15. Kapitel

Siglufjörður,

Freitag, 9. Januar 2009

Anna Einarsdóttir war am Donnerstag von der Probe freigestellt worden, so wie jeden Donnerstag, da sie die Nachmittagsschicht im Krankenhaus übernehmen musste. Es war leider nichts daran zu ändern, sie spielte – leider – nicht die Hauptrolle, so dass es dem Regisseur sehr gut in den Kram passte, donnerstags die Szenen mit Karl und Ugla zu proben.

Anna traf am Freitag Punkt vier Uhr zur Probe im Kinosaal ein, sobald ihre normale Schicht im Supermarkt beendet war. Er war nicht weit weg – sie war im Regen über den Rathausplatz geeilt. Das Wetter war den ganzen Tag windstill und gut gewesen, doch um halb vier hatte es angefangen, wie aus Kübeln zu schütten.

Sie trat ins Foyer und trocknete die nassen Schuhe behutsam auf dem großen Teppich vor der Tür ab. Nína Arnardóttir saß im Ticketverkauf und strickte. Sie grüßte Anna mit warmer Stimme.

»Hi«, antwortete Anna. »Bist du schon lange hier?« Sie kannte die Antwort; wenn es auf die Premiere zuging, war der Theaterverein Nínas zweites Zuhause. Sie lebte allein und schien es zu genießen, die Stimmung und den Stress einzuatmen – war vor allen anderen schon da und ging als Letzte nach Hause.

»Ja, ich bin nach Mittag gekommen, irgendjemand muss ja dafür sorgen, dass alles bereitsteht, wenn die Sternchen dann eintrudeln«, antwortete Nína und lächelte.

Anna fühlte sich um Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückversetzt, wenn sie in diesem Foyer zwischen all den alten Plakaten stand, die dort aufgehängt worden waren – zumindest bis in die Nachkriegszeit, einer Zeit, die sie selber nur aus Büchern oder Filmen kannte. Sie selbst war erst vierundzwanzig, geboren und aufgewachsen in Siglufjörður, war nach Süden, nach Reykjavík, gezogen, um aufs Gymnasium und danach direkt auf die Uni zu gehen. Als sie das Gymnasium besuchte, wohnte sie bei ihrer Tante im Fossvogur, doch als sie zur Uni ging, um Geschichte zu studieren, zog sie so schnell wie möglich in eine Studentenwohnung. Jetzt hatte sie das Studium mit dem BA abgeschlossen und beschlossen, sich an ihr früheres Versprechen zu halten, sich ein Jahr Auszeit zu nehmen und wieder nach Hause zu ziehen, bevor der nächste Schritt entschieden wurde. Der Arbeitsmarkt in Siglufjörður war allerdings nicht gerade am Aufblühen, der einzige Job, den es gab, war der im Supermarkt, zudem hatte sie nach und nach einige Schichten im Krankenhaus übernommen, wo sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte, weil sie ihren Großvater dort regelmäßig besuchen konnte, der in der Pflegeabteilung des Krankenhauses lag.

Jetzt hatte aber ein neues Jahr angefangen – in diesem Jahr würde sie sich über ihre Zukunft im Klaren werden müssen. Kurz nachdem sie in den Norden zurückgekommen war, hatte sie erfahren, dass im Frühling eine Lehrerstelle in der Grundschule frei werden würde – das war eine Position, die für sie sehr spannend war. Dann könnte sie weiterhin im Dorf bleiben – da, wo sie sich wohl fühlte. Zudem war es nicht einfach, im Süden eine Anstellung als Lehrerin zu bekommen, da wegen der Krise überall Stellen gestrichen wurden. Sie träumte davon, ihre Erfahrungen, die sie gemacht hatte, weiterzuvermitteln. Die Anstellung an der Grundschule würde genau zu ihr passen. Sie hatte dem Schulleiter bereits mitgeteilt, dass sie Interesse an der Position habe – das hatte sich herumgesprochen, viele Eltern freuten sich, diese junge Frau an der Schule zu sehen. Die meisten gingen davon aus, dass sie die Stelle bekommen würde, doch offiziell war noch nichts entschieden worden.

***

Als Leifur ins Foyer trat, stand Anna da, bestaunte die alten Plakate und schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Er sah gerade einmal den Ausdruck auf ihrem Gesicht; sie erinnerte ihn von diesem Blickwinkel aus sehr stark an ein Model, sie hatte ein auffallend schönes Profil. Dunkles, langes Haar, eine feine Nase und einen zierlichen Mund. Sie drehte sich zu ihm um: »Hi.«

Leifur grüßte sie. Es war ungewöhnlich, wie sie sich veränderte, wenn er ihr ganzes Gesicht sah, nun schien sie in ihrem Aussehen geradezu farblos zu sein, als ob ihre Anmut regelrecht verschwunden sei – sie blieb nur noch ein bisschen im Gesichtsausdruck zurück. Bemerkenswert, wie eine Veränderung des Blickwinkels einen solchen Unterschied ausmachen konnte. Das Mädchen mit den zwei Gesichtern.

Vielleicht hätte er versuchen sollen, sie besser kennenzulernen. Das war nicht gerade seine Stärke – und zudem war sie viel jünger als er. Sie würde wohl kein besonderes Interesse daran haben, mit ihm ihre Zeit zu verbringen.

Er schaute kurz zur offenen Tür hinaus; sah den roten Mercedes vor dem Haus, der Vorsitzende des Theatervereins war eingetroffen. Er stieg aus dem Wagen.

»Nun werden wir dieses verdammte Stück also noch zusammenschustern!«, sagte Hrólfur, als er ins Foyer trat. Er verfügte über ein lautes Sprechorgan.

»Ja, ich glaube, dass es gut gelingen wird«, meinte Anna höflich.

»Gut!? Es wird niemals gut gelingen, nicht mit einem derartigen durchschnittlichen Werk in den Händen – und Amateuren auf der Bühne. Aber vielleicht wird es glimpflich ausgehen.«

Er zog seine Jacke aus und hielt sie unwillkürlich Nína hin, ohne ein Wort an sie zu richten. »Ich erinnere mich noch, als ich nach Edinburgh fuhr, das war um 1955, glaube ich – las ich aus meinem Buch und schaute mir verschiedene Aufführungen während des dortigen Kunstfestivals an. Das war Theater, kann ich dir sagen – richtiges Theater. Ich weiß manchmal nicht, warum ich die Zeit hier an solche Dilettanten verschwende.«

Nína hatte die Jacke entgegengenommen und aufgehängt. Úlfur und Pálmi trafen ein; Pálmi machte seinen Schirm zu, bevor er eintrat, und Úlfur kam hinterher.

»Dann ist es vielleicht für dich an der Zeit, aufzuhören«, sagte Úlfur mit leiser, aber deutlicher Stimme. Hrólfur drehte sich um.

Er sah auf den kleingewachsenen Mann hinab, der vor ihm stand. Úlfur war alt und müde, mit runder Brille und einem schwarzen Filzhut.

»Aufhören? Bist du nicht bei Trost, Úlfur? Es gibt hier keinen, der das alles von mir übernehmen könnte. Ich muss mich weiterhin dieser Sache opfern, ich habe noch viele Jahre vor mir – da kannst du dir sicher sein, mein lieber Úlfur.«

Es bestand kein Zweifel daran, dass Úlfur aus vollem Hals auf diese Aussage antworten wollte. Das Blut schoss in seine Wangen, seine Augen verengten sich, und er riss sich den Hut vom Kopf. Die Glatze wurde sichtbar.

Hrólfur gab ihm allerdings keine Gelegenheit zur Gegenrede, sondern wandte sich an Nína: »Nína, könntest du bitte meine Jacke holen, ich habe etwas Kleines in der Tasche vergessen.«

Leifur schaute zu, wie Hrólfur eine Zeitung aus der Jackentasche nahm und zudem etwas, das auf den ersten Blick wie eine kleine Flasche aussah. Er gab Nína die Jacke zurück und schlenderte in den Saal, so schnell, wie der altersschwache Körper es noch eben erlaubte. Es war nicht zum ersten Mal, dass Hrólfur mit einer kleinen Flasche zur Probe gekommen war – jetzt war er aber mit dem Wagen unterwegs, da es regnete, also würde wahrscheinlich Anna, die wie er am Hólavegur wohnte, ihn am Ende des Abends nach Hause fahren.

Inzwischen waren auch Ugla und Karl eingetroffen. Úlfur schaute sich um. Es war offensichtlich, dass er ziemlich irritiert war, sich aber bemühte, so zu tun, als ob nichts passiert wäre. »Na also, dann wollen wir mal in den Saal gehen.«

***

Während Ugla und Karl noch mitten im Saal standen und miteinander redeten, stand Anna oben auf der Bühne und verfolgte Pálmi, der in tiefe Gedanken versunken schien. Für einen alten Mann war er ziemlich fix in seinem Handeln, fand sie, doch sein Alter ließ sich dennoch nicht verbergen, weder im Gesicht noch in den Bewegungen. Es hatte offenbar seinen Tribut gefordert, Jahr für Jahr unartige Grundschüler zu unterrichten – und jetzt war er alleine und verlassen. Er war nun Rentner, wohnte immer noch in Siglufjörður und vertrieb sich die Zeit mit Schreiben in Dunkelheit und Kälte.

War das tatsächlich das Leben, das sie sich vorgestellt hatte? Machte es irgendeinen Sinn, sich für die Stelle der Grundschullehrerin zu bewerben und sich hier im Dorf niederzulassen? Oder war es besser, wieder in den Süden zu ziehen? Sie gestand sich selber bereitwillig ein, dass sie manchmal an ihrer Entscheidung zweifelte, doch andererseits war es eine einfache Wahl – einfacher, als alleine nach Reykjavík zu ziehen und auf eigenen Füßen stehen zu müssen. Hier konnte sie noch einige Jahre bei Mama und Papa in der Kellerwohnung bleiben und sich dann eine billige Wohnung suchen – hier kannte sie alle, es gab keine Überraschungen.

Sie ließ von Pálmi ab und schaute zum Balkon hoch, von wo Hrólfur und Úlfur über den Saal äugten. Ugla und Karl betraten die Bühne, sie waren bereit für die Generalprobe – und Leifur stand hoffentlich hinter der Bühne. Anna verspürte stets eine kleine Irritation, wenn sie Ugla anschaute – dieses Mädchen aus dem Westen, das ihr die Hauptrolle weggeschnappt hatte. Die Auswärtige. Sie hätte einfach froh sein müssen, überhaupt mitmachen zu dürfen.

Anna glaubte allerdings zu wissen, warum es so gekommen war. Der Alte – Hrólfur – hatte dieses Mädchen, das bei ihm die Kellerwohnung gemietet hatte und ihn auch noch regelmäßig zum Kaffee traf, nachdem sie ausgezogen war, unter seine Fittiche genommen. Er hielt seine schützende Hand über sie – und Anna war überzeugt davon, dass dies die Entscheidung bei der Besetzung der Hauptrollen beeinflusst hatte. Úlfur war zwar dem Namen nach der Regisseur – doch derjenige, der die Entscheidungen traf, das wusste Anna ganz genau, das war Hrólfur, der stets am längeren Hebel saß, entschlossen, felsenfest.