30. Kapitel

Siglufjörður,

Samstag, 17. Januar 2009

Sie stand beim Bett in der Kellerwohnung; sie hatte die schwarze Jacke ausgezogen, die ihr sowieso nicht stand, und das T-Shirt. Schaute zum Fenster, achtete darauf, dass die Vorhänge zugezogen waren – obwohl das in diesem Schneetreiben keine Rolle spielte, und zog die schwarze Hose aus. Schwarz war nicht ihre Farbe.

Sie waren zu ihr nach Hause gegangen, wie schon so oft. Der Schnee bot ihnen einen guten Schutz, die Sicht war gering bis null. Siglufjörður war tatsächlich kein günstiger Platz für eine Affäre, hier musste man besonders gut aufpassen. Sie hatte zwar keine Erfahrung mit Affären in größeren Städten – und schon gar nicht in ausländischen Großstädten –, konnte sich aber vorstellen, dass es dort viel einfacher war. Hier musste immer alles im Schutz der Dunkelheit geschehen, und selbst dann war keiner sicher vor den wachsamen Augen der Nachbarn. Hier gab es kein Hotel, in das sie sich unter falschem Namen hätte einquartieren können – der Hotelmanager des einzigen Hotels im Dorf war ein alter Freund ihrer Eltern, und der Rezeptionist war mit ihr in die Grundschule gegangen.

Es war eigentlich der reinste Wahnsinn. Doch machte das nicht gerade den Charme aus? Die Spannung – verbotene Treffen in der Dunkelheit, feurige Liebesmomente. Es war um ein Vielfaches einfacher, dass sie das Theaterstück zusammen probten; es war möglich, natürliche Erklärungen zu geben, wenn sie zusammen gesehen wurden, aber sie mussten vorsichtig sein, wenn sie zu ihr nach Hause gingen. Immer getrennt voneinander, immer in der Dunkelheit – die Tür der Kellerwohnung lag zum Glück nicht zur Straße, sondern vor den Blicken verborgen an der Seite des Hauses. Ihre Eltern ließen sie normalerweise in Ruhe – störten sie nicht in Zeiten und Unzeiten, hofften insgeheim, dass sie mit einem neuerlichen Umzug in den Süden warten würde, wenn sie darauf achteten, sie nicht zu sehr zu stören, obwohl sie in der Kellerwohnung direkt unter ihnen wohnte. Es kam ihnen überhaupt nicht in den Sinn, dass sie einen Geliebten haben könnte – und schon gar nicht, dass sie etwas mit einem Mann hatte, der mit einer anderen Frau zusammenlebte. Egal, wie man die Sache betrachtete, es war nicht zu entschuldigen; sie vermochte es gar nicht in Worte zu fassen, wie sehr sie sich für ihr Benehmen schämte. Und doch konnte sie nicht damit aufhören, sie musste ihn immer wieder noch einmal sehen – und wenn er sie in den Arm nahm, fest an sich drückte, dann war es sehr wahrscheinlich, dass sie vergaß, was der Begriff schlechtes Gewissen eigentlich bedeutete.

Mehr noch, gerade jetzt, direkt nach der Beerdigung, konnte sie ihm einfach nicht widerstehen. Er hatte ihr am Ende der Trauerfeier so tief in die Augen geschaut, ihr so zärtlich ins Ohr geflüstert.

»Nicht am helllichten Tag, nicht jetzt – man könnte uns sehen«, sagte sie, doch der Widerstand war nicht überzeugend; sie hätte ebenso gut sagen können: »Auf wen warten wir eigentlich?« Sie wusste genau, dass es nicht das Timing war, das am schlimmsten wog, es spielte im Grunde genommen keine Rolle, ob es mitten am Tag war oder im direkten Anschluss an die Trauerfeier eines Mannes, den sie beide nicht besonders gemocht hatten. Nein – das, was unverzeihlich war, war die Tatsache, dass sie nicht nein gesagt hatte im Hinblick darauf, was seiner Frau zugestoßen war.

»Wirst du einfach so dastehen?«, fragte er. Die Stimme war bestimmt, aber dennoch weich, es lag etwas Verführerisches in seinem Ton, das sie jedes Mal zum Schmelzen brachte.

»Aber was ist mit Linda? Das ist … das ist so falsch, während sie bewusstlos im Krankenhaus in Reykjavík liegt.«

»Hab dich mal nicht so. Du weißt, dass die Beziehung zwischen Linda und mir schon lange zu Ende ist.«

»Aber sie ist trotzdem deine Frau – und sie schwebt vermutlich immer noch in Lebensgefahr.«

»Ich kann nichts tun. Die Polizei hat mir zudem verboten, in den Süden zu fahren.« Dann fügte er hinzu: »Schließlich habe nicht ich sie angefallen.«

Nein, hoffentlich nicht. Sie hatte allerdings einzig und allein sein Wort als Garantie.

»Ich habe sie nicht angegriffen«, wiederholte Karl. »Das weißt du doch, nicht wahr?«

Anna schaute ihn an. Sie wollte ihm ja glauben, doch sie war sich nicht sicher. Er durfte nicht sehen, dass sie zweifelte.

»Selbstverständlich, Liebster. Selbstverständlich. Natürlich weiß ich das.«

Sie wollte ihn am liebsten bitten, zu gehen, doch es war zu aufregend – so unglaublich unpassend in jeder Hinsicht, dass sie der Versuchung nicht widerstehen konnte und zu ihm unter die Decke schlüpfte.

Es hätte nicht weniger als das Ende der Welt bedeutet, wenn jemand dahintergekommen wäre. Was für eine Art von Mensch war eigentlich aus ihr geworden? Was würden ihre Eltern sagen? Was würden die Dorfbewohner sagen? Karl würde das Geschwätz wohl kaum stören, er würde einfach aus dem Dorf wegziehen – vielleicht wieder nach Dänemark. Sie selbst besaß kein anderes Zuhause als Siglufjörður, und nun hegte sie sogar noch die große Hoffnung, den zukünftigen Job an der Grundschule zu bekommen. Sie ignorierte das alles – es war wie beim russischen Roulette –, all das setzte sie aufs Spiel für ein wenig Spaß mit Kalli. Immerhin konnte sie ihm soweit vertrauen, dass er den Mund halten würde.

Wusste sie eigentlich etwas über ihn? Sie wußte zwar, dass er viel zu alt für sie war, dreiundvierzig im Sommer – sie war erst vierundzwanzig. Vierundzwanzig – sie war sich darüber bewusst geworden, als der Pfarrer den Lebenslauf von Hrólfur verlesen hatte, dass Hrólfur eben genau vierundzwanzig Jahre alt war, als sein Meisterwerk herausgekommen war – genauso alt, wie sie jetzt war, fertig damit, mit der größten Leistung seines Lebens. Ihre größte Leistung war es, das Studium beendet und eine Affäre mit dem Mann einer anderen Frau begonnen zu haben.

Ja, Kalli war eigentlich viel zu alt für sie – und doch wusste sie, dass ihre Freundinnen im Süden zum Teil Partner in diesem Alter hatten, oder sogar noch ältere. Doch eine Affäre war eine gänzlich andere Situation.

Wie zum Teufel war sie da nur hineingerutscht?

Das Telefon klingelte, Karls Handy. Er schaute nicht einmal auf.

»Vielleicht sind das Nachrichten von Linda, willst du nicht antworten?«

»Nicht jetzt, Liebling – wir sind beschäftigt.«

Wie konnte sie eigentlich von einem Mann angetan sein, der so kaltherzig reagierte, wenn es um seine Frau ging?

Es klingelte erneut, dieses Mal war es ihr Handy.

Sie streckte sich nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag.

»Nicht antworten, Liebling.«

»Hallo, Anna hier.« Schweigen. »In Ordnung, ich komme.« Erneutes Schweigen. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen.«

»Das war Úlfur«, sagte sie nach Beendigung des Gesprächs. »Wir werden uns nachher im Kino treffen, um die Lage zu besprechen. Er hat mich gefragt, ob ich dich gesehen habe – er habe uns beim Leichenmahl nicht gesehen.« Sie lächelte listig, verspürte aber dennoch eine leise Angst – hoffentlich würde niemand zwei und zwei zusammenzählen. Diesen Gedanken konnte sie nicht zu Ende denken.

***

Úlfur ging ins Kino. Es war sonst noch niemand da.

Der Kinosaal war wahrscheinlich der einzige Ort im Dorf, an dem es ihm gelang, das Unwetter gänzlich hinter sich zu lassen und in eine Traumwelt einzutauchen – in das Trugbild, dass nichts geschehen sei; in eine Welt, in der den Leiter des Theatervereins nicht kurz zuvor der Tod geholt hatte, in eine Welt, in der die Frau des Hauptdarstellers nicht in ihrem eigenen Blut liegend gefunden worden war, halb nackt im Schnee, dem Tod näher als dem Leben.

Sein Blick schwebte über den Saal.

Auf einmal fühlte er sich wie ein alter Mann. Ein alter, einsamer Mann. Er vermisste seine Arbeit, seine frühere Frau, seine Mutter. Nun stand es ihm vielleicht tatsächlich noch bevor, die Geschicke des Theatervereins im Dorf zu lenken. Doch plötzlich schien das alles nur noch eine geringe Rolle zu spielen.

***

»Verdammt! Verdammt!«, fluchte Tómas verärgert. Er stellte die Tasse energisch auf den Tisch, als er vor dem Rechner stand und die neuesten Nachrichten über die Untersuchungen im Todesfall beim Theaterverein las.

Ari hatte dankbar das Angebot angenommen, im Polizeiwagen auf die Wache mitzufahren, weswegen er immer noch im Anzug war. Er hatte keine Lust, allein zu Hause zu sitzen, auch wenn er nicht im Dienst war. Es war besser, bei diesem Wetter gute Gesellschaft um sich zu haben. Er saß zusammen mit Hlynur drinnen in der Kaffeestube und erschrak, als Tómas seiner Wut Luft machte.

»Verdammt!«, zeterte er zum dritten Mal. Ari stand auf. Hlynur blieb wie festgeschraubt sitzen.

»Was ist denn los?«, fragte Ari, der es kaum wagte, den Mund zu öffnen.

»Wie haben sie davon Wind bekommen – wie zum Teufel nochmal haben sie davon Wind bekommen? Schau dir das an.«

Ari las die Schlagzeile.

 

Hat ein mysteriöses Geheimnis Hrólfur Kristjánsson das Leben gekostet?

 

Es wurde kurz erläutert, dass die Polizei jetzt vermutete, dass Hrólfur Wind von irgendeinem Geheimnis bekommen hatte, kurz bevor er starb. Das würde die Nerven der Dorfbewohner nicht gerade beruhigen. Der Journalist schien über eine sichere Quelle zu verfügen, so viel war klar.

»Habt ihr jemandem davon erzählt?«

Ari schüttelte den Kopf. Hlynur murmelte etwas.

»Was?«

»Nein, niemandem«, sagte Hlynur.

»Ich habe Nína allerdings vorher indirekt danach gefragt, aber ich glaube kaum, dass sie direkt einen Journalisten angerufen hat.«

»Das weiß man nie. Verdammtes Chaos.«

Tómas las die Nachricht erneut durch.

»Das ist derselbe Journalist wie letztes Mal, der mit den Nachrichten über Linda. Ich sollte ihn anrufen und ihn in die Schranken weisen! Wir sollten diese Untersuchung beenden – und zwar so schnell wie möglich. Dann können wir eine Meldung herausgeben, dass sie abgeschlossen ist, und dass es einfach ein Unfall war. Hast du mit allen geredet, die an diesem Abend auf der Probe waren, Ari?«

Er dachte nach – falls es zählte, dass er Úlfur im Hot Pot verhört und privat mit Ugla geredet hatte, dann blieb nur noch eine Person übrig.

»Mit allen außer Anna, der Schauspielerin.«

»Ja, die Anna von Einar – Einar und ich sind zusammen zur Schule gegangen. Ein feiner Kerl. Ein Autofreak, genau wie du.« Ari war es einmal herausgerutscht, dass er Interesse an Autos habe, und nun wurde er mit diesem Hobby gleichgestellt, genauso wie mit der Theologie. Ari – Pfarrer und Autofreak. Konnte er nicht einfach Ari sein?

»Du solltest bei Gelegenheit unbedingt mal seinen alten Geländewagen sehen, wirklich flott – und zudem immer noch mit einer alten Autonummer versehen, man sieht heutzutage nur noch wenige Autos mit den alten Nummernschildern. Er hatte ihn damals gerade von Kalli gekauft, als Kalli nach Dänemark zog, der ihn selbst gerade erst neu erstanden hatte – er bereut den Verlust dieses Vehikels wahrscheinlich schwer.«

Gab es irgendeine Möglichkeit, der Sache noch auf den Grund zu kommen, wenn sich alle im Dorf so gut zu kennen schienen? Alte Schulkameraden, Arbeitskollegen, Freunde und Verwandte – alle mit unzähligen Fäden miteinander verbunden und verstrickt.

»Dann rufe ich also Anna mal an – werde versuchen, sie nachher zu treffen«, sagte Ari.

***

»The show must go on.«

Anna saß ganz hinten im Kinosaal und beobachtete Úlfur, der mitten auf der Bühne stand. Es machte den Anschein, als ob er sein ganzes Leben darauf gewartet hätte, diese Worte zu sagen, so impulsiv wie er wirkte. The show must go on.

Ugla saß in der Nähe der Bühne. Karl und Pálmi saßen nicht weit von ihr. Nína war etwas zu spät gekommen und hatte sich neben Pálmi hingesetzt. Leifur stand an der Wand und schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Úlfur hatte es anscheinend nicht geschafft, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken.

Anna hatte darauf geachtet, sich so weit wie möglich von Karl weg zu setzen.

»Wir haben Hrólfur heute verabschiedet, aber er wird auch weiterhin über uns wachen«, sagte Úlfur. Anna erkannte sofort, dass er nicht dafür geboren war, auf der Bühne zu stehen. Er wirkte nervös, die Hände waren ständig in Bewegung, er schaute in alle Richtungen, meistens aber vor sich hin. »Hrólfur hätte sich gewünscht, dass wir weitermachen. Ich schlage vor, dass wir die Premiere für nächstes Wochenende ansetzen, am Samstag. Wir halten diese Woche eine Generalprobe ab und zeigen dann das beste Stück, das Siglufjörður jemals gesehen hat. Ich habe vorhin mit Kalli geredet – er will weitermachen und die Hauptrolle spielen, wie gehabt, trotz …« Er zögerte. »Ja, trotz des … Angriffs auf Linda. Das ist ein Zeichen großer Willenskraft, muss ich schon sagen; ich bewundere ihn regelrecht dafür.« Er schaute Karl an und lächelte ihn warmherzig an, erhielt aber keine Reaktion.

Keiner sagte ein Wort.

»Nun, also – dann wollen wir uns am Donnerstag hier wieder treffen. Für die Generalprobe. Noch irgendwelche Fragen?«

Es herrschte einen Moment Schweigen, dann erhob sich Anna und sagte mit leiser Stimme, aber doch so deutlich, dass es im Saal klang:

»Ich habe vorhin die Nachricht gelesen, dass irgendeine Quelle, irgendeine Person gesagt haben soll, dass Hrólfur hinter eine Sache gekommen sei, die er nicht hätte wissen sollen. Es wurde auch vage darauf hingewiesen, dass er vielleicht geschubst worden ist.«

Úlfur erschrak, schüttelte blitzschnell den Kopf und murmelte: »Was für ein Schwachsinn! Was für ein Schwachsinn!« Fügte dann aber hinzu: »Ist das nicht einfach eine Verleumdung? Vermutung? Die Leute lassen sich ja so manches einfallen, wenn ein landesbekannter Mann unter solchen, tja, solch ungewöhnlichen Umständen stirbt.«

Karl hob den Blick und schaute Anna wütend an. Sie bemerkte sofort, welche Nachricht er ihr zukommen lassen wollte: Wir sollten keine Aufmerksamkeit auf irgendwelche möglichen Geheimnisse lenken.

Úlfur nahm ein Taschentuch hervor und trocknete seine Stirn. »Sollen wir dieses Meeting also für beendet erklären? Wir sollten jetzt nach Hause gehen, bevor die Straßen gänzlich unpassierbar werden.«

Anna stand auf. Ihr Handy klingelte. Unbekannte Nummer. Sie antwortete:

»Ja … ich werde nachher zu Hause sein«, antwortete sie. »Hast du die Adresse … Ja, ich wohne im Keller.«

Der Schweiß trat ihr auf die Stirn, ihre Fingerkuppen wurden feucht. Die Polizei.

Waren sie etwa hinter ihre Affäre gekommen?

Falls nicht, sollte sie dann vielleicht die Gelegenheit nutzen, um die Polizei nach Kalli auszufragen? Sie musste sich seiner sicher sein. Sollte sie die Lebensversicherung erwähnen? Das könnte ihn in arge Verlegenheit bringen … aber nur, wenn er schuldig war.

Sie musste sich sicher sein.