28. Kapitel
Siglufjörður,
Freitag, 16. Januar 2009
»Oh Jesus, mein bester Bruder.« Der Gesang hallte im Saal nach. Diejenigen Bewohner des Altersheimes, die fit genug waren, um an der Morgenandacht teilzunehmen, hatten sich dort versammelt. Einige waren mit Leib und Seele dabei, andere verhielten sich ruhiger und hatten mehr Interesse daran, abzuschalten und nur dabei zu sein. Ari erkannte das junge Mädchen, das den Gesang leitete, er konnte sich aus dem Theologiestudium an sie erinnern – er erkannte ihr Gesicht, hatte aber noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Nun waren sie also beide in Siglufjörður im Norden gelandet – vermutlich machte sie ein Praktikum hier; er hatte sein Studium aufgegeben.
Der gestrige Tag war ruhig verlaufen; das Messer und ein paar andere Gegenstände aus der Wohnung von Linda und Karl waren bereits zur genaueren Analyse in den Süden geschickt worden. Ari hatte immer noch den Auftrag, verschiedene Informationen zusammenzutragen, die etwas zu den Ermittlungen in Sachen Todesfall von Hrólfur beitragen konnten. Die Neuigkeit, dass Hrólfur möglicherweise ein Kind hatte, war für Tómas eine Überraschung gewesen.
Ari stand in der Tür und lauschte dem Gesang. Die Krankenschwester, mit der er geredet hatte, fand es selbstverständlich, dass er mit Sandra sprechen konnte, hatte ihn aber darum gebeten, die Morgenandacht möglichst nicht zu stören. Sie hatte ihm die alte Dame im Rollstuhl gezeigt, die eine gehäkelte Decke um ihre Beine geschlungen hatte und mit Inbrunst mitsang.
Ari war sich ziemlich sicher, dass er den Glauben entweder an dem Tag verloren hatte, als sein Vater verschwand, oder später im selben Jahr, als er erfuhr, dass seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Auf jeden Fall glaubte er von da an an nichts mehr, außer an sich selber, obwohl es von Tag zu Tag schwankte, wie sehr er an sich selbst glaubte. Das Studium der Theologie hatte ihn später wieder etwas näher an das Allmächtige herangeführt, wenn auch auf entgegengesetzte Weise – wissenschaftliche Überlegungen, Kirchengeschichte, Religionsgeschichte, all das bestätigte ihn in dem Glauben, dass es kein Leben nach diesem Leben gab – keiner schaute auf ihn herab, keiner passte auf ihn auf, außer er selbst. Der Gesang hielt an, das Lied, das er früher so oft in der Sonntagsschule gesungen hatte. War dies das Schicksal, das ihn dazu zwingen würde, dieselben Psalmen wieder zu singen, wenn er im hohen Alter im Altersheim landen würde? Psalmen zu singen, ohne den Worten irgendeine Bedeutung abringen zu können.
Aris frühere Studienkollegin sprach ein kurzes Gebet und verkündete dann laut und deutlich, dass der Morgenkaffee bereitstehe für diejenigen, die Interesse daran hätten. Sandra hielt eine Tasse in der Hand, als Ari auf sie zuging und sich vorstellte. Er sprach laut und deutlich.
»Du brauchst nicht so laut zu reden, mein Guter, mein Gehör ist noch ganz in Ordnung. Es sind nur meine Beine, die nicht mehr so richtig wollen.« Sie lächelte. Ihr Gesicht war klein und mit feinen Gesichtszügen versehen; sie hatte eine dünne Stimme, sprach aber deutlich und klar. Sie nahm vorsichtig einen Schluck von ihrem Kaffee.
Ari hielt nach einem Stuhl Ausschau.
»Wir brauchen nicht hier sitzenzubleiben. Ich habe ein nettes Zimmer am Ende des Ganges. Kannst du mich dorthin fahren?«
Er schob den Rollstuhl langsam und ruhig vor sich her.
»Wie alt bist du, mein Freund?«
»Fünfundzwanzig.« Fügte dann hinzu: »Später in diesem Jahr.« Er konnte die alte Dame nicht einfach belügen, selbst wenn die Lüge harmlos war.
Sie waren in ihrem Zimmer angelangt, in dem es ein einfaches Bett, eine alte Kommode und einen kleinen Hocker gab. Auf der Kommode standen ein paar eingerahmte Fotos, einige waren farbig, andere in Schwarzweiß und ziemlich vergilbt. »Mein Mann«, sagte sie und deutete auf ein schwarzweißes Foto. »Meine Kinder und Enkelkinder auf den anderen Fotos. Ich habe in all den Jahren wirklich Glück gehabt.« Sie lächelte ein verschmitztes, aber feines Lächeln.
Ari setzte sich auf den Hocker, der neben dem Bett stand. »Sollen wir jemanden holen, um dir hineinzuhelfen?«
»Nein, das Glück sei mir hold, ich möchte lieber hier sitzen, solange es geht, und besonders, wenn ein so hübscher Mann zu Besuch ist.« Ari lächelte höflich, wollte sich direkt dem Thema widmen.
»Wie ist der Straßenzustand?«, fragte sie. »Hattest du keine Probleme, zu Fuß herzukommen?«
»Ich bin mit dem Wagen gekommen«, antwortete Ari. »Mit dem Geländewagen der Polizei.«
»Sag mir eins.« Sie schaute ihm mit einem ernsten Ausdruck in die Augen. »Warum besitzen alle so große Geländewagen hier im Dorf? Ich verstehe das einfach nicht. Früher besaßen die Leute keine so großen Wagen. Die Menschen besaßen kaum Autos – und sind ganz gut damit gefahren.«
»Tja … das ist wohl, weil die Leute ab und zu aus dem Dorf herauskommen wollen, auch wenn das Wetter schlecht ist.«
»Warum nur?«
Ari verstand nicht.
»Warum nur wollen sie aus dem Dorf herauskommen?«
Ari hatte keine Antwort auf diese Frage.
»Bist du hierhergekommen, um mich nach Hrólfur zu fragen?«, fragte sie dann.
Ari nickte mit dem Kopf.
»Das habe ich vermutet, mein Bester. Der gute Kerl. Er hatte nicht viele Freunde; vielleicht war ich sein bester Freund, die letzten Jahre zumindest.«
»Kam er oft zu Besuch?«
»Jede Woche, immer zur selben Zeit – er wohnte nicht weit von hier, am Hólavegur. Ein guter Spaziergang für ihn.«
»Was für ein Mensch war er?«
»Warum fragst du?« Sie schaute ihn argwöhnisch an. »War es nicht ein Unglück?«
»Das untersuchen wir gerade. Ich möchte gerne glauben, dass es ein Unfall war, doch wir müssen die andere Möglichkeit mit Sicherheit ausschließen können.«
»Hatte er sich nicht … ja, ein paar Schlucke gegönnt, der Kerl?«
Sie schien alles genau mitzuverfolgen; Ari beschloss, ihr reinen Wein einzuschenken. »Doch, er schien schon ein wenig getrunken zu haben.«
»Ein wenig; nun, naja. Nun, naja. Er war eine vielfältige Persönlichkeit, der Hrólfur, das kann ich dir sagen. Ich konnte ihn nie ganz durchschauen. Ich kann mich noch aus alten Zeiten an ihn erinnern, bevor er nach Süden gezogen ist. Dann wurde er ein weltberühmter Schriftsteller – das ist ihm ziemlich zu Kopf gestiegen. Er war stets so ehrgeizig; immer bereit, etwas Außergewöhnliches zu tun, die Welt kennenzulernen – was er auch tat. Er reiste viel, nachdem das Buch herausgekommen war.« Sie machte eine kurze Pause und ruhte ihre müden Augen aus. »Dann kam er wieder nach Hause. Die Menschen kommen immer wieder nach Hause, nicht wahr? Damals war er hier oben berühmter als unten im Süden. Es ist schwierig, wenn man vergessen geht. Er durfte aber stolz darauf sein, was für ein großartiges Buch das war. Einfach ein absolut phantastisches Buch. Hast du es gelesen?«
»Nein, noch nicht – aber ich habe es ausgeliehen.«
»Du musst es lesen. Du wirst es nicht bereuen.« Dann fügte sie noch hinzu: »Warum bist du eigentlich hierhergezogen? Hier gibt es keinen Hering mehr.«
»Ich habe ein gutes Jobangebot bekommen.«
»Mit alten Damen im Altersheim über verstorbene Schriftsteller zu labern … ist das so spannend? Du hättest während der Heringsjahre hier sein sollen, das kann ich dir sagen. Das war ein Leben. Ich begann mit dreizehn Jahren im Hering zu arbeiten, ihn zu salzen, und meine Kinder begannen noch früher. Die Jüngste war acht, als sie mit dem Salzen begann. Das ist doch heute sicher verboten?« Sie lächelte. »Es war wie im Märchen, hast du das gewusst? Wie im Märchen, als der Hering kam – und wie ein Albtraum, als er nicht mehr kam.«
***
Sie bekam einen verträumten Gesichtsausdruck, schaute Ari nicht mehr länger an, sondern in die Leere, auf vergangene Tage; es war möglich, dass sie im Hintergrund plötzlich den Heringswalzer wieder hören konnte.
»Ich brauchte zu meinen besten Zeiten nur gerade mal zwanzig Minuten, um ein Fass zu salzen. Zwanzig Minuten. Viele von ihnen schauten mich mit neidischen Blicken an. Damals hat man schon das eine oder andere aus sich herausgeholt.« Sie lächelte. »Du hättest die Boote sehen sollen, die jeweils mit dem Hering kamen – sie konnten sich kaum noch über Wasser halten, so beladen waren sie. Es war ein herrlicher Anblick. Bist du schon einmal den Berg hinauf in die Mulde bei Hvanneyrarskál gegangen?«
Ari schüttelte den Kopf, war froh, dass sie ihm erneut in die Augen schaute; sie war nicht mehr länger in den Heringsjahren verloren.
»Ich habe gehört, wie sie besungen wird«, sagte er kleinlaut, beschämt darüber, dass er den Ort selbst noch nicht besucht hatte.
»Du solltest diesen Sommer dorthin gehen. Dort haben viele Liebesabenteuer ihren Anfang gefunden.«
Er nickte mit dem Kopf und lächelte.
»Aber sag mir, in Bezug auf Hrólfur …«
»Ja, verzeih, mein Guter – ich habe mich total vergessen.«
»Das ist schon in bester Ordnung.« Er lächelte erneut. »Sag mir, glaubst du, dass es irgendeinen Grund gibt, aus dem jemand Hrólfur die Treppe hätte hinunterstoßen wollen? Gab es jemanden, der einen Groll gegen ihn hegte?«
»Ja und nein. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass jemand ihm etwas Böses antun wollte, aber viele haben ihn nicht gemocht. Er war arrogant und konnte anstrengend sein, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte; er wollte über alle und alles verfügen. Ich kann mir vorstellen, dass er als Präsident des Theatervereins ein richtiger Tyrann war.« Sie zögerte. »Du entschuldigst, dass ich mit soviel Ehrlichkeit über einen toten Mann rede, aber ich will alles in meiner Macht Stehende tun, um dir zu helfen – falls ihn jemand denn gestoßen haben sollte.«
»Das verstehe ich nur zu gut.« Ari schwieg einen Moment, gab ihr Zeit, um weiter zu erzählen. »Eigentlich … da erinnere ich mich an eine Sache, die vielleicht eine Rolle spielen könnte. Er erzählte mir vor Weihnachten, daß er von einem Geheimnis Wind bekommen habe, ich glaube, dass er es so formuliert hatte, ja, irgendein Geheimnis. Einige in der Theatergruppe würden etwas verbergen. Er grinste breit, als er mir davon erzählte; schien zufrieden zu sein damit, ein Geheimnis in Erfahrung gebracht zu haben. Er war von Natur aus ein guter Beobachter, der Schlaumeier.«
»Ein Geheimnis?«
»Ja, ein Geheimnis.« Sie flüsterte beinahe.
»Weißt du, was für ein Geheimnis das war?«
»Tja … nicht genau. Aber ich hatte es so verstanden, dass … es vielleicht etwas … etwas …« Sie blinzelte ihm zu. »Du verstehst schon.«
»Ein Liebesabenteuer? Eine Affäre?«
»Genau. Vielleicht etwas in der Richtung.«
Ari kritzelte ein paar Bemerkungen in sein Notizbuch. Vielleicht war ja die eine oder andere Aussage der alten Dame doch noch zu gebrauchen.
»Glaubst du, dass er ein Testament verfasst hat?«
»Nein, das bezweifle ich. Er hat es zumindest mir gegenüber nie erwähnt. Ich habe auch keine Ahnung, ob irgendwelche nahen Verwandten von ihm noch am Leben sind; nur weit entfernte Verwandte – und er hat ganz bestimmt irgendwelche weltlichen Güter hinterlassen, wenn ich ihn richtig einschätze. Im Gegensatz zu mir; das Einzige, was ich besitze, ist diese gute Kommode hier.« Sie lachte kurz auf.
»Mir sind irgendwelche Geschichten zu Ohren gekommen, dass er ein Kind habe.«
»Ein Kind?« Ihre Augen verengten sich, sie schaute ihn verwundert an.
»Ja, dass Hrólfur nach dem Krieg Vater geworden sei.«
»Nein, so lieb mir die Wahrheit auch ist, das habe ich noch nie gehört. Wo hast du das denn aufgeschnappt?«
»Bei Pálmi … Pálmi Pálsson.«
»Ja, ich kenne ihn … natürlich. Hrólfur und er waren ganz gute Bekannte, also haben sie das vielleicht miteinander besprochen. Ich muss aber dennoch sagen, dass mich das überraschen würde. Aber so ist das nun mal, das Leben hält doch immer wieder eine Überraschung bereit. Der arme Tropf.«
»Hrólfur?«
»Nein, Pálmi – er hat seinen Vater so jung verloren, das war unglaublich schmerzlich. Sein Vater war etwas speziell; ein Künstler, es fiel ihm schwer, Wurzeln zu schlagen. Er verließ seine Frau und seinen kleinen Sohn, um nach Kopenhagen zu ziehen – holte sich dort die Tuberkulose und starb ganz rasch. Ich vermute nun, dass er auch ein paar Frauen dort kennengelernt hatte, er hatte viele Eisen im Feuer.«
»Eine alte Freundin von ihm aus Dänemark ist eben gerade dieser Tage bei Pálmi zu Besuch.«
»Nanu, das sind ja Neuigkeiten«, sagte Sandra und lächelte. »Das ist ja ein Ding. Pálmi ist danach ganz gut zurechtgekommen, der gute Kerl. Seine Mutter ist ja auch viel zu früh verstorben, mit fünf-oder sechsundsechzig; sie bekam einen Schlaganfall.« Dann fragte sie wie aus dem Nichts: »Isst du Hering?«
»Was, nein …«
»Das waren gute Jahre«, sagte sie mit verklärtem Gesicht. »Und früher wussten die Leute noch, wie man den Hering auf allerlei köstliche Art zubereiten kann.«
Sie lächelte. Den Blick in die Ferne gerichtet.
Ari schwieg.
»Ja, das waren gute Jahre«, wiederholte sie. »Ich habe dies hier immer bei mir, quasi als Sicherheit.« Sie beugte sich nach einem Buch auf der Kommode. Es war ein altes, gelbes Notizbuch, abgegriffen und offensichtlich sehr zerlesen. »Früher hat man ja keine Kochbücher gekauft, damals musste man jede Krone und Öre sparen. Ich habe alle guten Rezepte hier drin gesammelt.« Sie behandelte das Buch wie eine Kostbarkeit, öffnete es dann in der Mitte. »Sieh mal hier, mein Guter – hier sind die Heringsrezepte. Gerichte für die feinen Leute.«
Ari gelang es nur mit Mühe, den Text zu entziffern, die Buchstaben waren klein, die Schrift fein.
Sie legte das Buch in ihren Schoß und fragte dann: »Sag mir, was ist eigentlich mit Linda passiert? Wie geht es ihr?«
»Kanntest …« Er begann den Satz erneut: »Kennst du sie etwa?«
»Ich weiß, wer sie ist; sie arbeitet im Krankenhaus. Ein herzensgutes Mädchen, aber sie hat immer diesen traurigen Blick, kann ich dir sagen.«
»Sie ist jetzt im Krankenhaus in Reykjavík – sie ist immer noch bewusstlos.«
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr Kalli verhaftet habt.«
»Nein, das stimmt nicht ganz … Wir mussten einfach mit ihm reden, er hat sie nach dem Übergriff gefunden.«
»Er ist unschuldig, da bin ich mir ganz sicher.«
»Nanu?«
»Kalli ist so ein lieber Junge.«
»Kennt ihr euch gut?«
»Wir kannten uns früher, bevor seine Eltern beschlossen haben, nach Kopenhagen zu ziehen. Ich traf ihn oft im Lebensmittelgeschäft, als ich dort gearbeitet habe. Er hatte eine sehr gewinnende Art, hat er immer noch. Er hatte damals ein bisschen für Pálmis Mutter gearbeitet, ihr rund um das Haus geholfen, um ein wenig Geld zu verdienen – er packte mit an, machte alles, was grad zu tun war, ging für sie einkaufen, besserte zu Hause alles Mögliche aus, tat sich sogar als Kammerjäger hervor, wenn es grad notwendig war, und so weiter. Ein vorbildlicher Junge, das kann ich dir sagen.«
Das wollen wir ja mal sehen. Ari lächelte; schwieg darüber, dass Linda am Heiligen Abend in Todesangst die Polizei angerufen hatte; verschwieg die Streitereien, die blauen Flecken …
»Hatte Hrólfur noch irgendwelche Freunde, gute Freunde?«
»Er sprach immer sehr warmherzig von Úlfur, sagte, er hätte Spaß daran, sich mit ihm zu streiten. Es stecke viel Kraft in ihm.« Fügte dann hinzu: »Aber er sagte auch, dass Úlfur bei der Regie bleiben und nicht sein Theaterstück zerreißen sollte.«
»Theaterstück?«
»Ja … er schreibt gerade ein Theaterstück, der gute Kerl.«
Sie lächelte.
»Jaja, mein Lieber, jetzt bin ich etwas müde geworden.« Sie nahm einen Schluck Kaffee, der mit Sicherheit nun ziemlich kalt war. »Sollen wir es für heute nicht dabei bleiben lassen? Du schaust bei Gelegenheit einfach wieder bei mir vorbei.«