, Hochzeitsgeschenke. Sie dachte an ihren Mann; was, wenn er sie nicht freiließe, was wenn … Sie dachte an die Zukunft; die älteren Jahre, die guten Jahre – wenn sie öfters verreisen, sich die Welt anschauen wollten.

Sollte dieser verdammte Kriminelle das alles zerstören? In diesem Augenblick beschloss sie, dass er damit bei ihr nicht durchkommen würde.