29. Kapitel

Siglufjörður,

Samstag, 17. Januar 2009

Am Samstag schneite es ohne Unterlass. Der Schnee fiel auf Gärten und Straßen, es war kaum möglich, zu Fuß vorwärtszukommen, außer man grub sich seinen Weg durch die Schneewehen, die gut und gern bis ans Knie reichten.

Ari stand zusammen mit Tómas und Hlynur vor der alten ehrwürdigen Kirche. Sie waren beide dieses Wochenende im Dienst, Ari war in Zivil gekommen, im guten Anzug, um Hrólfur seinen Respekt zu zollen, einem Mann, den er lebend nie getroffen hatte. Die alte Sandra hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, als sie seine vielfältige Persönlichkeit beschrieben hatte; er war mit seiner Kunst weit gekommen, hatte sich aber geweigert, das Ruder aus der Hand zu geben, als der Ruhm nachließ; er hatte Freunde und Bekannte, aber ebenso auch Neider; er konnte unter Umständen äußerst unangenehm sein, doch oft auch mild und freundlich, zum Beispiel was Ugla anging. Ari dachte an das Buch, das sie ihm geliehen hatte. Er musste bald einmal reinschauen – vielleicht war das ja der beste Zugang zur Gedankenwelt des verstorbenen Schriftstellers.

Sie setzten sich auf eine freie Bank in der Kirche. Vor der Kirche hatte er Ugla getroffen, sie hatten sich angeschaut, aber nichts gesagt. Seit dem Kuss hatten sie nicht mehr miteinander geredet. Das ärgerte ihn sehr.

Er hatte in der Nacht schlecht geschlafen, es hatte lange gedauert, bis er doch noch eingeschlafen war. Er achtete jetzt immer darauf, die Außentür abzuschließen. Keiner hatte sich wegen des Einbruchs gemeldet, Tómas hatte es lediglich als kleines Delikt abgetan; sie mussten sich auf Linda und Hrólfur konzentrieren. Ari verspürte jetzt allerdings stets ein wenig Angst, wenn er sich hinlegte, die unangenehmen Erinnerungen, als er von einem fremden Menschen im Haus aufgeweckt worden war, waren noch zu frisch. Er fühlte sich in diesem Haus nicht mehr sicher.

Auf der Wache hatten sie seinen Besuch bei Sandra diskutiert, sie hatten verschiedene Möglichkeiten durchgespielt, was es mit Hrólfurs Geheimnis auf sich haben könnte, waren aber zu keinem Resultat gekommen.

Die Kirche füllte sich nach und nach. Viele bekannte Gesichter. Úlfur und Pálmi saßen zusammen mit den anderen Sargträgern in der ersten Reihe. Leifur saß ziemlich weit vorn, offensichtlich war er allein unterwegs, und er schien in Gedanken weit weg zu sein – als ob er am liebsten irgendwo ganz anders wäre. Vielleicht beim Schreinern. Nur nicht bei einer Beerdigung.

Karl saß zwei Reihen weiter vor Ari, an der Seite von Anna. Ari würde beim Leichenmahl versuchen, ein Wort mit ihr zu wechseln – er hatte sich vorgenommen, mit allen zu reden, die an dem Abend auf der Probe gewesen waren. Neidisch. Das hatte Ugla über sie gesagt. Neidisch – enttäuscht darüber, dass sie die Hauptrolle nicht bekommen hatte. Ari wurde bewusst, dass er gerne Ugla in allem Glauben schenkte … sollte er ihren Aussagen gegenüber misstrauischer sein oder einfach dankbar sein, ein Mitglied des Theatervereins zu kennen; einen vertrauenswürdigen Berichterstatter?

Die Kirche war beinahe voll, als die Trauerfeier begann. Es hatten vielleicht nicht alle den Autor persönlich gekannt, aber er schien zu guter Letzt doch seine Berühmtheit zurückerlangt zu haben, nach seinem unerwarteten Tod, alle, die etwas auf sich hielten, waren zur Beerdigung gekommen. Ari hatte gehört, dass sogar zwei ehemalige Minister hatten kommen wollen, um Hrólfur die letzte Ehre zu erweisen, doch das war am Straßenzustand gescheitert, der Weg nach Siglufjörður war beinahe unbefahrbar, und ein heftiger Sturm mit null Sicht auf dem Weg.

Die Beerdigung war sehr feierlich, alte isländische Lieder erklangen zusammen mit den Klassikern der alten Meister, zudem wurde aus den Lindagedichten gelesen; die eindrückliche Altartafel von Gunnlaugur Blöndal im Hintergrund symbolisierte die Hoffnung, war aber zugleich auch ein Mahnmal für die Erbarmungslosigkeit des Meeres – der Ursache vieler Sorgen der Dorfbewohner all die Jahre hindurch. Die musikalische Begleitung zum Schluß war dramatisch, dennoch sah Ari niemanden eine Träne verdrücken.

***

Das Leben von Nína Arnardóttir war kein Zuckerschlecken. Irgendwie war es ihr nie gelungen, im gleichen Takt wie ihre Zeitgenossen zu gehen – oder vielleicht war es denen ja nicht gelungen, sich ihrem Rhythmus anzupassen. Und nun war sie dabei, den Zug zu verpassen, sie spürte, wie die Jahre vorbeigerauscht waren, eines nach dem anderen; sie war stets allein, in ihrer kleinen, dunklen Wohnung. Sie fragte sich öfter, warum sie keine größeren Schritte gewagt hatte, dem Leben entgegen. Sie war schon oft verliebt gewesen, aber sie hatte nie direkt selbst etwas unternommen. Und doch – vielleicht dieses eine Mal, als es um die reine, wahre Liebe ging. Aber auch damals hatte sie letztendlich den Schritt nicht gewagt – hatte nur zu Hause im Dunkeln gesessen, im Schein einer kleinen Lampe gelesen oder ferngeschaut. Ja, die Jahre waren vergangen, und jetzt war sie auf einmal sechzig Jahre alt geworden.

Im Augenblick hatte sie keinen festen Job, wohnte in einer Sozialwohnung, mit der Invalidenrente als einzigem Auskommen; arbeitete nebenbei als Freiwillige beim Theaterverein – das war überschaubar und angenehm, es war einfach, an der Theaterkasse zu arbeiten und einzelne Aufgaben zu übernehmen. Sie war nicht wirklich dafür geeignet, unter vielen Menschen zu sein, doch das ignorierte sie, als sie die Gelegenheit bekam, im Theater zu arbeiten.

Nína hatte einen eigenartigen Körperwuchs, war etwas korpulent und grob gebaut. Sie wusste, dass sie für ihr Alter immer noch ziemlich stark war – in der Schule war sie wegen ihres Äußeren damals die Zielscheibe des Spotts gewesen. Und dennoch hatte sie sich nie gewehrt, wenn er sie schlug – hatte nie gewagt, anders zu reagieren, als die Arme schützend um den Kopf zu legen und die Schläge zu ertragen. Viel schlimmer war, als er mit der Prügelei aufhörte, da erst verspürte sie die eigentliche Angst – manchmal legte er sich auf das Sofa, blieb in seinem Alkoholrausch liegen, manchmal aber beruhigte er sich, hörte auf, die Schläge auf sie herunterprasseln zu lassen und begann stattdessen, zudringlich zu werden. Dann schloss sie die Augen und versuchte, in die Dunkelheit zu verschwinden. In diesen Jahren fühlte sie sich tatsächlich stets in der Dunkelheit am wohlsten, unter dem Bett oder im Schrank, da, wo sie wenigstens in Ruhe gelassen wurde – dorthin verschwand sie, wenn sie ihn hörte, sie kannte den Alkoholgeruch, das Klirren der Gläser und Flaschen. Sie hatte herausgefunden, wann es für sie am besten war, die Flucht zu ergreifen – Verstecken zu spielen. Sie wusste, dass die anderen Kinder in der Schule auch manchmal Verstecken spielten, doch deren Spiel war irgendwie unbefangener, nicht so wie bei ihr. Als sie erwachsen wurde, fragte sie sich öfter, warum keiner etwas unternommen hatte, um ihr zu helfen. Warum hatte ihre Mutter, die selbst Opfer war, die Gewalt ignoriert? Nína hatte einmal versucht, sich über ihn zu beklagen; ihre Mutter hatte nicht darauf reagiert, hatte ihr gesagt, dass es furchtbar sei, anderen Leuten ins Gesicht zu lügen. Sie versuchte danach nie wieder, mit ihrer Mutter darüber zu reden.

Und warum hatten die Lehrer in der Schule nie etwas gesagt, wenn sie mit blauen Flecken in die Schule kam? Wenn sie zu Hause »umgefallen« war? Mit schöner Regelmäßigkeit. Warum unternahm keiner etwas, als sie nicht mehr mit ihren Schulkameraden reden wollte?

Das Einzige, was die Lehrer sagten, war, dass sie eine Konzentrationsschwäche habe und nicht lernfähig sei. Es lief schlecht für sie bei den Prüfungen. Sie glaubte deshalb lange, dass sie nicht begabt sei; sie war es gewohnt, den Lehrern zu glauben. Die Furcht vor den Büchern wuchs, und es war allen klar, dass sie es nie aufs Gymnasium schaffen würde und erst recht nicht ein Universitätsstudium aufnehmen könnte. Die Jugendjahre waren besonders schwierig, als sie in Siglufjörður zurückblieb, während die Gleichaltrigen nach und nach verschwanden, einige nach Reykjavík, andere nach Akureyri – einer spannenden Zukunft entgegen. Sie saß viele Stunden allein in ihrem Zimmer in der Dunkelheit und dachte über das alles nach. Selbst als er schließlich seines Gottes wegen, Bacchus, gestorben war. Zu guter Letzt hielt ihre Mutter die Belastung nicht mehr aus, ihre Tochter in der Dunkelheit sitzen zu sehen und kein Wort zu sprechen. Nína wurde in eine Anstalt in Reykjavík gebracht. Zwei Jahre ihres Lebens, die in dichten Nebel gehüllt sind. Sie erinnert sich nur noch daran, dass die Tage ineinanderflossen, ein jeder dem anderen glich. Ihre Mutter kam nie zu Besuch. Nína hat sie nie danach gefragt. Als sie schließlich nach Siglufjörður zurückkam, erfuhr sie, dass ihre Mutter allen erklärt hatte, dass sie zwei Jahre »im Süden bei Verwandten gewesen sei«. Nína wusste nicht genau, ob irgendjemand im Dorf die Wahrheit kannte, doch es war ihr egal.

***

»Es kursieren verschiedene Geschichten über Nína«, sagte Tómas nach der Beerdigung zu Ari. »Du solltest versuchen, beim Leichenmahl ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Sie war zwei Jahre lang verschwunden, als sie noch ziemlich jung war, wurde nach Reykjavík geschickt – ich erinnere mich daran, dass Mama mit ihren Freundinnen viel darüber geredet hat. Ihr Vater trank sehr viel, und sie ist von Natur aus sehr verschlossen.«

Ari überlegte, welche Geschichten wohl über ihn, den Pfarrer Ari, erzählt würden, wenn er wegzöge. Oder kursierten vielleicht jetzt bereits irgendwelche Geschichten über ihn? Geschichten über ihn und Ugla vielleicht? Er wäre bestimmt der Letzte, der davon erfahren würde.

Nína saß an einem kleinen Tisch im Gemeindesaal im oberen Stock der Kirche, aß von dem angebotenen Schmalzgebäck und trank Limonade aus einem Glas. Sie schaute über den Saal, zu Pálmi und Úlfur, die weiter hinten im Saal standen und miteinander redeten. Sie erschrak ein wenig, als Ari sich zu ihr setzte.

»Es ist nicht ganz ungefährlich, bei Glatteis unterwegs zu sein«, sagte er und deutete auf Nínas rechten Fuß, der eingegipst war.

Sie schaute ihn mit besorgter Miene an. »Ja, sehr gefährlich.«

»Man muss vorsichtig sein«, sagte Ari in leichtem Ton, wollte nicht direkt auf Hrólfur zu sprechen kommen. Er betrachtete die Gäste des Leichenschmauses. Keiner musste hungrig nach Hause gehen; die Tische bogen sich unter den köstlichsten Speisen; Sandwichtorten, Sahnetorten, Schmalzgebäck und Pfannkuchen.

Sie antwortete ihm nicht, beobachtete weiterhin die Trauergäste im Saal.

 

»Hast du oft mit Hrólfur gesprochen?«

»Wie bitte? Nein, er wies mich manchmal zurecht, das war eigentlich schon alles.« Sie hatte offensichtlich nichts dagegen, beim Leichenmahl des Verstorbenen schlecht über ihn zu reden.

»War er gebieterisch?«

»Ja, schwierig im Umgang, mit einigen – nicht mit allen. Entweder mochte er einen, oder er mochte einen nicht.« Das schien einfach eine Tatsache zu sein, die sie beschrieb, es schwang keine Reue oder Bitterkeit mit.

»Glaubst du, dass er dich nicht gemocht hat?«

»Ich glaube, dass er gar keine Meinung über mich gehabt hat. Das kommt auf das Gleiche heraus, oder etwa nicht?«

Sie erwartete keine Antwort, das war offensichtlich.

»Soviel ich weiß, war Hrólfur ein guter Beobachter – kann es sein, dass er etwas wusste, das er nicht hätte wissen sollen? Zum Beispiel über jemanden im Theaterverein?«

»Jemand, der ihn dann die Treppe hinunterstoßen wollte?«

Ihre Direktheit überraschte Ari, war aber eine willkommene Abwechslung. Wenn man so wollte, war sie bis jetzt der einzige Mensch, mit dem er über Hrólfurs Tod gesprochen hatte, der nicht irgendetwas vor ihm verbarg. Außer Ugla natürlich. Sie würde nichts vor ihm verbergen, obwohl er ihr gegenüber vielleicht nicht ganz ehrlich gewesen war. Er hatte ihr gegenüber Kristín nicht erwähnt. Ugla saß am nächsten Tisch, an der Seite von Leifur. Ari schaute sie kurz an, bemerkte, dass sie es nicht wahrnahm. Ihre Augen schienen ein wenig geschwollen zu sein, als ob sie geweint hätte – vielleicht hatte Ari das falsch eingeschätzt, dass keiner den alten Mann beweinen würde.

»Ja, zum Beispiel«, antwortete Ari.

»Nein, um ehrlich zu sein – ich glaube, dass er den Leuten auf die Nerven ging, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand ihm tatsächlich ein Leid zufügen wollte«, sagte Nína.

»Sind irgendwelche Gerüchte im Theater im Umlauf? Gibt es etwas, das du beobachtet hast?«

Sie dachte kurz nach. »Nein«, sagte sie dann kurz angebunden und schaute erneut in den Saal zu Pálmi und Úlfur hinüber, als ob sie lieber mit ihnen plaudern würde. Ihr Blick war leer, das Gesicht ausdruckslos.

Er stand auf, verabschiedete sich und bedankte sich für das Gespräch.

Tómas und Hlynur sprachen mit Leuten, die er nicht kannte. Hier kannte jeder jeden, er war wie ein Eindringling, doch war dieser Eindruck nicht auch richtig? Er hatte den Verstorbenen ja nicht einmal gekannt.

Er schaute sich um, wollte ein wenig mit Anna reden – doch sie war nirgends zu sehen. Weder sie noch Karl.